Wenn das Internet nicht vergisst, ist Vergebung dann möglich?

Über den Wilden Westen, echte Männer und Zukunft durch Datenschutz

    „Sweetwater wartet auf dich.“ – „Irgendeiner wartet immer.“

    Diese eigentlich nicht ganz korrekte Synchronisation am Ende der berühmten Wildwestoper „C’era una volta il West“[1], die nun wiederum nicht ganz korrekt übersetzt unter dem Titel „Spiel mir das Lied vom Tod“ in deutscher Sprache bekannt wurde, genießt wie der ganze Film Kultstatus. Übersetzung hin, Übersetzung her, es ist die Wahrheit: irgendeiner wartet immer, denn irgendetwas ist immer. Ja klar, was sonst. Aber ist immer irgendeine Zukunft? Der namenlose Mundharmonika-Spieler hat auf der Leinwand den Mord an seinem Bruder nicht vergessen. So triumphiert er als Rächer nicht nur über den bösen Frank, sondern auch über seine eigene Vergangenheit. Dadurch kann er am Ende der Handlung die schöne Dirne gegen eine offene Zukunft eintauschen – so nach dem Motto: „Irgendeiner wartet immer“, und reitet in den Sonnenuntergang... ...im g´scheiten Western natürlich ohne schneeweißen Schimmel mit wehendem Haar durch naturreine Bäche, auch nicht entlang Walküren-wiegender Fanfaren, gepustet von den Türmen melodisch-pompöser Kitschschlösser, aber dafür immerhin mit einem angeschossenen Ganoven auf dem Gaul durch Wüstenmatsch zum Lösegeld Kassieren... ...auch eine Zukunft...

    Gehen wir einfach mal wie in anderen Beiträgen dieses Blogs davon aus, dass Zukunft nicht wartet, sondern irgendetwas mit Zeit am Hut hat. Wir behaupten, etwas liege in der Zukunft, und meinen damit keinen Revolver auf dem Tresen, auch keine Eisenbahnstrecke durch die Wüste. Etwas liegt, so eigentümlich gesprochen, in einer folgenden Zeit, so dass es sich überhaupt erst einmal sinnvoll darauf warten lässt. Dabei duelliert sich Zukunft permanent mit Vergangenheit, gespiegelt am stetigen Showdown der Gegenwart. Wenn es ohne Erinnerung keine Vergangenheit gibt, dann gibt es ohne Erinnerung auch keine Zukunft. Denn ein Duell alleine ist selbst für Hardcore-Platoniker oder Cogito-Fanatiker Blödsinn. Es gehören schon zwei dazu. OK, zugegeben: manches Duell wird auch zu dritt zelebriert. So etwa im Finale des einmal mehr suboptimal übersetzten Western-Klassikers „Zwei glorreiche Halunken“[2]. Hier findet sich übrigens auch die gute alte Lebensweisheit für jedwede Zukunft relativ exakt synchronisiert:

    „Wer schießen will, der soll schießen und nicht quatschen.“

    So subjektiv ist Zukunft: wer schneller zieht, der gewinnt und ohne die richtige Erinnerung – mindestens daran, dass man ziehen will – geht gar nichts...

    Das mit dem Erinnern mag allerdings physikalisch und technisch betrachtet so nicht stimmen. Denn da lässt sich Zeit messen und mit totalen Zahlen an der Kirchturmuhr zum High-Noon bitten. 12 ist 12, dafür braucht es keine subjektive Perspektive, kein persönliches Gedächtnis, kein menschliches Maß. Das ist Kimme und Korn – äh Pardon, ich meinte OBJEKTIV. Zukunft würde in einer Kategorie linearen Fortschritts begraben. Die Trennung zur Vergangenheit wäre umfassend – Gewesenes uneinholbar. So ist der Gedanke wissenschaftlichen Fortschritts nicht ohne Vorurteile gegenüber menschlicher Wahrnehmung von Zukunft, Vergangenheit und Erinnerung möglich...

