In Lessings Nathan der Weise hat das Thema der religiösen Toleranz eine ihrer eindrücklichsten und immer wieder lesenswerten literarischen Darstellungen gefunden. Heute begegnen wir im politischen und privaten Alltag einem deutlich breiteren Spektrum von Aufrufen zu mehr Toleranz – nicht nur gegenüber anderen Religionen und religiösen Gruppierungen, sondern auch gegenüber Menschen mit anderen Lebensstilen, mit nicht heterosexueller Orientierung, mit anderen Weltanschauungen, Werthaltungen, Kulturen und so weiter.
Die Häufigkeit solcher Aufrufe verweist wohl auf zwei Dinge gleichzeitig: erstens auf die –zumindest implizite– breite Akzeptanz von Toleranz als einer zentralen Tugend für das Zusammenleben mit anderen Menschen, und zweitens auf die Schwierigkeit, Toleranz auch tatsächlich zu leben. So verwundert es auch nicht, dass um Toleranz immer wieder Streit entbrennt: Vor allem in der Politik werden Aufrufe zu Toleranz gerne als blinder Idealismus oder also ‚Gutmenschentum’ abgetan, und umgekehrt wird Toleranz bisweilen auch als zu wenig weit gehende, zu kühl bleibende Haltung anderen Menschen gegenüber kritisiert.
An dieser Stelle möchte ich mich nicht weiter in Debatten zu den Vorzügen und Nachteilen von Toleranz, oder zu der in einer gegebenen Gesellschaft erwünschten genaueren Bestimmung der Grenze zwischen zu Tolerierendem und nicht zu Tolerierendem einmischen. Mein bescheideneres Ziel ist es, auf drei oft in der philosophischen Diskussion hervorgehobene grundlegende Facetten des Toleranzbegriffs hinzuweisen, welche mir aber für solch weiter gehende Debatten in Alltag und Politik zentral scheinen.
Wozu rufen wir also eigentlich auf, wenn wir zu mehr Toleranz aufrufen? Erstens: Toleranz, so betonen viele Philosophinnen und Philosophen (u.a. auch Rainer Forst und Heiner Hastedt in den unten genannten deutschsprachigen Büchern), ist eine Haltung, die wir Dingen gegenüber einnehmen, die wir erst einmal ablehnen, weil sie uns in irgendeinem Sinne stören. Dadurch unterscheidet sich die tolerante Haltung von derjenigen der Indifferenz, welche diese Ablehnung nicht –oder allenfalls nicht mehr– aufweist. Wenn wir zu mehr Toleranz aufrufen, fordern wir also nicht, dass die eigene Meinung dahingehend umzubiegen sei, dass das als störend Empfundene auch positiv zu bewerten sei.
Zweitens: Wenn auch in der Toleranz eine ablehnende Haltung erhalten bleibt, so wird diese jedoch vom Bewusstsein begleitet, dass das, was stört, im Hinblick auf wichtigere Dinge zu akzeptieren sei – denken wir hier zum Beispiel an die Freiheit in der Wahl der Lebensgestaltung, an Gleichbehandlung im Namen der Gerechtigkeit, oder an den sozialen Frieden. Der Aufruf zu Toleranz beinhaltet also die Aufforderung, sich solche wichtigeren Dinge als wichtigere Dinge zu vergegenwärtigen. Hier kommt eine oft diskutierte Schwierigkeit der Toleranz ins Spiel: im Gegensatz zu Indifferenz oder Wertschätzung bleibt bei der Toleranz eine Spannung zwischen Ablehnung einerseits und Akzeptanz im Hinblick auf ein wichtigeres Gut andererseits bestehen und muss ausgehalten werden.
Drittens: Dass etwas Störendes im Hinblick auf ein wichtigeres Gut akzeptiert werden soll, bedeutet nicht, dass Toleranz nicht auch Grenzen hat – die Haltung der Toleranz ist nicht gleichzusetzen mit dem untätigen Zulassen von Dingen, die ernsthaften Schaden anrichten. Vielmehr wird bei einem Aufruf zu Toleranz auch eine Reflexion über deren Grenzen eingefordert. Um die Bestimmung eben dieser Grenzen drehen sich dann wohl auch die meisten Diskussionen über Toleranz in Alltag und Politik, auch wenn bisweilen der Streit über die Grenzen der Toleranz zu einem Streit über die Toleranz an sich ausgeweitet wird.
Beim Ausloten der Grenzen der Toleranz, wenn diese als eine solch komplexe und anspruchsvolle Haltung anerkannt wird, steht ein Punkt im Vordergrund: meine persönlichen Vorlieben können nicht einfach zum Massstab aller erhoben werden, so wie das auch für die persönlichen Vorlieben der anderen gilt. Die Grenzen der Toleranz müssen in einer ernsthaften gesellschaftlichen Diskussion, im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben trotz mehr oder weniger gewichtigen Unterschieden, immer wieder neu verhandelt werden. Und hierbei ist wiederum zentral, dass wir uns –gerade wenn wir in der komfortablen Position der Stärkeren sind– nicht verlocken lassen, beim Vergleich von „uns“ mit den „anderen“ beim „uns“ die besten Beispiele in die Wagschale zu werfen, und beim „anderen“ die schlechtesten. Diese Strategie verspricht gewiss den grössten Erfolg, bei einem Vergleich als Gewinner dazustehen. Doch zu Toleranz wird sie nicht führen – bestenfalls zu Intoleranz, die sich hinter dem Schleier der Selbstverteidigung versteckt.
Zur weiteren Lektüre:
Heiner Hastedt: Toleranz. Stuttgart: Reclam, 2012.
(Eine griffige Einführung in die philosophische Diskussion um die Toleranz)
Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.
(Eine ausführliche und wichtige Studie zu Geschichte und Systematik des Toleranzbegriffs)