Podcast zum Diskussionsabend:
Teil 1
Teil 2
Rückschau zur Veranstaltung
«Denn gewiss zählt doch die Weisheit zu dem Allerschönsten; die Liebe aber ist auf alles Schöne gerichtet: folglich ist Eros ein Philosoph; als Philosoph aber steht er in der Mitte zwischen einem Weisen und einem Unwissenden.» So wird Sokrates von der Seherin Diotima in Platons Gastmahl unterwiesen. Analog dazu nahmen am 29. Mai 2017 die DiskussionsteilnehmerInnen im Café Kairo in Bern die Rolle von Sokrates ein, um der Weisheit Diotimas, verkörpert durch die Diskussionsleiterin Dr. Federica Gregoratto, zu lauschen und sie in ein Gespräch über die Liebe zu verwickeln.
Dr. Federica Gregoratto ist wissenschaftliche Assistentin und Habilitandin am Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen, sie stellte sich als aus Italien stammend vor und verwies auf Ihr Habilitationsprojekt über Liebe, Macht und Freiheit.
Den Diskussionsabend teilte sie in zwei Hauptteile auf, einen ersten beschreibenden Teil, welcher nach dem Wesen und der Natur der Liebe fragt, und die Hauptfrage somit lautete: Was ist (romantische) Liebe? Wobei die romantische Form umstritten und die schwierigste Form der Liebe darstellt.
Im zweitenbewertenden Teil, der nach ethischen Kriterien fragt, wurde die Frage so formuliert: Was sind gute und schlechte Formen einer Liebesbeziehung? Denn es können durchaus unterdrückende und entfremdende Formen in einer Liebesgemeinschaft entstehen.
Im Laufe der Diskussion überlappten die beschreibenden und bewertenden bzw. kritischen Fragen und verflochten sich.
Nach Ansicht Gregorattos stellt die romantische Liebe eine historische Form der Liebe dar, die erst im 18. und 19. Jahrhundert institutionalisiert wurde. Hierbei zeigt sich Liebe nicht bloss als Gefühl, sondern auch als Form einer sozialen Beziehung, die Legitimation und Anerkennung in der Gesellschaft findet. Gregoratto interessiert sich im Besonderen für die Frage, wie sich Normen im Laufe der Zeit ändern, also dafür, welche konstanten und welche veränderlichen Charakteristiken bestehen, die eine Liebesbeziehung positiv oder negativ beeinflussen können, wobei sie unter negativ, nicht befreiend versteht.
Die Frage, mit der Gregoratto die Diskussion für das Publikum öffnete, formulierte sie folgendermassen: Welche Bilder weckt der Begriff der Liebe? Diese wurde sogleich mit einer Gegenfrage beantwortet, nämlich welcher von jenen Begriffen der Liebe nun gemeint sei, wie sie im antiken Griechenland verwendet wurden, Eros, Philia oder Agape? Jene Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungen, denn Eros kann als erotische Liebe, Philia als freundschaftliche Liebe und Agape als allgemeine Menschenliebe übersetzt werden. Gregoratto bemerkte an dieser Stelle, dass sie den typischen Begriff der romantischen Liebe grundsätzlich als eine Mischung zwischen Eros und Philia versteht; weitere Eigenschaften und Kategorien müssen dazu miteinbezogen werden, um den spezifisch modernen Charakter der Romantik begreifen zu können.
Gregoratto erklärte, im Gegensatz zu antiken Denkern, haben zeitgenössische Philosophen besondere Mühe mit den unberechenbaren und irrationalen Aspekten der Liebe. Dennoch – oder vielleicht deswegen! – wachse neuerdings die Forschungsliteratur, die sich mit den Widersprüchen und Paradoxien der Liebe auseinandersetzt. Prominente Themen seien Begriffe wie Selbstaufgabe und -hingabe oder Verschmelzung, die die Frage provozieren: Wo ende ich und wo beginnt mein Partner? Das stellt ein gutes Beispiel dar, was das Geflecht der Beschreibung und der Kritik anbelangt: Wenn einerseits gesagt werden kann, dass Selbstaufgabe zur „Natur“ oder zum Wesen der Liebe gehört, kann anderseits der Zweifel erweckt werden, dass sie zur Selbstopferung und somit zu Beschädigungen und zum unnötigen Leid führt. An diesem Leid haben historisch vor allem Frauen gelitten: Wie unschuldig ist es also, von einer solchen „Natur“ der Liebe zu sprechen?