    Nehmen wir an, unser Westernheld hätte keine Mundharmonika bei sich, sondern dem technischen Fortschritt entsprechend ein Smartphone. Ich behaupte, dann würde es für ihn keine sinnvolle Zukunft geben. Warum nicht? Es scheiden folgende Gründe aus: 1. Musik, weil er dann halt statt auf einer Muha zu tröten den mp3-modus anschmeißt und Ennio Morricone[3] auflegt. 2. würde auch keine lethale Kugel durch das Gerät abgefangen, weil wir alle Angst vor Strahlung haben und das Smartphone in der Hosentasche tragen, anstatt vor dem Herzen neben Tabakdose und Sheriffstern. Zugegeben, das war jetzt ein Argument, das für „Mundharmonika“, „Den Blonden“ , insbesondere aber auch „Django“, „Winnetou“ und alle anderen echten Männer im Westen und Osten eigentlich doch nicht gilt: Wäre für einen wahren Outlaw unendlich uncool, vor unsichtbarem Strahlenzeugs Schiss in der Hose zu haben. Oder mit den beiden humorvollen Prügel-Instanzen des Spaghetti-Western[4] in Bohnensprache gesagt:

    „...hoffentlich haltens die Hosen aus.“[5]

    Warum würde ein Smartphone die Zukunft des Mundharmonika-Spielers umlegen? Weil es der Gringo auch benutzen würde. Es reitet sich schlecht durch einen Sonnenuntergang in offene Zukunft, wenn jeder Showdown sofort ikonographisch stilisiert im Konservenregal des WWW für jedermann zugänglich gepostet wird. Wenn das Socialmedia-Profil nichts vergisst, dann gibt es keine Überwindung, Verarbeitung, Offenheit für Neues – Zukunft...

    Was sich in den 1960er Jahren noch als Wildwestoper romantisch stilisieren ließ ist heute längst vom technischen Fortschritt überrollt worden. Die Stoppuhr neben dem Fließband gerinnt zur Atomuhr 4.0: Zukunft ist Taktzahl, Rechenleistung, genormter Speed, standardisierte Flexibilität... ...noch schneller... ...noch mehr von dem „groß, groß, groß“...

    Die temporale Diskriminierung subjektiver Zeiterfahrung menschlicher Lebenszeit in den Kornspeichern und Kernen der Informationsgesellschaft und die damit einhergehende Huldigung des stetigen Schneller-Höher-Weiter findet ihren technologischen Niederschlag zwischen Höchstleistungsrechenzentren und Höchstgeschwindigkeitshandel an Börsen – und nun auch schon im Echtzeit-Cyberwar – dem algorithmisierten strike und counter-strike... ...eigentümlich entrückt wird aus „groß, groß, groß“ „klein, klein, klein“... Cowboys die ihre Social-Media-Profile hacken, pünktlich 12 Uhr Mittags? Das braucht keiner...

    Es wäre müßig zu schimpfen auf die Lebenszeit, die uns Facebook, Twitter, YoutTube & friends nehmen. Ja klar, das hat der Fernseher auch schon gemacht. Von Wildwest-Filmen abgesehen. Das Problem ist Unterschlagung der konstruktiven Konfrontation menschlicher Wahrnehmung mit Vergangenheit. Was einmal war und uns als Anlass eines neuen Blickes auf Kommendes dienen kann wird proto-algorithmisch sterilisiert in Datenbanken unserer Zeit. Potentiale, Entwicklungen zersetzt in Bits und Bytes...

    Ich rede nicht von Cyborgs oder Avataren, sondern vom falschen Druck der Vergangenheit im Schraubstock polierter User-Profile: das Kommende unter der Last unverarbeiteter Vergangenheit erdrückt. Ist die Zahnpasta einmal aus der Tube – so lautet ein Sprichwort – bekommt man sie nicht wieder hinein. Ist das Foto einmal hochgeladen, lässt es sich aus dem WWW nicht wieder entfernen. Zu schnell ist geteilt... Teile ich eine Pfanne Bohnen, wird sie weniger. Teile ich eine .jpg wird sie mehr...

    Können wir zum Beispiel etwas verzeihen, wenn das Internet nichts vergisst? Vergebung ist eine menschliche Form der Zukunft. Denn Vergebung soll etwas für den Preis transformierter Vergangenheit eröffnen. Zurückliegendes – vielleicht eine Lüge – lastet manchmal sehr auf dem Jetzt. Vertrauensverlust oder die Angst, eine Dummheit zu wiederholen, können soziale Beziehungen enorm lähmen. Vergebung heißt auch lernen und sich des Gewesenen seiner Selbst und Anderer reflexiv zu ermächtigen. Vergangenheit muss geteilte Subjektivität[6] sein, um Vergebung und somit humane Zukunft zu werden. Erinnern ist Reflexion und schwere Arbeit, die kein Computer leisten kann. Verstümmelte Erinnerung erdrückt jedoch die Chancen auf Zukunft, wenn ihr das geteilte Subjektive abhanden bleibt. Wenn das Internet nicht vergisst, ist Vergebung dann möglich? – Nein...

    Zukunft wird ja gerade erst zur menschlichen Zeit unter der Bedingung, sich zyklisch zu sich selbst verhalten zu können. Im Cyber-realen Horror sterilisierter Posting-Dröhnung wird uns jedoch der Zugriff entzogen – das Privileg der Interpretation des Vergangenen obliegt Suchalgorithmen, Social-Media-Contents oder wird schlicht suspendiert durch die Macht des konservierten Bilder-Uploads vergangener Tage. Menschen verändern sich anders als User-Profile...

    Wir brauchen Datenschutz, um überhaupt eine menschliche, zyklisch mit Erinnern, Verarbeiten, Vergeben und Vergangenheit verbundene Zukunft am Leben erhalten zu können. Es gibt persönliche Informationen, die müssen komplett löschbar sein, damit wir uns produktiv zu uns selbst verhalten können. Es geht um das Recht menschlicher Erarbeitung von Geschichten, die sich in ihrem zirkulären Selbstbezug zur Zukunft erwachsen lassen. Es sind Geschichten, keine mathematisch-technischen Fortschritte. Vergessen als Prozess geteilter Subjektivität gehört essentiell dazu. Wir müssen vergessen können, wenn wir Zukunft wollen. Datenschutz ist Schutz unserer Zukunft vor Daten...

    Als Zeichen der Überwindung des Gewesenen steckt der Namenlose dem sterbenden bösen Frank nach dem Duell die Mundharmonika in den Mund. Was wäre, hätte er ihm ein Smartphone zu Beißen gegeben? OK, ich bin tolerant: Ja, das würde den namenlosen Outlaw nicht um seine eigentümliche Zukunft betrügen – vorausgesetzt er löscht auch seine User-Profile, Kontakt-, Cloud- oder E-mail-Daten vollständig. Was haben wir für die Zukunft gelernt?

    1. Wer vergeben will, der soll vergeben und nicht posten!
    2. ...hoffentlich haltens die Festplatten aus.
    3. Etwas fachphilosophischer gesagt: Datenschutz und das unbedingte Recht auf endgültiges Löschen gespeicherter Informationen ist hinreichende, notwendige und praktisch mögliche Bedingung menschlicher, d.i. weder wissenschaftlich-technischer noch mechanisch-quantifizierender, Zeit. Es ist conditio sine qua non verarbeiteter Erinnerung und somit Ursache von Zukunft überhaupt.

    Konstruktives Vergessen statt dem Wahn, alles speichern, teilen und bewahren zu wollen...

    Irgendeiner vergisst immer statt keiner vergibt mehr...


    [1] Italien & USA 1968, Regie: Sergio Leone. [2] Orig. „Il buono, il brutto, il cattivo“, Italien & Spanien 1966, Regie: Sergio Leone. [3] Der herausragende Komponist von Leones Filmmusik. [4] Gemeint sind natürlich Bud Spencer und Terence Hill. Am 27. Juni 2016, während dieser Essay entstand, ist Bud Spencer (Carlo Pedersoli) mit 86 Jahren in Rom gestorben. Wir trauern um einen erfolgreichen Sportler, Schriftsteller und Erfinder, der uns als Schauspieler unvergessliche Filme geschenkt hat. [5] Aus der deutschen, zweiten Synchronisations-Fassung von „…continuavano a chiamarlo Trinità“ (Italien 1971, Regie: Enzo Barboni). Hierzulande bekannt als „Vier Fäuste für ein Halleluja“. [6] Hier ließe sich fachphilosophisch zum Beispiel nach Lorenzen, Mittelstraß, Kambartel und Rentsch von „Transsubjektivität“ reden.