Dabei gilt Menschenwürde als ein unbedingt zu schützendes Gut und ist als solches in den demokratischen Verfassungen festgeschrieben. So heisst es in Artikel 7 der Schweizerischen Bundesverfassung: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schätzen“. In Artikel I, Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lesen wir: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu achten ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“
Beide Texte erheben eine kategorische Forderung: Menschenwürde darf unter keinen Umständen zur Disposition gestellt werden. Das Berührungsverbot, ausgesprochen durch die Unantastbarkeit, suggeriert ein Tabu, gleichsam einen heiligen Bezirk, den zu betreten wie eine Entweihung anmutet. Andererseits weisen die imperativischen Formulierungen — zu achten, zu schätzen zu schützen — darauf hin, dass das Gebot der Menschenwürde faktisch missachtet und damit angetastet wird. Wie alle normativen Begriffe, die sich nicht auf empirische Sachverhalte, sondern auf etwas Gesolltes beziehen, fordert der Begriff der Menschenwürde dazu auf, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, ohne dieses Verhalten erzwingen zu können. Die menschliche Freiheit ermöglicht jederzeit Normabweichungen, ja die Nichtbeachtung einer Norm und damit das Tun des Nichtgesollten. Nur Engel brauchen keine Normen, denn sie haben sich ein für allemal entschieden, wahrhaftig, gerecht, vernünftig, also insgesamt engelwürdig zu sein, so dass es sich erübrigt, sie eigens dazu aufzufordern.
Menschenwürde ist somit ein normativer Begriff, der im Unterschied zu empirischen Begriffen wie Gras oder Morgenröte weder einen faktisch antreffbaren und jederzeit nachprüfbaren Sachverhalt beschreibt noch eine objektiv vorhandene Eigenschaft solcher Sachverhalte benennt. Diesen Unterschied zwischen empirischen und normativen Begriffen muss man im Auge behalten, um nicht jenen Fehler zu begehen, den man in der zwischen Neurobiologen und Vertretern der Geisteswissenschaften geführten Debatte über die Willensfreiheit häufig antrifft: Freiheit ist ebenso wie Menschenwürde ein normativer und kein empirischer Begriff. Es gibt keine Naturanlage oder Eigenschaft des Menschen, die mittels Beobachtung, statistischer Erhebungen oder experimenteller Versuchsreihen als Träger von Freiheit identifizierbar wäre. Deshalb ist es unsinnig, zu behaupten, der Mensch sei unfrei, weil sich für Freiheit keine mit naturwissenschaftlichen Methoden verfizierbaren Indizien fänden. Im Wortschatz der Neurobiologie als einer Seinswissenschaft kann Freiheit per definitionem nicht vorkommen, eben weil ein normativer Begriff nicht deskriptiv auf eine Tatsache bezogen ist. Das gleiche gilt für die Menschenwürde: Auch sie gibt es nicht so, wie es ein Gehirn und Neuronen gibt.
Insofern die Naturwissenschaften weder die einzigen Wissenschaften noch die Basis- oder Leitwissenschaften sind, empfiehlt es sich, jene Wissenschaften heranzuziehen, in denen die Rede von Freiheit und Menschenwürde Sinn macht. Es sind dies normative Wissenschaften wie die Ethik, die Theologie und die Jurisprudenz. Zur Klärung des Menschenwürdebegriffs möchte ich auf die wissenschaftstheoretisch belangvolle Grundfrage normativer Wissenschaften eingehen, nämlich auf die nach der Herkunft und Begründung von Normen. Normen sind, wie bereits erwähnt, ihrer Form nach daran kenntlich, dass sie nicht einen Sachverhalt oder Tatbestand beschreiben, sondern ein Verhalten vorschreiben. Zu ihrer präskriptiven Form gehört ein Inhalt wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Diesen Inhalt bezeichnen wir als Wert. Norm und Wert sind zwei Seiten ein und derselben Münze.