Nichtdestotrotz lohnt es, sich die Mühe zu geben, das Phänomen der romantischen Liebe zu verstehen. Gregoratto schlägt folgende „Kerndefinition“ vor: Eine Liebesbeziehung sei eine enge, intime Beziehung, in der sich die Personen umeinander kümmern und ein intensiver gegenseitiger Verstehens- und Unterstützungsversuch stattfindet. Gegenstand der wechselseitigen Anerkennung ist die unersetzliche, nicht tauschbare, absolute singuläre Individualität der Liebenden, die nur in der Liebe zum Ausdruck kommen darf und kann. Als Folge der Liebesbeziehung wird die Identität der Liebenden jedoch nicht einfach bewahrt und reproduziert, sondern auch transformiert. Fürsorge ergibt sich nicht als Pflicht, sondern aus Neigung, wobei das Wohlbefinden einer Geliebten mit dem des Partners oder der Partnerin zusammenfällt. Des Weiteren lässt eine Liebesbeziehung körperliche Nähe zu, wodurch sie eine erotische Komponente erhält.
Einige (oder vielleicht alle?) von diesen Merkmalen der Liebe haben eine geschichtliche und daher veränderbare Natur: Zum Beispiel wird die erotische Attraktion oder die monogamische Norm als zwingende Voraussetzungen für die romantische Liebe zunehmend in Frage gestellt, was angesichts von Phänomenen wie Asexualität und Polyamorie verständlich wird.
Die Liebe kann auch destruktive Züge annehmen indem sie Konflikt und sogar Gewalt verursacht. Somit ist und bleibt die Liebe ein ambivalentes Phänomen, das uns weiterhin sowohl theoretisch als auch praktisch beschäftigen wird. Eros, so scheint es, wird wie schon zu Sokrates Zeiten, weiterhin zwischen Philosoph und Unwissendem hin und herpendeln.
Einführungstext
Transformationen der Liebe und Liebe als Transformation
Text von Federica Gregoratto
Was ist Liebe? Im Gegenteil zu einer weitverbreiteten philosophischen Ansicht, kann diese Frage nicht allgemein und endgültig beantwortet werden. Die Natur der Liebe verändert sich je nach Epoche und gesellschaftlichem Kontext. Renommierte Sozialphilosophen behaupten, unsere Idee der Liebe sei noch geprägt von der romantischen Konzeption, die hauptsächlich von den Deutschen Idealisten des 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Hollywood Filme bestätigen meistens diese Theorie. Aber ist es wirklich so? Stehen wir nicht heute eher vor einer neuen Phase der Liebe, die von mehr Freiheit aber auch durch mehr Unsicherheit gekennzeichnet ist?
Liebe lässt sich als eine elementare, enge, aber grundlegende Form der Gemeinschaft verstehen: Wie jede Gemeinschaft kann dann auch Liebe sowohl erstickend und unterdrückend, als auch ermächtigend und befreiend wirken. Wie kann man diese letztere, positive Idee der Liebe erfassen? Ich möchte die These vorschlagen und diskutieren, dass ein zentrales Merkmal der ermächtigenden und befreienden Gemeinschaft der Liebe in ihrem sowohl individuellen als auch kollektiven transformativen - also wandlungsfähigen - Potential besteht. Sind die heutigen gesellschaftlichen Institutionen geeignet, solch ein Potential zu verwirklichen?