Beispielsweise sprechen wir von Stephen Hawking als einer Autorität in der theoretischen Physik oder Nelson Mandela als einer moralischen Autorität. Zum anderen kommt der Begriff der Autorität als Beschreibung einer bestimmten Art der Beziehung zum Einsatz. So sprechen wir von der Autorität, die Eltern über ihre Kinder, Vorgesetze über ihre Untergebenen, oder aber der Staat über seine Bürger inne haben. Es ist die letztere, “relationale” Form der Autorität, die mich hier interessiert.
Das Beispiel des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern wirft die Frage auf, ob Autorität im relationalen Sinn nur zwischen Personen bestehen kann. Man kann zwar versuchen, den Staat als blosse Sammlung seiner menschlichen Vertreter aufzufassen. Andererseits weist bereits der Begriff “Vertreter” auf ein alternatives Verständnis des Staates hin, gemäss dem der Staat aus dem Gesetz (sowie den durch das Gesetz eingesetzten Institutionen) selbst besteht und und seine Bediensteten dieses lediglich durchsetzen und interpretieren. (L’état, c’est le loi!) Jedwede Autorität, die Letztere besitzen, leitet sich somit aus der Autorität des Gesetzes selbst ab. Begriffe wie der des Rechtsstaates oder Aussagen wie die, dass “niemand über dem Gesetz” stehe, weisen ebenfalls in Richtung letzterer Auffassung vom Wesen des Staates. Die Gesetzgebung kommt wiederum dem Volk in Form seiner (gewählten) Vertreter zu. Das gesetzte Recht ist somit Ausdruck des Willens des Volkes als Ganzem und bezieht seine Autorität aus der Autorität der Allgemeinheit über den Einzelnen. (Vergleiche §20 Abs. 2 Grundgesetz: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.”)
Inwiefern lässt sich das soeben umrissene Bild der normativen Bedeutung des Gesetzes auf die Werte übertragen, die unser soziales Miteinander strukturieren? Stellen diese ebenfalls eine Art Ausdruck des allgemeinen Willens der Gemeinschaft gegenüber ihren Mitgliedern dar? Haben soziale Werte Autorität? Wenn ja, worin bestehen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu jener Art der Autorität, welche das Gesetz über diejenigen hat, die in seinen Anwendungsbereich fallen? Ich kann und will diese Fragen hier nicht abschliessend erörtern. Stattdessen werde mich auf die Erwähnung einiger diesbezüglich hoffentlich sachdienlicher Hinweise beschränken.
Zunächst stellt sich die Frage, was genau wir meinen, wenn wir behaupten, jemand oder etwas habe Autorität über diese oder jene Person(en). Ein naheliegender Gedanke ist der, dass die Befehle oder Anweisungen eines Autoritätsinhabers eine gewisse Form der Endgültigkeit für ihre Empfänger besitzen beziehungsweise besitzen sollten. Befehle qua Befehle stellen ihren Adressaten die eigene Befolgung nicht frei, sondern haben den Anspruch, deren Willen unmittelbar zu bestimmen. Gilt dies auch für unsere Werte? Kommt Letzteren ebenfalls eine Art Endgültigkeitsanspruch zu? Wenn ja, inwiefern ähnelt beziehungsweise unterscheidet sich dieser in seinem Wesen von dem des Rechts?
Vielleicht können wir uns diesen Fragen über eine Betrachtung der Art der Willensbestimmung, die dem Recht innewohnt, nähern. Beim Recht nimmt diese die Form äusseren Zwangs an, welcher sich bei Zuwiderhandlungen in Sanktionen wie Bussgeld oder Freiheitsentzug übersetzt. Die äussere Form der Willensbestimmung beim Recht hängt wiederum zusammen mit der äusseren Natur dessen, worüber das Recht Verfügungsgewalt beansprucht. Das Recht fordert im Allgemeinen bestimmte Handlungen, nicht aber besondere Handlungsmotive. Eine Person, die nur aus Furcht vor Strafe ihre Steuern begleicht oder das Eigentum anderer respektiert, gilt vor dem Gesetz als nicht weniger unbescholten als jemand, der dieselben Dinge aus ethischen Beweggründen tut.
Wo liegen hier die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede zu sozialen Werten? Einerseits gibt es durchaus so etwas wie sozialen Zwang in der Durchsetzung gesellschaftlicher Wertvorstellungen, wiederum verbunden mit bestimmten Formen der Sanktionierung bei Missachtung des allgemeinen Wertekanons wie beispielsweise Empörung oder sozialer Ächtung. Andererseits scheint im Unterschied zum Recht die Motivation des Handelnden bei Werten hingegen von wesenhafter Bedeutung zu sein. Dies kann man unter anderem daraus ersehen, dass es möglich ist, die Achtung eines Wertes in seinem äusseren Verhalten bloss vorzutäuschen. Hingegen gibt es keinen entsprechenden Unterschied zwischen “echter” und “vorgetäuschter” Begleichung der eigenen Steuerschuld oder Beachtung der Strassenverkehrsordnung. Dies legt nahe, dass die Autorität sozialer Werte anders geartet sein muss als die des Gesetzes.
Der Gedanke, der Staat habe Autorität über seine Bürger, ist in der politischen Philosophie nicht unumstritten. Anhänger der Position des philosophischen Anarchismus halten zumindest alle real existierenden – wenn nicht gar alle denkbaren – Staaten für illegitim. Die anarchistische Position nimmt üblicherweise Bezug auf die soeben besprochene Zwangsform staatlicher Autorität. Zwang auf Menschen auszuüben – so das Argument – sei intrinisch verwerflich, wie gut der Zweck dieses Zwangs auch sein mag. Andererseits könnte man argumentieren, dass gerade die äussere Form staatlicher Autorität Raum für eine bestimmte Form der Freiheit schafft, welchen die Verpflichtung auf gemeinsame Werte aufgrund des Verinnerlichungsanspruchs, der dem Begriff der Werte beiwohnt, wiederum zwangsläufig verweigert. Womöglich liegt die Wahrheit aber (auch hier) in der Synthese, und gesellschaftliches Miteinander erfordert das angemesse Zusammenspiel von Gesetz und Wertesystem. Was genau heisst jedoch “angemessen”?