Bildung, Erziehung, die Fürsorge der Eltern, der Patenonkeln, der Patentanten und der Großeltern müssen sich an der Frage ausrichten: Wie kann ich dem heranwachsenden Menschen helfen, dass er seinen Lebensfaden findet?
Ich möchte dazu ein schönes Erlebnis erzählen: In der Adventszeit war ich eingeladen, Grundschülern – zehn Jahre alt, vierte Klasse – ein Märchen vorzulesen. Ich las in einer Grundschule in Stuttgart in einer Klasse mit 35 Kindern und einem hohen Migrationsanteil. Es war sehr gut vorbereitet, alles war dekoriert und für mich war ein Ohrensessel bereitgestellt. Ich hatte das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen ausgewählt und vorgelesen. Nach der Lesung sagte die Lehrerin, die Schüler würden gerne noch Fragen stellen. Nach zwei, drei Fragen meldete sich ein Zehnjähriger, der schon die ganze Zeit auf der Vorderkante des Stuhls gesessen hatte, und fragte: „Seit wann arbeitest Du eigentlich?“ Und ich fragte zurück: „Was ist denn Arbeit überhaupt?“ Darüber haben die Kinder gar nicht lange nachdenken müssen,
sondern waren sich schnell einig: „Arbeit ist, was gut bezahlt wird.“ Das fand ich interessant.
Ich frage mich: „Woher haben die Kinder diese Meinung?“ Mit dieser Vorstellung sind sie nicht auf die Welt gekommen. Arbeit ist, für andere zu leisten – ein Erwerbsloser, der eine Jugendgruppe trainiert, arbeitet auch. Dieses Beispiel bzw. die Einstellung der Kinder zeigt, wie unsere Gesellschaft dazu neigt, den individuellen Antrieb – seine eigene Biographie zu schreiben, seine eigene Vision zu verfolgen – den der Einzelnen mit auf die Welt bringt, zu verschütten oder zu marginalisieren. Goethe hat in seinem Gedicht „Die Geheimnisse“ geschrieben: „Denn alle Kraft“, und dies kann man an Jugendlichen beobachten, „dringt vorwärts in die Weite, zu leben und zu wirken hier und dort, dagegen engt und hemmt von jeder Seite der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort. In diesem innern Sturm und äußern Streite vernimmt der Geist ein schwer verstandnes Wort: Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
Die Lebensaufgabe besteht darin, sich zu befreien und seinen Ariadnefaden wieder zu finden.
Je mehr sich eine Gesellschaft so konstituiert, dass sie für jeden bei der Bewältigung seiner Lebensaufgabe möglichst förderliche Voraussetzungen schafft, ist sie eine gerechte Gesellschaft – weil sie den Lebenszielsetzungen der einzelnen gerecht wird und sie ermöglicht. Es geht darum, Initiative weckende Rahmenbedingungen zu gestalten, so dass ein Sog entsteht und die Menschen sagen: „Jawohl, hier bin ich Mensch, hier steige ich ein und bringe meine Talente zur Wirkung, hier mach ich mit!“ Unter diesen Voraussetzungen ist eine Gesellschaft zukunftsfähig.
Über den Autor
Beitrag von Prof. Götz W. Werner, Gründer und Aufsichtsrat vom dm-drogerie markt
Unternimm die Zukunft, Götz Werners Portal für eine Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens