dystopia medicae: Ausdruck einer ‚beschädigte Gesellschaft‘

Die von Walter Benjamin fokussierte Kritik an einem „spezifisch ärztlichen Nihilismus“, den er auch dem tendenziell dem italienischen und deutschen Faschismus zugeneigten und für seine ‚medizynischen‘ Gedichte bekannten Arzt und Lyriker Gottfried Benn attestierte, ist vermutlich aktueller denn je.

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    „Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn.“ (Gottfried Benn 1912 – Kleine Aster)

    Die von Walter Benjamin fokussierte Kritik an einem „spezifisch ärztlichen Nihilismus“ (Benjamin 1991: 590), den er auch dem tendenziell dem italienischen und deutschen Faschismus zugeneigten und für seine ‚medizynischen‘ Gedichte bekannten Arzt und Lyriker Gottfried Benn attestierte, ist vermutlich aktueller denn je. Die zunehmende „schneidende Kälte“ (Adorno & Horkheimer 2011[1947]: 121) der kapitalistischen Produktionsweise macht auch vor der mit Würde und Prestige assoziierten Profession der Ärzt_innen nicht Halt, die in letzter Instanz zulassen, dass die „Krankheit […] zum Symptom des Genesens [wird]“ (ebd.). Auch Max Horkheimer bringt seine Kritik am Gesundheitssystem mit der Bemerkung, dass Ärzte zwar Interesse daran haben, „daß ein Mensch, der krank ist, gesund wird, jedoch keines, daß er gesund ist und nicht krank wird“ (Horkheimer 1991[1961/62]: 384), auf den Punkt, da nicht die wirkliche und umfassende Gesundung der Patient_innen, sondern lediglich die Vorbeugung von Anfälligkeiten jeglicher Art und (ökonomische) Leistungsunfähigkeit im Zentrum stehen.

    Diese Formulierungen treffen den Kern der Paradoxien der modernen Krankheitsprävention, die durch die 2005 vollendete Sequenzanalyse des vollständigen menschlichen Genoms völlig neue Formen anzunehmen in der Lage ist. Die Tendenz, über die Erhebung von Familienanamnese oder genetische Diagnostik Aussagen über Krankheiten zu treffen, für die es weder innere noch äußere Anzeichen gibt, ist deutlich vorhanden – auch wenn diese immer Wahrscheinlichkeiten bleiben und keinesfalls Präzision oder gar Verifikation individueller gesundheitlicher Entwicklungen bedeuten (vgl. Kollek & Lemke 2008: 39f). Die Veränderung hin zu einer umfassenden Krankheitsprävention kann als die wohl modernste, mit einem medizinischen Blick in die Zukunft versehene Ausprägung der Foucault’schen Biopolitik verstanden werden, die nicht systematisch Leben vernichtet, sondern leben macht, das Leben also bewirtschaftet, vermeintlich verbessert, sichert und entwickelt (vgl. Foucault 2014[1976]: 68). Auch wenn in Foucaults Arbeiten die Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Medizin meist im Vordergrund steht, trifft sie sich hier mit den Überlegungen der Kritischen Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, auch wenn beiden unterschiedliche analytische Präferenzen und philosophische Traditionen zugrunde liegen. Der Konnex von Gesundheit und Krankheitsprävention, von der Erhaltung der Ware Arbeitskraft und deren Verwertung in der politischen Ökonomie steht dabei im Vordergrund, die medizinische Biopolitik kennzeichnet die Verknüpfung von Machtbeziehungen und ökonomischem Kalkül (vgl. Bröckling 2008: 41).

