Heimatgefühl

Ein kurzer Abriss der Biographie Rudolf Rockers hilft uns vielleicht weiter bei der Suche danach, was Heimat ist.

    Alle Gefühle können entführt werden. Aber was wäre der Mensch ohne Gefühle? Und so versteht sich vielleicht der fromme Wunsch, seine Gefühle an die Zügel der Vernunft legen zu wollen. Nicht um die Gefühle zu dämpfen, sondern um sie nicht Samen einer Frucht werden zu lassen, die nur bitter schmecken kann. So schrieb der deutsche Anarcho-Syndikalist Rudolf Rocker – ja, der hiess wirklich so – in seinem Magnum Opus Die Entscheidung des Abendlandes, dass „mit dem sogenannten ‚nationalen Empfinden’ […] das Heimatgefühl keine Verwandtschaft [hat], obwohl man beide […] nach Falschmünzerart als die gleichen Werte ausgibt.“[1] Ein kurzer Abriss der Biographie Rudolf Rockers hilft uns vielleicht weiter bei der Suche danach, was Heimat ist.

    Rocker „wurde in Mainz […] in eine katholische Familie von Fachkräften mit liberalen Anschauungen geboren“ und wuchs nach dem frühen Tod seiner Eltern in einem katholischen Waisenhaus auf.[2] Er schloss sich der linken Oppositionsgruppe Die Jungen an und machte nach seinem Ausschluss mit dem Anarchismus Bekanntschaft. Er lernte die Buchbinderei und als Wandergeselle liess er sich an Orte in Westeuropa führen, die ihn auch politisch interessierten. Überall trat er in Verbindung mit Anarchisten. Nach anarchistischem Engagement musste er aus Deutschland fliehen, landete 1893 in Paris und siedelte 1895 nach Grossbritannien über. Als deutscher, nicht-jüdischer Redakteur jiddischer Arbeiterzeitungen, sehr aktiv in jüdischen Anarchistengruppen in London und 1914 in offener Opposition zum Ersten Weltkrieg wurde er als enemy alien – obwohl ihm die deutsche Staatsbürgerschaft unter den Sozialistengesetzen Bismarcks entzogen worden war – interniert. Während seiner Internierung trat er für die Rechte seiner Mitgefangenen ein, war deren Wortführer, förderte ihre Bildung und schmiedete unter ihnen Solidarität. 1918 wurde Rocker in die Niederlanden deportiert und siedelte danach nach Deutschland über, wo er durch die Weimarer Republik „unter Protektion“ gestellt wurde.[3] Zurück in seinem Geburtsland wirkte er in der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften, gründete die Freie Arbeiter-Union Deutschlands mit und war Redakteur der Zeitschrift Der Syndikalist. Seine anarchistische Umtriebigkeit mündete auch in seiner Leitung der „libertären Opposition gegen die aufkommende Nazi-Bewegung“.[4] So erstaunt es nicht, dass er 1933 wiederum aus Deutschland fliehen musste. Seine Flucht trat er „mit wenig mehr als dem Manuskript seines Buches Die Entscheidung des Abendlandes, an dem er seit Jahren arbeitete“, an und landete in den USA.[5] Dort liess er sich in einer anarchistischen Siedlung bei Crompond, unweit von New York City, nieder. In den USA traf er auf „jüdische Immigranten, die in Berlin und London seinen Vorträgen gelauscht hatten.“[6] Mit Hilfe dieser konnte er sein Magnum Opus dann auch publizieren. Auch in den USA wurde er während des Zweiten Weltkrieges als enemy alien eingestuft. Seine Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt und nach dem Krieg wurde er unter Beobachtung gestellt. Rocker wurde, wie konnte es bei seiner gutmütigen Art und Schaffenskraft auch anders sein, trotzdem der bekannteste Anarchist im Lande. Der wohl berühmteste Anarchist unserer Zeit, Noam Chomsky, wurde von Rockers Schriften nachhaltig beeinflusst.[7]

    Rocker war ein staatenloser und überall wo er landete, war er von den Behörden unwillkommen. Auch seine religiöse Herkunft war nicht der Keim, der ihn überall trotz aller staatlicher Hindernisse Wurzeln schlagen liess. Kategorien wie „Volk“, „Religion“, „Nationalität“ bedeuteten ihm nichts. Und wieso sollen diese auch etwas für unser Heimatgefühl bedeuten? Eine zoroastrische Schottin mit iranischen Wurzeln kann in Zürich geboren werden und aufwachsen, sich daheim fühlen. Wieso sollte einem Menschen, dessen Identität auf keinen zufälligen Merkmalen aufbaut, ein Heimatgefühl verwehrt bleiben, auch wenn am Orte der Heimat eine nicht-geteilte Religion, Nationalität oder Volksgruppe überwiegt?[8] Rocker schreibt: „Heimatgefühl ist nicht Patriotismus, ist nicht Liebe zum Staat, nicht Liebe, die in der abstrakten Vorstellung von der Nation ihre Wurzel findet. Es bedarf keiner breitspurigen Erklärungen, um zu zeigen, dass das Stück Erde, auf dem der Mensch die Jahre seiner Jugend verlebt hat, mit seinem inneren tief verwachsen ist.“ Interessant wäre in diesem Zusammenhang eine Abhandlung über Natur und Architektur, denn man wandelt in dieser vielleicht viel mehr als in der abstrakten Kategorie „Nation“ – natürlich wirkt die Kultur auch auf die Architektur ein. Wenn ich zum Beispiel an meinem Heimatort von einem Quartier zum anderen spaziere, so ändert sich meine Stimmung mit der Architektur, mit der Atmosphäre, mit dem Zweck, der an einem Ort vorherrschend ist – vom Industriequartier über Ausgangsmeile bis zum gutbürgerlichen Englisch-Viertel. Das Gefühl jedoch, das mich mit meinem Heimatquartier verbindet, das beherrscht mich anders. Aber vielleicht ist die Stärke des Heimatgefühls, das in der Jugend wurzelt, auch der Tatsache geschuldet, wie kontinuierlich man an einem Orte wohnte. Aber auch von diesem vertrauten Ort, an den das Heimatgefühl gebunden scheint, kann sich das Gemüt lösen und nach neuen Gefilden ausschwärmen, wo das eigene Sein sich einzupassen und auszubreiten, sprich zu beheimaten anschickt – Spuren der frühkindlichen bis jugendlichen Heimat schwingen als Erinnerungen mit. Rockers im konkretesten Sinne bewegte Geschichte ist geprägt von solcher Beheimatung und Entfremdung.