Dies lässt sich am Begriff der Menschenwürde gut veranschaulichen. Das Wort Würde ist nämlich etymologisch mit dem Wort Wert verwandt. Die Wörter Würde und Wert gehen auf dieselbe Wurzel zurück. Dem Menschen wird demzufolge ein Eigenwert zugeschrieben, der seine Würde ausmacht. Doch was genau meinen wir mit dieser Zuschreibung, wenn wir damit keinen empirischen Sachverhalt unterstellen? Oder anders gefragt: Was tun wir, sprechakttheoretisch ausgedrückt, wenn wir Menschenwürde als einen dem Menschen eigenen intrinsischen Wert behaupten? Woher wissen wir das? Oder wie lässt sich diese Behauptung begründen? Von einem intrinsischen Wert des Menschen, einem Wert also, den er an sich hat, unabhängig davon, ob Menschen ihn als solchen anerkennen oder nicht, von einem solchen ontologischen, dem Menschen an sich immanenten Wert kann nur unter einer starken Voraussetzung die Rede sein, nämlich dass es einen Schöpfergott gibt, der dem menschlichen Leben seinen Stempel aufgedrückt hat. Gott als Inbegriff von Werthaftigkeit ist der Urheber von allem Wertvollem.
Aus evolutionsbiologischer Perspektive kommt ein solcher intrinsischer Wert des Lebens nicht in den Blick. Die Entwicklungsgeschichte des Universums, deren Rekonstruktion mit dem Urknall beginnt, vollzieht sich wertfrei, nicht gemäss dem Plan und den Zielvorstellungen eines Schöpfers, sondern dem Kausalgesetz folgend, das nach dem Schema von Anstoss und Reaktion — Muster ist das Billardspiel — blosse Zufallsprodukte erzeugt. Erst der Mensch, der ebenfalls diesem Chaos entsprungen ist und es zu ordnen versucht, bringt im Rückblick auf die Etappen der Evolution eine Rangfolge in den Ablauf, indem er den Prozess als ganzen evaluiert, angefangen von der unbelebten Materie bis hin zur Ausdifferenzierung des Organischen, der Pflanzen, der Tiere bis hin zu den menschlichen Lebewesen, und sich selbst als das ranghöchste Produkt dieser aufsteigenden Entwicklungsreihe bewertet.
In unserer westlichen Tradition ist das Christentum ein wesentlicher Bestandteil unserer humanistischen Kultur. Der gläubige Christ geht, wenn von Menschenwürde die Rede ist, davon aus, dass das Lebendige einen intrinsischen, gottgewirkten Wert hat, der dem Leben quasi-objektiv, also ontologisch (seinsmässig) zu eigen ist. Entsprechend bezieht sich das Wort „Würde“ auf eine von Gott beglaubigte Wesensqualität, die insofern angeboren und unverlierbar ist. Die Frage, die sich jedoch heute in einem säkularen Staat angesichts der Tatsache stellt, dass immer weniger Menschen überzeugte Christen sind, dass es Religionen ohne Bezug auf ein göttliches Wesen gibt, und dass überdies zahlreiche Atheisten ohne Religion auskommen, die Frage ist die, ob dadurch der Begriff der Menschenwürde obsolet wird. Anders gefragt: Verliert menschliches Leben seinen Wertcharakter, wenn man die Religion ausblendet? Dieser Frage möchte ich aus der Perspektive der Ethik nachgehen, deren Gegenstandsbereich die Moral ist. Moralisches Verhalten und soziale Kompetenz verlangt man zu Recht auch von Menschen, die an keinen Gott glauben, so dass auch der Atheist aus dem Fehlen einer religiösen Verankerung der Menschenwürde keinen Freibrief für Mord und Totschlag ableiten kann.
Wenn vom Standpunkt der philosophischen Ethik aus nicht ein Gott vorgängig seine Schöpfung mit einem Wert versehen hat, dann bleibt nur der Mensch als wertende Instanz übrig. Wir sind es, die Dingen und Menschen Wert zuschreiben, weil wir sie schätzen. Friedrich Nietzsche hat dies durch den Mund seiner Kunstfigur Zarathustra so ausgedrückt: „Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, — er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich ‚Mensch‘, das ist: der Schätzende.“ (KSA 4, 75) Wertschätzung erweist sich demzufolge als etwas typisch Menschliches. Das Schätzen ist ein kreativer Akt, insofern durch ihn Werte allererst erzeugt werden. Werte entstehen im Vollzug des Schätzens. Die Würde des Menschen besteht dann darin, dass es ihm gelungen ist, sich zu einem gewissen Grad vom blinden Mechanismus der biologischen Evolution abzukoppeln und eigene Ziele zu verfolgen. Diese vom Menschen als wünschenswert erachteten Ziele versieht er mit einem Wert, der unabhängig davon, ob die Ziele bereits verwirklicht sind oder noch ihrer Realisierung harren, geschätzt wird, denn dieser Wert beinhaltet seine Sinnvorstellungen. Menschen brauchen einen Sinn für ihr Leben. Dieser Sinn zeigt sich in ihren Wertungen.
Nun hat Nietzsche aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass das Schätzen oder Werten regional unterschiedlich ausfällt, bedingt durch geographische und klimatische Unterschiede, aber auch durch die Abgrenzung gegen die Nachbarn. „Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt. Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s. Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit pupurnen Ehren geputzt. Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit.“ (KSA 4, 74) Was Nietzsche hier beschreibt, verhandeln wir heute unter dem Titel „clash of civilizations“. Aus Nietzsches Sicht begünstigte ein solcher Kampf der Kulturen unterschiedliche Moralkodizes, deren Normen das von der jeweiligen Gruppe als schätzenswert Angesehene verzeichneten. Ein eigener Moralkodex oder Wertekanon war überlebensnotwendig, weil der Zusammenhalt und die Identität der eigenen Gruppe nur durch die Einschwörung auf gemeinsame Werte gewährleistet werden konnte, bei gleichzeitiger Abwertung und Ausgrenzung derer, die anders schätzten. Moralkataloge und Rechtskodizes mitsamt ihren praxisregulierenden Normen sind Teil des kulturellen Selbstverständnisses einer Interaktionsgemeinschaft. Als Ensemble von gewachsenen und tradierten, mit einem Verbindlichkeitsindex versehenen Handlungsmustern sind sie ebenso vielfältig wie die Kulturen, die sich unter historischen, wirtschaftlichen, geographischen und geistig-religiösen Bedingungen als kollektive Lebensformen herausgebildet haben. Was Nietzsche zur Genealogie der Pluralität von Moralen anführt, ist deshalb wichtig, weil dadurch in Erinnerung gerufen wird, dass das Gruppenethos ursprünglich der Abwehr fremder Kulturen diente, deren prägender Kraft ein entschiedenes Andersseinwollen entgegengesetzt wurde.
Wert, so eine kurze Zwischenbilanz, Wert hat etwas nicht an sich, als eine intrinsische Wesensqualität, sondern es hat Wert für uns, wir sind es, die als Schätzende einer Sache Wert zuschreiben, weil wir sie als für uns wertvoll erachten.
Gold ist zum Beispiel nicht an sich ein wertvolles Metall, sondern weil wir es als wertvoll einstufen — als wertvoll für uns. Nun haben nicht alle Werte dieselbe Ranghöhe. Bei den materiellen Dingen bemisst sich der Wert oft an der Seltenheit des natürlichen Vorkommens einer Sache. Knappe Ressourcen schätzen wir als wertvoller ein. Früher war der Hering ein Armeleuteessen, heute, nach der Überfischung der Meere, gilt er als kostbare Delikatesse. Je knapper das Öl wird, desto wertvoller, sprich teurer wird es. Der Wert von Konsumgütern bemisst sich somit nach unserer Hochschätzung. Auch auf dem Kunstmarkt entscheiden die erzielten Preise über das Schätzenswerte. Ein Picasso ist nicht an sich mehrere Millionen Franken wert, doch der Kunstliebhaber ist bereit, diesen Preis zu zahlen, weil das Gemälde es ihm wert ist.
Bei den immateriellen Dingen verhält es sich nicht anders, nur dass ihr Wert nicht als Geldwert ausgewiesen wird. Moralische Werte beziehen ihren Wertcharakter vom Grundwert der Menschenwürde, die wir jedem Individuum schulden. Menschenwürde kann, so meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ohne Bezugnahme auf einen Gott gefordert und legitimiert werden, weil wir das Sein als Mensch mit dem höchsten Wert versehen und daraus die so genannten Menschenrechte ableiten: das Recht, auf menschenwürdige Weise zu leben — selbstbestimmt und selbstverantwortlich. Allerdings wird dabei unterstellt, dass sich der Wert der Menschenwürde über die Grenzen kultureller Unterschiede und Moralsysteme hinweg als ein die Menschheit insgesamt umfassendes Sinnkonzept plausibel machen lässt, also eine Art Globalisierung der Idee der Menschenwürde, wie sie Hans Küng etwa mit seinem Projekt Weltethos verfolgt. Doch während Küng davon ausgeht, dass sich in allen Hochreligionen ein bereits vorhandenes gemeinsames Ethos ausfindig machen lässt, auf welches sich eine Generalisierung der Idee der Menschenwürde stützen kann, möchte ich die stärkere These vertreten, dass Menschenwürde sich selbst dann als ein allgemein verbindlicher Wert einsichtig machen lässt, wenn es keine empirisch bereits breit abgestützte Basis dafür in der Vielzahl regional unterschiedlicher Wertsysteme gibt. Der Mensch selber ist kraft seiner Intelligenz fähig und willens, als Garant der Menschlichkeit aufzutreten und in der Menschenwürde jene Sakrosanktheit des Lebens festzuschreiben, die das Leben nicht von sich aus hat, sondern nur aus der humanen Perspektive, aus der Perspektive wertender Individuen, die ihr Wertbewusstsein im Grundwert der Menschenwürde verankern.
Um den Begriff der Menschenwürde zu konturieren, ist eine Abgrenzung gegen andere Sprachspiele, in denen das Wort „Würde“ verwendet wird, hilfreich. Würde, immer verstanden als ein Wert, den wir einem Menschen beimessen, ist nicht schlechthin unantastbar, sondern kann einer Person zum Beispiel in Verbindung mit ihrer sozialen Rolle durchaus abgesprochen werden. Ein Kardinal ist ein Würdenträger von dem Zeitpunkt an, wo er vom Papst ernannt wird, bis zu seinem Lebensende. Die Würde, die er vorher nicht hatte und ihn erst auszeichnete, nachdem sie ihm ausdrücklich verliehen wurde, resultiert aus der Wertschätzung, die ihm das Oberhaupt der katholischen Kirche, verbunden mit bestimmten Privilegien, entgegenbringt. Die einem solchen Würdenträger zugesprochene Würde kann ihm jederzeit wieder aberkannt werden, sollte er sich als seines Amtes nicht würdig erweisen. Mit seiner Amtsenthebung ist der Verlust jener Würde verbunden, die er nur kraft dieses Amtes innehatte. Wie schwer sich die Kirche jedoch mit Verfehlungen ihrer Würdenträger tut, zeigt die derzeit geführte Debatte über pädophile Priester.
Auch in der profanen Berufswelt von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kommt der Würdebegriff vor, allerdings mit weniger Pathos, wenn etwa jemand als würdiger Nachfolger für seinen Vorgänger im Amt bezeichnet wird. Diese Auszeichnung soll die Ebenbürtigkeit mit einem Stelleninhaber signalisieren, der sich bereits um die Firma verdient gemacht hat. Mit der Würde ist es jedoch schnell vorbei, wenn die Evaluation der Leistungen des Betreffenden negativ ausfällt oder die Stelle im Zuge von Rationalisierungsmassnahmen wegfällt, er gleichsam als Muster ohne Wert aussortiert wird. Kopfjäger sind es, head hunter, die heutzutage den Wert eines Menschen taxieren, indem sie seinen Preis und damit den Grad seiner professionellen Würde bestimmen.
Im Unterschied zu einer Würde auf Zeit, die von einer Wertinstanz verliehen wird, ist mit Menschenwürde etwas gemeint, das „über allen Preis erhaben“ ist (Kant). Es handelt sich um einen Wert, den wir jedem Individuum unangesehen seines Geschlechts, seiner Hautfarbe und seiner sozialen Rolle zugestehen müssen als eine von seinem Menschsein unabtrennbare Qualität, die unverlierbar zu seinem Wesen gehört und nicht durch besondere Fähigkeiten oder Leistungen erworben ist. Menschenwürde ist unteilbar, da jeder Mensch diese Qualität ganz besitzt. Sie ist unveräusserlich, insofern es sich um einen Wert handelt, der auf nichts und niemand anderen übertragen werden kann. Er ist schliesslich unableitbar, denn ein höherrangiger Wert, aus welchem die Menschenwürde abgeleitet werden könnte, ist nicht vorstellbar, ausser eben in einer religiösen Beziehung.
