Das Interview wurde geführt von Anja Leser.
Frau Schmalzried, warum beschäftigen Sie sich als Philosophin mit menschlicher Schönheit?
Es gibt drei Gründe, warum ich mich mit menschlicher Schönheit beschäftige. Zum einen finde ich die Frage, was es bedeutet, einen Menschen als schön zu bezeichnen, was wir in einem Schönheitsurteil über den als schön beurteilten Menschen und über uns als den Urteilenden aussagen und wann wir solch ein Urteil fällen, schon seit langem faszinierend. Das Thema menschliche Schönheit interessiert und begeistert mich persönlich einfach.
Zweitens spielt menschliche Schönheit in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle. Viele Menschen – Frauen, Männer und sogar schon Kinder – wünschen sich schön zu sein und leiden darunter, wenn sie den Eindruck haben bzw. vermittelt bekommen, dass sie es nicht sind. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass viele Menschen glauben, dass sie schön sein müssen und verurteilt werden, wenn sie es nicht sind. Dies baut einen enormen Schönheitsdruck auf. Verkomplizierend kommt hinzu, dass bei dem Versuch schön zu werden bzw. zu bleiben, sich viele Menschen an den medial vermittelten Schönheitsidealen orientieren. Ein Grossteil der Menschen wird diesen medialen Schönheitsidealen jedoch niemals entsprechen können. Hat man dennoch den Eindruck, dass man diesen Idealen entsprechen muss, so kann allein schon der Versuch diesen Idealen nahezukommen desaströse Folgen haben. Man denke nur an die Häufung von Essstörungen, Fitnesssucht oder die Sucht nach Schönheitsoperationen. All dies wirft unterschiedliche Fragen auf: Erfasst das mediale Schönheitsideal menschliche Schönheit überhaupt? Lässt sich Schönheit, so wie es uns medial suggeriert wird, überhaupt klar definieren? Ist menschliche Schönheit wirklich machbar und, wenn ja, wie bzw. wodurch? Hängt menschliche Schönheit nur von dem physischen Erscheinungsbild einer Person ab oder auch und inwieweit von ihrem Charakter und ihren geistigen Fähigkeiten? Ich bin nun der Überzeugung, dass Philosophinnen sich u.a. mit gesellschaftlich relevanten und kontrovers diskutierten Themen beschäftigen sollten, gerade wenn der gesellschaftliche Diskurs philosophisch interessante und philosophisch beantwortbare Fragen aufwirft. Eine philosophische Auseinandersetzung kann neue und klärende Impulse für den gesellschaftlichen Diskurs geben, beispielsweise indem Begrifflichkeiten geklärt werden. Die eben erwähnten Fragen hinsichtlich menschlicher Schönheit sind nun aus philosophischer Sicht interessant, weil sie letztendlich die Frage aufwerfen, was menschliche Schönheit ist und wovon menschliche Schönheit abhängt.
Der dritte Grund, warum ich mich mit menschlicher Schönheit beschäftige, baut auf dem zweiten auf. Schönheit im Allgemeinen und menschliche Schönheit im Besondern wird in der zeitgenössischen ästhetischen Debatte kaum diskutiert. Die gesellschaftliche Bedeutung des Themas spiegelt sich in der ästhetischen Debatte nicht wieder. Da das Thema aber philosophisch spannende Fragen aufwirft, kann man dies als „Forschungslücke“ ansehen, die ich zumindest ansatzweise mit meiner Arbeit zu schliessen hoffe. Hiermit verbunden hoffe ich, dass die Ästhetik, die innerhalb der Philosophie kein allzu großes Forschungsgebiet ist, an Bedeutung gewinnt, wenn man sie nicht auf rein kunstphilosophische Fragen eingrenzt. Zusammenfassend kann man also sagen, dass für mich das persönliche und gesellschaftliche Interesse an menschlicher Schönheit verbunden mit der Beobachtung, dass die philosophische Ästhetik sich kaum mit menschlicher Schönheit beschäftigt, den Grund darstellt, warum ich mir menschliche Schönheit als Thema ausgewählt habe.
Sie vertreten die These, dass menschliche Schönheit nicht auf physische Schönheit reduzierbar ist. Warum?
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum ich diese These kritisch betrachte. Ich will zwei Punkte exemplarisch erwähnen. Denken Sie bitte an eine Person, die Sie als schön beurteilen würden. Wenn ich Sie nun frage, warum Sie diese Person für schön halten, werden sie, so meine Vermutung, anfangen über diese Person zu reden und mich auf Eigenschaften hinweisen, die Ihres Erachtens nach diese Person schön werden lassen. Ich nehme an, dass sie hierbei auf physische Merkmale dieser Person zu sprechen kommen, aber – und dies ist nun entscheidend – Sie werden wahrscheinlich nicht nur über ihr rein physisches Erscheinungsbild sprechen. Häufig ist zu beobachten, dass Schönheitsurteile über einen Menschen auch dadurch begründet werden, dass man über die Ausstrahlung oder das Charisma dieser Person spricht und darüber, was man glaubt, was für Charaktereigenschaften und geistige Fähigkeiten diese Person besitzt. Dies ist ein Grund, warum man die These, dass menschliche Schönheit rein physische Schönheit ist, kritisch hinterfragen kann.
Ein zweiter Grund ergibt sich aus dem von mir sogenannten Untrennbarkeitsphänomen. M.E. – und dies ist eine psychologische Beobachtung – ist es für uns nur unter sehr ungewöhnlichen Umständen möglich, dass rein physische Erscheinungsbild Person wahrzunehmen. Selbst wenn wir versuchen, uns nur auf das physische Erscheinungsbild einer Person zu konzentrieren, beginnen wir recht schnell darüber nachzudenken, um was für eine Person es sich handelt, und deuten – bewusst oder unbewusst – Gestik und Mimik als sichtbaren Ausdruck des Charakters der Person. Es genügen teilweise kleine Zeichen, wie ein bestimmter Augenausdruck, ein kleine Bewegung der Mundwinkel, ein Stirnrunzeln, eine bestimmte Geste, um ein (vorläufiges) Urteil über den Charakter der Person zu bilden. Anders formuliert scheint es uns schwer zu fallen, das rein physische Erscheinungsbild einer Person wahrzunehmen. Hierzu müssten wir das, was wir unmittelbar als sichtbaren Ausdruck ihres Charakters wahrnehmen, bewusst ausblenden, was jedoch äusserst schwierig ist. Das Erscheinungsbild einer Person ist weniger ein rein physisches, als vielmehr ein physisch-expressives. Dies erschüttert die Annahme, dass menschliche Schönheit rein physische Schönheit ist, gerade wenn man an den ersten Punkt zurückdenkt, nämlich dass wir unsere Schönheitsurteile nicht nur über physische Merkmale begründen.