I.
Was ist der Mensch? Dass die Antworten auf diese Frage so häufig die Form der Bestimmung mit dem Leitwort „animal“ annehmen, ist als respektvolles oder ironisches Echo auf die lateinischen Grundlagen der europäischen Universitätskultur nicht befriedigend erklärt.
Die Formeln mit „homo“ sind schließlich ebenso gute lateinische Reminiszenz: Der Mensch ist animal rationale, animal ridens, animal symbolicum, animal laborans und vieles andere mehr – wo sein Wesen nach dem Vorbild von homo erectus, homo sapiens, homo faber, homo ludens, homo pictor, jederzeit auch in weiteren Homo-Logien ganz gut aufgehoben wäre. Gewiss kann man sich das gelehrsame Ritual ganz sparen und über den Menschen ausschließlich in den aktuell gesprochenen Sprachen sprechen; doch es bleibt die Frage, wie die vielen Versuche von Wissenschaftlern einzuschätzen sind, ihre Einsichten durch eine lateinische Formel mit mehr Autorität auszustatten?
Das animal-Paradigma – nennen wir es einmal so – hat den großen Vorzug eines eindeutigen Signals: Der Forscher, der so spricht, gedenkt den Menschen nicht aus der Natur zu `entlassen´. „Animal“ ist besser mit „Lebewesen“ als mit „Tier“ übersetzt – und dass das biologische Element seiner Lebendigkeit in Begriff und Theorie vom Menschen ebenso zu berücksichtigen ist wie dessen geistige Bestimmungen, müssen selbst diejenigen zugeben, die schon vor aller Erkenntnis durch die Furcht vor dem biologischen Reduktionismus umgetrieben werden. Menschen gehören zu den Lebewesen, es geht also bei allem, was man über den Menschen Spezifisches zusammentragen und in generalisierende Bestimmungen fassen kann, immer auch darum, sein Gattungswesen zu erfassen. Die Konzentration auf die den Menschen auszeichnenden Leistungen: auf Vernunft, Sprache, Sozialität, Politik, Kultur usw., begünstigt notorisch die Exklusion der physis und droht damit dem Menschen seinen `Ort im Leben´ zu nehmen. Wer das Cartesische Erbe des Körper-Seele-Dualismus ausschlagen will, darf vor allem einen Fehler nicht machen: die physis gleich ganz ignorieren.
II.
Was mich in meinem Interesse am Programm einer philosophischen Anthropologie gleichwohl beschäftigt: ob für das richtige Stellen der Frage nach dem Menschen die mit dem animal-Paradigma scheinbar nahegelegte Abgrenzung vom Tier wirklich daraus folgt und ob sie unverzichtbar ist. Das Aufsuchen des Komplexitätsmerkmals, das uns Menschen vor den Tieren (häufig: vor den Primaten) auszeichnet, ist ein so weitverbreitetes Verfahren, dass man von einer geradezu anthropologischen Konstante der Theorie sprechen möchte. Und natürlich liegt die indirekte Methode, die der Abgrenzung, nicht allein auf dem Feld der anthropologischen Erkenntnis nahe: Man hofft, zu erkennen, was eine Sache ist, indem man ausschließt, was sie alles nicht ist.
Entsprechend den Fortschritten in Verhaltensbiologie, evolutionärer Anthropologie, vergleichender Kognitionsforschung und ähnlichen Disziplinen ist in der Abgrenzung des Menschen vom Tier eine zunehmende Beschleunigung der Differenzierungsdynamik zu beobachten: Die These „Tiere haben nicht bzw. können nicht x“ scheint in den zurückliegenden Jahrzehnten in eine Defensive geraten zu sein, die sich wie ein Rückzugsgefecht ausnimmt. Konnte es lange Zeit so aussehen, als hätten Tiere kein Bewusstsein, so sieht es heute so aus, dass lediglich die Zuschreibung von Selbstbewusstsein fraglich bleibt. Die Gewissheit, sie könnten nicht denken, musste der bescheideneren Auffassung weichen, dass sie nicht über bestimmte komplexe und reflexive Formen des Denkens verfügen. Schließlich: Ob man bereit ist, Tieren das Vermögen der Sprache zuzusprechen, ist im höchsten Maße abhängig von einer Erörterung der Kriterien von Sprachlichkeit.
Sicher kann man an der Forschungsdynamik, in welcher der Abstand von Mensch und Tieren auf sich immer neu einstellenden Niveaus empirischer Erkenntnis und begrifflicher Erörterung vermessen wird, den Vorzug betonen: Durch die Frage nach der Abgrenzung des Menschen von anderen Lebewesen erfahren wir immer mehr über uns und über sie. Aber wäre das nicht auch dann gewährleistet, wenn die philosophische Anthropologie auf das Abgrenzungsritual verzichteten.
III.
Ich sehe in der Philosophiegeschichte der Moderne eine methodische Präzedenz: Als Kant nach verschiedenen Anstrengungen, die Freiheit des Willens zu beweisen, definitiv einsehen musste, dass es nicht nur keinen empirischen Beweis, sondern auch keine Deduktion der Freiheit geben kann, verlegte er sich auf eine Strategie, die der Unbeweisbarkeit von Freiheit (ebenso stark und kongenial) die Unwiderlegbarkeit ihrer Annahme entgegensetzte: die Argumentation aus dem Selbstverständnis. – Was Kant in der Defensive der „Unerweislichkeit“ seiner Leitidee recht war, könnte uns in der Aussicht auf die unendliche Verschiebung einer forschungsabhängigen Grenze billig sein. Sollte es mutatis mutandis nicht auch in der philosophischen Anthropologie von Vorteil sein, für die Bestimmung des Menschen auf die Argumentation aus dem Selbstverständnis zu setzen? Wir tun es ohnehin, ohne dabei aber die volle Konsequenz daraus zu ziehen: Dass die Frage nach dem Wesen des Menschen bereits dessen entscheidende Bestimmung impliziert, so dass man sich nur klarzumachen hat, was es bereits besagt, dass der Mensch nach seinem eigenen Wesen fragen und dessen Theorie betreiben kann, darauf haben Philosophen mit so unterschiedlichen Ansätzen wie Max Scheler, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner und Hans Blumenberg hingewiesen. Es lohnt das gedankliche Experiment oder die zeitweilige Begriffs`diät´, bei der Bestimmung des Menschen auf das anthropologische Abgrenzungsritual zugunsten einer konsequenten Argumentation aus dem Selbstverständnis zu verzichten und mit Blick auf die theoretischen Erträge zu fragen, ob uns dabei an unserem Weltverhältnis etwas fehlt. Oder sollte es feststehen, dass sich ein Selbstverständnis nur in der Abgrenzung überhaupt formulieren lässt?