Menschenwürde als der Wert, auf dem die Menschenrechte beruhen, ist eine Qualität, die sich festmachen lässt am Verständnis von Freiheit als Autonomie. Freiheit als Autonomie ist das Regulativ moralischer, rechtlicher und politischer Beziehungen. Demokratische Verhältnisse sind Freiheitsverhältnisse, die es dem Individuum nicht nur erlauben, sondern auch zumuten, sich nach seinem eigenen Selbstentwurf zu verwirklichen, wobei es als Individuum unter anderen Individuen die von ihm als verbindlich anerkannten Spielregeln der Freiheit befolgen soll und damit die Freiheit, die es für sich selbst beansprucht, zugleich auch allen anderen Individuen zugesteht und damit kollektive Freiheit ermöglicht. Die Menschenrechte sind Freiheitsrechte, die mit Kant gesprochen einen guten Willen voraussetzen. Der gute Wille ist einerseits — negativ verstanden — daran kenntlich, dass er sich nicht von aussen, durch Autoritäten, oder von innen, durch das naturale Wollen, das im Dienst der Bedürfnisbefriedigung steht, fremd bestimmen lässt. Andererseits ist der gute Wille — positiv verstanden — daran kenntlich, dass er sich selbst bestimmt, indem er sein eigenes Gesetz, das Sittengesetz der praktischen Vernunft, zum Massstab alles Wollens erhebt. Der gute Wille ist autonom im wörtlichen Sinn: Er hält sich an den von ihm selbst verfügten Nomos als das Grundgesetz vernünftigen Wollens. Damit ist dieses Gesetz ein Gesetz der Freiheit. Handle so, dass du deine Ziele immer und überall aus Freiheit und um der Freiheit aller willen bestimmst bzw. verwirklichst.
Freiheit ist ein ethischer Letztbegriff, hinter den man reflexiv nicht mehr zurückgehen kann, ohne ihn dabei wieder vorauszusetzen. Freiheit setzt Freiheit voraus, alles andere wäre Unfreiheit und könnte nicht als Voraussetzung von Freiheit fungieren. Freiheit ist demnach ein Apriori, kein theoretisches, Erfahrung begründendes Apriori, sondern ein ethisch-praktisches und als solches ein sollenbegründendes Apriori, das den Willen dazu auffordert, allen Zielsetzungen sein eigenes Gesetz, das ihn als guten Willen qualifiziert, das Gesetz der Freiheit nämlich, zugrunde zu legen.
Menschenwürde ist ein Begriff, der aus der humanistischen Tradition des Abendlandes stammt. Es ist ein bestimmtes, normatives Bild vom autonomen Menschen, das den Trägern von Menschenrechten zugrundeliegt und diesen einen unbedingten moralischen Anspruch zuerkennt. Die Frage, die im Anschluss daran immer wieder gestellt wird, ist die nach der Reichweite der Verbindlichkeit der Menschenwürdenorm. Hat sie eine überkulturelle Gültigkeit, so dass Menschenrechtsverletzungen weltweit angeklagt werden können, oder ist sie „eurozentristisch“ und daher nicht ohne weiteres auf aussereuropäische Länder übertragbar? Zu berücksichtigen ist auch eine Gefahr, nämlich die, dass evaluierende Verallgemeinerungen sehr schnell zu unzulässigen Verabsolutierungen führen. Die Verallgemeinerung von Werten ist immer ideologieanfällig, wenn etwas, das faktisch gilt, doktrinär auf die gesamte Menschheit ausgedehnt und als für jedermann verbindlich behauptet wird. Das Resultat ist ein Fundamentalismus, der sich gegen jegliche Kritik immunisiert.
Dies erklärt manche der Schwierigkeiten, die heute eine Verständigung der Menschen über die Grenzen hinweg behindern oder gar unmöglich machen, obwohl die Menschheit immer näher zusammenrückt und in einer Welt, deren Ressourcen immer knapper werden, auf faire Kooperation angewiesen ist. Wie tief die Gräben zwischen den westlichen und östlichen Kontinenten sind, hat die Kontroverse um die Menschenrechte exemplarisch gezeigt, in welcher die unterschiedlichen Vorstellungen vom Wert und von der Würde menschlicher Individuen zum Vorschein kommen. Daraus darf man jedoch nicht auf die Untauglichkeit des Menschenwürdebegriffs qua kulturübergreifendem normativem Konzept schliessen. Vielmehr sind Brutalität und Terror, verstärkt durch Tribalismus und Fundamentalismus, keine kulturspezifischen Phänomene, sondern überall in der Welt Resultat schieren Machtstrebens, das ideologische Fanatismen schürt aus purer Lust an der Ausübung von Gewalt und Unterdrückung. Die Berufung auf die Andersartigkeit und Besonderheit der eigenen Kultur als Rechtfertigungsgrund von Unrechtregimes für Greueltaten aller Art soll nur davon ablenken, dass die praktizierte Grausamkeit ihren Grund in einem willkürlichen politischen Missbrauch der Macht hat.