    Lange bevor Foucault sich systematisch mit Gesundheit und medizinischer Hygiene als Prinzipien der biopolitischen Regulierung der Bevölkerung in der Moderne auseinandersetzte, hatte sich auch in der Kritischen Theorie ein Denken etabliert, das Gesundheit und Krankheit als Produkte einer gesellschaftlichen Totalität begreift, die auf die umfangreiche Beherrschung von Menschen ausgerichtet ist. Während in der an Foucault anschließenden Interpretation besonders auf „Absicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Mortalitätsrisiken“ (Kollek & Lemke 2008: 45) abgezielt wird, um „die Schutzfaktoren und Ressourcen des Individuums zu stärken“ (ebd.) und diese ideengeschichtlich zu rekonstruieren, findet sich auch bei Adorno eine zwar genealogisch weniger detailreiche, aber philosophisch ebenso interessante Umschreibung der Prävention von Krankheiten. Mittels der Umkehrung des Kierkegaard’schen Prinzips der Krankheit zum Tode zeichnet Adorno mit der Phrase der „Gesundheit zum Tode“ (Adorno 2003[1951]: 65, Herv. i. O.) die metaphorische Krankheit eines gegenwärtigen, ökonomischen Imperativs nach: Du könntest jederzeit krank werden, kümmere dich um dich! Die gesellschaftlichen Kontexte, die es ermöglichen, durch die naturwissenschaftlichen und besonders medizinischen, vermeintlich revolutionären Erkenntnisse die Entschlüsselung des menschlichen Körpers voranzutreiben, haben sich ebenso totalisiert wie die damit einhergehenden Möglichkeiten der Prävention von Krankheiten. Umfangreiche Lebensstiländerungen stehen im Vordergrund, Sport, gesunde Ernährung und das Unterlassen oder Limitieren von Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsum werden zur möglichen Verhinderung vermeintlich sicher ausbrechender genetischer Krankheiten stilisiert. Dabei sind die gesellschaftskritischen Stimmen von Philosophie und Sozialwissenschaften verstärkt der Ansicht, dass das bedingungslose Vertrauen in die Praktiken der Naturwissenschaften umfangreich die bewusste Kontrolle und Berechnung des menschlichen Lebens unter ökonomischen Kriterien – ein Phänomen, das Max Horkheimer als instrumentelle Vernunft charakterisierte – reproduziert. Mit Adorno wäre zusammenzufassen, dass die „zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht“ (ebd.: 65), denn „die Gesundheit der Menschen ist die Krankheit der Gesellschaft“ (ebd.). Mittels des allumfassenden Operierens über die Gesundheit des Menschen – in ihrer der kapitalistischen Gesellschaft entsprechenden Form als Manifestation der Ware Arbeitskraft – hat die Prävention von Krankheiten weitreichende politische und ökonomische Implikationen, sie ist unmissverständlich auf die „rationale […] Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens“ (ebd.: 66) gerichtet.

    Es kann davon ausgegangen werden, dass die sozialen, politischen und psychologischen Implikationen, die an den Gesundheits- und Präventionsimperativ gekoppelt sind, weniger von manifesten medizinischen Testergebnissen abhängen, sondern vielmehr durch den gesellschaftlichen Kontext und den Rahmen, in dem Gesundheit, Krankheit sowie deren Prävention interpretiert werden, geprägt sind. So different die Kritische Theorie und die Machtanalytik Foucaults auch in Methodik und philosophischer Tradition sein mögen, beide haben ein Augenmerk auf die Entwicklungen einer politischen Medizin geworfen, die sich die Dressur der Subjekte nach ökonomischen Prämissen zu Eigen gemacht hat. Auch wenn sich der Bezug zu einer biopolitisch strukturierten Gesellschaft in der Kritischen Theorie eher in kurzen Aphorismen zeigt, während sie bei Foucault den zentralen Aspekt seiner Forschung darstellt, ist ihnen die Notwendigkeit zur nicht-affirmativen Betrachtung der medizinischen Entwicklung gemeinsam.

    Der Bezug auf den von Benjamin skizzierten ärztlichen Nihilismus und auch Horkheimers einführende Worte zum Verhältnis von Gesundheit und Krankheit zeigen vor allem eines: Gesundheit ist in erster Linie das Produkt einer zur Totalität erstarrten Welt und damit eine soziale Konstruktion, in der weder die wirkliche Gesundheit – wie auch immer diese auszusehen vermag – des Einzelnen, noch ein oft propagierter ärztlicher Ehrenkodex, der nur zum Wohle der zu behandelnden Patient_innen existiert, im Mittelpunkt stehen. Vielmehr deuten sie wesentliche Charakterzüge des modernen Kapitalismus an: Gesundheitspolitik und Krankheitsprävention sind Schwert und Zepter des modernen, biopolitischen Leviathans. Sie werden mittels des Vorrangs der Natur- vor den Geisteswissenschaften wohl auch in Zukunft die Symbole der Macht bleiben und die „beschädigte Gesellschaft“ (ebd.: 66) immer aufs Neue reproduzieren.


    Literatur:

    • Adorno, T.W., 2003[1951]: Aphorismus 36. S. 65-67 in: R. Tiedemann (Hrsg.), Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    • Adorno, T.W. & M. Horkheimer, 2011[1947]: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer.
    • Benjamin, W., 1991: Das Passagenwerk. Aufzeichnungen und Materialien. S. 79-654 in: R. Tiedemann (Hrsg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften V.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    • Bröckling, U., 2008: Vorbeugen ist besser... Zur Soziologie der Prävention. Behemoth. A Journal on Civilisation 1/2008: 38-48.
    • Foucault, M., 2014[1976]: Recht über den Tod und Macht zum Leben. S. 65-87 in: A. Folkers & T. Lemke (Hrsg.), Biopolitik. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp.
    • Horkheimer, M., 1991[1961/62]: Gesundheitspolitik. S. 384-385 in: A. Schmidt (Hrsg.), Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 6: ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‘ und ‚Notizen 1949-1969‘. Frankfurt a.M.: Fischer.
    • Kollek, R. & T. Lemke, 2008: Der medizinische Blick in die Zukunft. Implikationen prädiktiver Gentests. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.