    Als Anarchist merkte Rocker bald, dass er sich überall entfremden konnte, weil die politische Macht sich nie mit seinem Anarchismus anfreunden wollte. Der herrschaftslose Ort war eine Utopie, während Rockers Anarchismus eine Vision war. Solche Visionen galt es abzuschneiden, denn sie unterwanderten die Möglichkeit, Differenzkategorien zu politisieren. Divide et impera. Und so schritt Rocker von Heimat zu Heimat oder von Heimatlosigkeit zu Heimatlosigkeit, fortgejagt von den Herren der jeweiligen Lande. Es ist schwierig, seinen Überzeugungen zu folgen, da man gegebenenfalls derjenigen Attribute – Nationalität, Religionszugehörigkeit, Partei, Klasse etc. – beraubt wird, die leider allzu oft die Beziehungen der Menschen aufrecht erhalten. Rocker schaffte es jedoch immer, Geistesverwandte zu finden und ja, in der Geisteshaltung findet sich eben Halt. Aber bedeutet das, dass man auf BürgerInnen gleicher Gesinnung treffen muss, um eine neue Heimat zu finden? Wenn die Gesinnung darin besteht, den Menschen nicht auf Kategorien wie Herkunft, Glauben, Genpool etc. zu reduzieren, vielleicht schon auch. Denn am Ende ist die Erde unsere Heimat und das Fehlen dieser Erkenntnis entfremdet uns von unserer lokalen Heimat. Es würde vielleicht manchem blinden Nationalisten gut tun, wenn man ihn alleine auf eine Raumfahrt tief ins Weltall schickt, bis in ihm das Gefühl aufsteigt, dass er die Erde, die Menschen vermisst und nicht das patriotische Chanson. Und wenn er dann auf einem Planeten landet, wo eine andere Spezies mit grünen überlangen Köpfen, welche die doppelte Hirnmasse fassen, trifft, dann spätestens, fühlt er sich als Erdenbewohner. Aber ich will nicht mit dieser etwas schadenfreudigen Vorstellung enden, sondern lieber nochmals die Worte Rockers nachklingen lassen: „Die Heimat ist sozusagen das äussere Kleid des Menschen, an dem ihm jede Falte innig vertraut ist. Diesem Heimatgefühl entspringt auch in späteren Jahren jenes stumme Sehnen nach einer Vergangenheit, die längst unter Trümmern begraben liegt, das die Romantiker den Blick so tief nach innen senken liess. […] Heimatliebe kennt keinen ‚Willen zur Macht’, ist frei von jener hohlen und gefährlichen Überheblichkeit dem Nachbarn gegenüber, die zu den eisernen Belangen jedes wie immer gearteten Nationalismus gehört. Heimatliebe treibt keine praktische Politik […]. Sie ist lediglich der Ausdruck eines inneren Empfindens, das ebenso ungezwungen wie die Freude des Menschen an der Natur hervortritt, von der die Heimat ein Teil ist.“[9] Vielleicht aber ist Heimatgefühl doch auch etwas, das sich den Menschen, die auf der Flucht sind, anerbietet, sie in sich aufnehmen will, damit die eigene Heimat reicher und schöner, die Welt heimatlicher wird.


    [1] Rudolf Rocker, Die Entscheidung des Abendlandes, Hamburg, 1949, S. 282. Englischer Buchtitel: Nationalism and Culture.
    [2] Nicolas Walter, Introduction, in: Rudolf Rocker, Anarcho-Syndicalism. Theory and Practice, Edinburgh/London/Oakland 2004, iv (Übers. N.N.).
    [3] Colin Ward, Introduction, in: Rudolf Rocker: The London Years, Nottingham/Oakland, 2005, 1–3, hier 2 (Übers. N.N.).
    [4] Walter, Introduction, v.
    [5] Ward, Introduction, 2 (Übers. N.N.).
    [6] Ebd. (Übers. N.N.).
    [7] Die biographischen Angaben sind Colin Ward, Introduction, in: Rudolf Rocker: The London Years, Nottingham/Oakland, 2005, 1–3 und Nicolas Walter, Introduction, in: Rudolf Rocker, Anarcho-Syndicalism. Theory and Practice, Edinburgh/London/Oakland 2004, iv–xiv entlehnt.
    [8] Sogar die eigene Sexualität ist politisiert: Manchen Menschen ist es nicht möglich, an ihrem Heimatort ihre eigene Sexualität offen zu leben, sind gezwungen auszuwandern, wenn sie das wollen.
    [9] Rocker, Die Entscheidung des Abendlandes, S. 281–282.