Podcast zum Diskussionsabend:
Rückschau zur Veranstaltung:
Zu Beginn der ausverkauften Veranstaltung wies Geneva Moser darauf hin, dass es sich beim Thema der Verletzlichkeit sowohl um ein persönliches als auch ein politisches Thema handle, dem sie sich mit einem feministischen Fokus, poststrukturalistischen Ansätzen als auch Bezügen zur Affekttheorie zu nähern versucht. Als Einstieg nahm sie Bezug auf Ihren vorab veröffentlichten Artikel „Verletzlichkeit“, indem sie ihre Herangehensweise beschreibt.
Darin wird Verletzlichkeit als Begriff im politischen Diskurs thematisiert, der bei der Grenzziehung zwischen Freund und Feind häufig Verwendung findet und mit der Erstarkung von gegenläufigen Entwicklungen wie Individualisierung und Fremdenfeindlichkeit zusammenhängt. Dass sich die feministische Bewegung entgegen dieser Tendenzen formiert, zeigte sich z.B. am Women’s March in Washington.
Subjekt-sein wird als etwas prozesshaftes, dynamisches beschrieben, das nichts Gesetztes, Garantiertes ist, wobei das Subjekt kein geschlechterneutrales Denkmodell ist. Der Verdrängungsmechanismus, der auftritt wenn die Aussenwelt die subjektiv wahrgenommene Autonomie untergräbt, wird als Selbstaffirmation und Veranderung beschrieben, der auch in der Politik und Medienberichterstattung zu beobachten ist. Moser fragt, ob sich dieser Prozess unterbrechen lässt und wie sich das Subjekt als handlungsfähig denken lässt, ohne der Imagination der Autonomie zu verfallen.
Da für die Philosophin Judith Butler der Mensch seine Handlungsfähigkeit grundlegend in der Sozialität entfaltet, entsteht Verletzlichkeit aus der grundsätzlichen Gebundenheit des Selbst an das Andere. „Sie plädiert dafür, nicht die Angst vor dem Prekärsein zu reproduzieren und damit traditionelle moderne Herrschaftslogiken zu stützen, sondern im Gegenteil die fehlende Anerkennung des grundsätzlich prekären Lebens als Ausgangspunkt für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen zu setzen“.
Moser schliesst Ihren einführenden Beitrag mit folgendem Abschnitt ab: „Verletzlichkeit wird in dieser Herangehensweise, also als Ausgangspunkt der Analyse von Herrschaftsverhältnissen, zur neuen Grundlage, nicht nur eines alternativen Selbstverständnisses, sondern auch neuer Formen von kritischer Kollektivität, zum Motor gemeinsamen politischen Handelns. So kann der Women’s March ein mögliches Beispiel einer Bewegung sein, die nicht mehr Identität als Grundlage gemeinsamen Handelns annimmt, sondern geteilte Verletzlichkeit als Ausgangspunkt hat und hierin Differenzen anerkennt.“
Die anschliessende Diskussion griff viele der erwähnten Begriffe und Konzepte auf, die Moser noch klarer darzustellen versuchte. Weitere Themen die angesprochen wurden waren: Rassismus, Stereotypisierung, Identität, Geschlechterrollen, Hierarchisierung, soziale Sicherheit, Armut etc. Wobei die ganze Themenvielfalt in persönlicher, gesellschaftlicher als auch politischer Hinsicht Eingang fand in die Diskussion. Moser erwähnte die Eigenschaft der Sprache als Waffe dienen zu können. Die Sprache kann als Machtinstrument genutzt werden um eine Trennlinie zu ziehen zwischen ich, du, wir und ihr.
Im späteren Verlauf des Abends stellte sich das Kernproblem immer klarer dar, nämlich der (vermeintliche?) Gegensatz von Subjekt und Gruppe, von Individualismus und Kollektivismus.
Wie können sich Menschen zu Kollektiven formieren, denen eine konstruierte, exkludierte Identität übergestülpt wurde? Den Ausschluss akzeptieren und hinnehmen oder Gleichgesinnte finden, in deren Gemeinschaft eine kollektive Identität geformt wird, die nicht wiederum ausschliessend agiert?
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Einführungstext
Verletzlichkeit wird uns zur Zeit immer wieder als Grundeigenschaft menschlichen Lebens eindrücklich vor Augen geführt. In Anbetracht von Krieg, Flucht und dem Sterben an den Grenzen der Festung Europa beispielsweise. Verletzlichkeit dient aber auch als argumentative Grundlage für eine Abgrenzungspolitik des globalen Westens gegenüber „dem Anderen“, „dem Fremden“: In (nicht nur) rechtspopulistischer Rhetorik sind es beispielsweise emanzipierte weisse Frauen, die vor dem „sexuell übergriffigen Migranten“ beschützt, die fortschrittliche Nation, die vor dem „Eindringen eines rückständigen Wertesystems“ bewahrt oder das friedliche Miteinander, welches vor der Gewalttätigkeit des „Fremden“ geschützt werden muss. Diese Rhetorik baut auf einer Gegenüberstellung zwischen dem eigentlich autonomen, abgegrenzten Selbst und dem bedrohlichen, verletzenden Anderen. So betrachtet scheint es kein Zufall zu sein, dass gegenwärtig zwei Entwicklungen parallel verlaufen: Die starke Individualisierung des Menschen im neoliberalen Kapitalismus – also die Betonung des autonomen Selbst – und das gegenwärtige Erstarken von nationalistischem und fremdenfeindlichem Gedankengut. Es ist allerdings auch nicht zufällig, dass sich gegen diese Tendenzen gerade eine feministische Bewegung formiert. Der Women’s March in Washington am Tag der Inauguration des neuen US-Präsidenten Donald Trump ist die grösste Single-Day-Demonstration in der Geschichte der USA. In zahlreichen Städten weltweit fanden seither ähnliche Märsche statt. Feminismus, das sei nicht nur eine Bewegung für alle, sondern er kümmere sich auch um alles, wie Antje Schrupp in der "Frankfurter Rundschau" es formuliert. Angela Davis fordert in Anlehnung an den Slogan der Occupy-Bewegung, einen „Feminismus der 99%“. Und gerade zu Fragen rund um das Subjekt, um Autonomie und um Handlungsfähigkeit hat die Feministische Theorie so einiges an Antworten und Gedankenanstössen zu liefern Verletzlichkeit spielt in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle.