Die Menschenrechte als Schlüssel zum Verständnis der Menschenwürde

Wie neu ist die Idee der Menschwürde? Auch für diesen Gedanken gilt, wie so oft in der Philosophie, dass das angeblich Neue nur das Vergessene ist.

    Nächstes Jahr jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum 100. Mal. Seinerzeit bezeichneten Frankreich, Großbritannien und Russland in einer diplomatischen Protestnote an die türkische Regierung vom 28. Mai 1915 die Gemetzel mit ca. 1,5 Millionen Opfern als „Verbrechen gegen die Menschheit und die Zivilisation, für die alle Mitglieder der türkischen Regierung zusammen mit den in die Massaker verwickelten Handlangern zur Verantwortung gezogen werden“. Es war das erste Mal, das die Wendung „Verbrechen gegen die Menschheit“ in der internationalen Diplomatie Verwendung fand. Die Drohung blieb folgenlos. Anstelle eines internationalen Tribunals kam es 1923 zu einer umfassende Generalamnestie, die alle zwischen 1914 und 1922 begangenen Verbrechen der Strafverfolgung für immer entzog.
    Es bedurfte erst eines weiteren Weltkriegs mit (wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt) „Akten der Barbarei … die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“, bevor die internationale Gemeinschaft sich 1945 in der Charta der Vereinten Nationen dazu entschloss, ihren „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit … erneut zu bekräftigen.“ Zumindest mit Blick auf die Menschenrechte handelte es sich in der Tat um die „erneute“ Bekräftigung einer alten Einsicht. Denn sowohl die Amerikanische Revolution von 1776 als auch die Französische Revolution von 1789 wurden im Namen der Menschenrechte geführt. Im 19. Jahrhundert war der Menschenrechtsgedanke jedoch durch nationalistische und rassistische Ideologien, in denen die Gräuel des 20. Jahrhunderts ihre gedankliche Vorbereitung fanden, fast vollständig verdrängt worden.
    Daher hatte die Rede von seiner „erneuten“ Bekräftigung bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 einen guten Sinn. Aber wie steht es mit der „Bekräftigung“ des Glaubens „an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“? Ist auch dies nur ein Rückverweis auf ein altbekanntes, leider in Vergessenheit geratenes Ideal der Aufklärung? Oder handelt es sich bei der Menschenwürde um einen Gedanken, der – entgegen dem Wortsinn der Charta – 1945 nicht „erneut“ bekräftigt, sondern vielmehr neu erfunden und stipuliert wird?
    Wie neu ist die Idee der Menschwürde? Auch für diesen Gedanken gilt, wie so oft in der Philosophie, dass das angeblich Neue nur das Vergessene ist. Besonders Kant betont, dass jeder Mensch „in seinem Innern eine gewisse Würde“ hat, deren Achtung andere dazu verpflichte, ihn jederzeit nicht „bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck“ zu behandeln. Von Kants Auffassung, dass die Achtung der Menschenwürde für andere Pflichten begründet, ist es nur ein kleiner Schritt zu der These, dass jeder Mensch ein Recht auf Achtung seiner Würde besitzt. Es ist dieser Schritt von Pflichten zu Rechten, der in der UN-Charta 1945 angedeutet, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 vollzogen und 1966 im Internationalem Pakt über bürgerliche und politische Rechte explizit als die „Erkenntnis“ bezeichnet wird, „dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten.“ Diese Erkenntnis besteht in der Einsicht, dass den Pflichten zur Achtung der Menschenwürde bei jedem Menschen Rechte entsprechen, und dass die 1945 wiederentdeckten Menschenrechte daher im Rückgriff auf die Menschenwürde begründet („hergeleitet“) werden können.