Um die Gültigkeit von Menschenwürde und der darauf sich gründenden Menschenrechte zu plausibilisieren, genügt meiner Ansicht nach die Erfahrung: Wir reagieren spontan auf Äusserungen von Freude, Glück, Schmerz, Angst, Trauer und Leid anderer Menschen. Solche vitalen sinnlichen Äusserungen werden unmittelbar verstanden und rufen Anteilnahme, sei es in Form von Mitfreude, sei es in Form von Mitleid hervor. Dies spricht dafür, dass wir dem Leben als Mensch immer schon einen Wert zuschreiben. Wir entdecken uns als Normen und Werte setzende Instanz, indem wir alles, was das Leben als Mensch unterstützt, mit einem Sollenskoeffizienten versehen, und alles, was ein solches Leben behindert, moralisch verbieten. Auf dieser unmittelbaren, durchaus reflektierten, aber eben noch nicht durch ideologische Setzungen verblendeten Ebene sehen wir den anderen Menschen als Alter-Ego, dem wir alle die Rechte auf Unverletzlichkeit seiner Person zugestehen, die wir für uns völlig selbstverständlich beanspruchen. Menschenwürde ist letztlich nichts anderes als der Wert, den ich dem anderen Ich unaufgefordert gebe, weil es ein Mensch ist und als menschliches Individuum existieren soll. Erlittenes Unrecht, ganz gleich wem es zustösst, ruft unmittelbaren Protest hervor. Die Empörung über die Verletzung der physischen, psychischen oder moralischen Integrität eines Menschen ist wiederum ein Indiz dafür, dass wir dies als einen Verstoss gegen uns alle als normsetzende Instanz empfinden.
Erst durch die Brille ideologischer Konstrukte erscheint mir das andere Ich nicht mehr als Alter-Ego und entsprechend nicht mehr als gleichwertiger Mensch. Ich sehe es vielfältig verzerrt als ein Wesen, dem die menschlichen Züge fehlen und dem ich deshalb den Wert des Menschlichen meine aberkennen zu dürfen. Dabei übersehe ich jedoch geflissentlich, dass dieses zum Feind gemachte Gegenüber mein Konstrukt ist. Ich habe eine den anderen entwertende Optik gewählt, und meine Diffamierung hat keinerlei fundamentum in re: Niemand ist von Natur aus ein Nigger; niemand hat aufgrund niedriger Geburt oder seiner Abstammung schlechtes Blut; niemand ist mit tierischen Trieben oder geistlosen Instinkten ausgestattet. Das alles sind Unterstellungen, die aus der individuellen oder kollektiven abschätzigen Bewertung von Andersheit hervorgegangen sind. Was wir wahrnehmen, ist eine andere Hautfarbe als die unsrige, andere Körperformen, andere Ausdrucksweisen, andere Sitten. Wie wir sie wahrnehmen, hängt von den Mustern unserer Arroganz ab, mit welcher wir uns als privilegiert behaupten und Abweichungen von dieser willkürlich gesetzten Norm für schlecht erklären.
Ich möchte schliessen mit einer Erinnerung an Albert Camus, in dessen Werk der Revolte und der Solidarität als Instrumenten einer menschenwürdigen Freiheit zentrale Bedeutung zukommt. In einer absurden Welt, in welcher die Menschenrechte mit Füssen getreten werden, hat der Mensch nur den Mitmenschen, um seine Ohnmacht zu überwinden.
„In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird dem Einzelnen bewußt, daß es kollektiver Natur ist; es ist das Abenteuer aller. [...] Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das 'Cogito' auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Evidenz. Aber diese Evidenz entreißt den Einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir.“ (R 21)
Im Protest gegen die Entwertung der Humanität verbünden sich die Individuen zu einem Wir und begründen jene „Komplizenschaft“, die Camus als „Solidarität der Kette“ bezeichnet. (R 21, 227) Die menschlichen Glieder dieser Kette bilden nach aussen ein Bollwerk gegen Nihilismus und Willkür. Nach innen schaffen sie einen Freiraum, in welchem sie sich wechselseitig das Recht auf Würde, Freiheit und Gerechtigkeit bestätigen. Wo der Mensch nur den Menschen hat, um seiner Existenz einen Wert zu verleihen, wird Sinnschöpfung zu einem gemeinschaftlichen, gesamtmenschheitlichen Unternehmen, dessen Erfolg von der Anzahl derer abhängt, die sich solidarisch als Glieder in die Kette einbinden lassen.
Zitierte Literatur
Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969 (Rowohlt)
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), 15 Bde., München 1980 (dtv)