    Aber die Einsicht, dass die Menschenwürde nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte zu rechtfertigen vermag, sagt nichts darüber aus, was Menschenwürde ihrem Wesen nach ist. Wie Schopenhauer im 19. Jahrhundert mit Blick auf Kant lästert, ist der Würdebegriff ein philosophisches Kunstprodukt, von dem „außerhalb der Hörsäle kein Mensch etwas weiß noch jemals empfunden hat.“ Daran hat sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wenig geändert. Es ist zweifelhaft, dass unser intuitives, alltagssprachliches Verständnis von „Würde“ uns bei der Explikation jener philosophisch informierten Menschenwürdekonzeption helfen kann, die nach 1945 zu einem Schlüsselbegriff des internationalen (und vielerorts auch des nationalen) Rechts geworden ist. Denn das zeitgenössische Verständnis von „Menschenwürde“ ist auch „außerhalb der Hörsäle“ entscheidend durch die Rolle beeinflusst, denn dieser Begriff in den nationalen und internationalen Diskussionen um die Menschenrechte spielt. Der Vorschlag, den Sinn von „Menschenwürde“ im Rekurs auf das von diesen Diskussionen geprägten Alltagsverständnis zu explizieren, steht daher unter Zirkularitätsverdacht.
    Schopenhauer hat Recht. Der Menschenwürdebegriff ist kein Alltagsbegriff, der darauf wartet, von Philosophen analysiert und geklärt zu werden. Vielmehr ist er ein vager und wesentlich umstrittener philosophischer Fachbegriff, der nur durch geeignete definitorische Stipulationen weiter geschärft und erläutert werden kann. Der Sinn von „Menschenwürde“ hängt davon ab, welchen Sinn wir ihm geben; und die Zweckmäßigkeit unserer Stipulationen hängt von der Rolle ab, die dieser Begriff in unserem praktischen Diskurs spielen soll. Worin besteht diese Rolle? Wir kennen die Antwort schon: Die Autoren der Charta der Vereinten Nationen von 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 haben der Menschenwürde die Funktion zugewiesen, als Rechtfertigungsgrund der Menschenrechte zu dienen. Alle Menschen haben bestimmte Rechte, weil sie eine ihnen eigentümliche Würde besitzen.
    Den so stipulierten begrifflichen Zusammenhang mit den Menschenrechten können wir für die Explikation des Würdebegriffs fruchtbar machen. Die Idee ist, den obskuren Menschenwürdebegriff durch den sehr viel besser verstandenen Menschenrechtsbegriff zu erläutern. Denn die menschenrechtlichen Konsequenzen der Menschenwürde erlauben Rückschlüsse auf ihr Wesen, ähnlich wie Kausalwirkungen auf ihre Ursachen. Dass die Menschenwürde in Fragen der Rechtfertigung den Primat hat, ist verträglich damit, dass die Menschenrechte vorrangig sind, wenn es um die Erkenntnis der Menschenwürde geht.
    Was sagen uns die Menschenrechte über die sie begründende Menschenwürde? Betrachten wir die Menschenrechte als Ausformulierungen und Auseinanderlegung des sie fundierenden Grundwerts, dann steht der Begriff der Menschenwürde summarisch für den Kern all jener Werte, die durch die einzelnen Menschenrechte in ihrer Gesamtheit geschützt werden. Die Menschenwürde bildet den Kern, die Menschenrechte die schützende Schale. Da es nur eine Menschenwürde, aber viele Menschenrechte gibt, schützt jedes Menschenrecht nur einen Ausschnitt oder Teil der Menschenwürde. Wir können die mereologische Rede von „Ausschnitten“ oder „Teilen“ hier getrost wörtlich verstehen. Der durch ein beliebiges Menschenrecht geschützte Wert ist ein (abstrakter) Teil, ein Ausschnitt aus der Menschenwürde insgesamt. Der Würdebegriff macht nur etwas explizit, das genaugenommen in der Rede von Menschenrechten schon enthalten ist. So verstanden sind die Menschenrechte genau genommen Menschenwürderechte.