Mit dem Heimatbegriff gehen unterschiedlichste Assoziationen, Intentionen und Irritationen einher (vgl. ausführlicher Daum 2015). Von den unzähligen Versuchen einer Heimatdefinition, oft verbunden mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit einer ebensolchen, favorisiere ich die vier Dimensionen des Philosophen Rainer Piepmeier (1990), und zwar wegen ihrer gedanklichen Spannweite und bis heute ergiebigen Diskursrelevanz:
1. Heimat ist erlebter, gelebter Raum, der von Menschen gestaltet wurde und wird.
2. Heimat ist erlebte und gelebte Zeit. Heimat ist so und vor allem Erinnerung; aber sie kann nicht darin aufgehen. Sie ist auch Zeit in der Dimension der Gegenwart und Zukunft.
3. Heimat ist der Ort der Arbeit und des Handelns.
4. Heimat ist personale Kommunikation, ist Sichkennen, Freundschaft und Liebe; ist institutionelle Kommunikation. Was ‚Heimat’ ist und sein soll, wird in kommunikativen Verständigungs- und Selbstverständigungsprozessen festgelegt.
Leicht lässt sich Konsens darüber erzielen, dass Heimat dort ist, wo man geboren wurde bzw. wo man heute lebt. Heimat als individueller und höchst subjektiver Erfahrungs- und Geborgenheitsraum mag ein Ort oder eine Region oder beides sein. Derlei Festlegungen können fatale Folgen haben, wenn Heimat als Besitztum materialisiert, bedeutungsschwer aufgeladen und sogar blutreich umkämpft wird, wofür es leider zahlreiche Beispiele in der Geschichte und bis heute gibt. Allerdings zeigt sich in der Abfolge der genannten Dimensionen ein gewandeltes Raumverständnis, das über physisch-materielle Raumqualitäten weit hinausweist. Dies hat wirkmächtige Konsequenzen für den Heimatbegriff, der nunmehr zu einer lebenswelt- und alltagstauglichen Größe wird.
Beim „erlebten“ bzw. „gelebten“ Raum handelt es sich um eine Kategorie der Sinneswahrnehmung. Es wird danach gefragt, wie physisch-materielle Räume von Individuen, Gruppen oder Institutionen unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Heimat kann aus solchem Blickwinkel in Form einer imaginierten Welt erheblich an folgenreichen Konturen gewinnen. Das Image eines Raumes bestimmt seinen Wert, nicht unbedingt seine „objektiv“ messbaren Qualitäten.
Weiterhin wird an den Dimensionen deutlich, dass Räume „gemacht“ werden und damit Artefakte von gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen sind. Jetzt wird danach gefragt, wie raumbezogene Begriffe als Elemente von persönlichen Beziehungen, alltäglicher Handlung und Kommunikation auftreten. Indem Heimat als Resultat gesellschaftlicher Kommunikations- und Konstruktionsprozesse aufgefasst wird, zeigt sich eine Abkehr von ontologisierenden Zugriffen wie Stadt, Region, Quartier und eine Hinwendung zu sozialen Praxen wie Regionalisierung, Globalisierung oder Urbanisierung, d.h. Praxen, die Sozialwelt – also auch Heimat – allererst hervorbringen.
Heimat wird vom Individuum selbst produziert bzw. erarbeitet. Heimat ist am wenigsten Orts- oder Raumbestimmung, sie steht vielmehr zu allererst für eine immaterielle Welt, die sich aus Entscheidungssituationen, Wertrelationen und Kommunikation konstituiert. Heimat entsteht z.B. dort, wo Kinder und Jugendliche Verhaltenssicherheit erfahren, und zwar mit den Dingen, Verhältnissen und Personen. Hieraus erwachsen Vertrautheit und Überschaubarkeit, jedoch nicht im Sinne einer statischen, affirmativen Ordnung. Involviert ist vielmehr eine soziale wie politische Kompetenz, nämlich die Dinge, Verhältnisse und Personen handelnd zu beeinflussen und umzugestalten sowie sich selbst als Subjekt darin wiederzuerkennen. Heimat beinhaltet nicht Raum „an sich“, sondern immer eine instrumentale, politisch-strategische und soziokulturelle Gestaltung des Raumes. Heimat repräsentiert in ihrer Symbolträchtigkeit die Vertrautheit, die Nähe und die Verlässlichkeit von den Beziehungen zwischen Personen und den Umgang mit den Dingen. Es geht um das gute Zusammenleben mit anderen, um die Kultivierung von Beziehungen in Familien, Freundschaften und nachbarschaftlich-sozialen Netzwerken. Eine solche sozial-räumliche Praxis nenne ich Heimatmachen. Ähnliches meint wohl der in Mode gekommene Begriff „Beheimatung“, der mir konnotativ aber kaum handlungsaktiv, dafür eher passiv, gar auch instrumentalisierend erscheint.
Heimat in der globalisierten Welt?
Globalisierung meint Prozesse beschleunigt zunehmender internationaler Verflechtung, und zwar nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern in allen Lebensbereichen jedes einzelnen Menschen. Was wir essen und trinken, wie wir uns kleiden, welche Musik wir hören, wohin wir reisen und wie wir kommunizieren, nimmt mehr und mehr globale Dimensionen an.
Trotz globalisierter oder durch das Internet extrem beeinflusster Lebensbedingungen jedoch verbringen alle Menschen körperlich ihr Alltagsleben in einem lokalen Kontext. Überall auf der Welt zu Hause zu sein, bedeutet nirgendwo wirklich zu Hause zu sein. Je größer der Bezugsraum, desto schwieriger scheint Identifikation zu gelingen. Die Rede von einem europäischen Bewusstsein geht besonders in Sonntagsreden leicht über die Lippen, zieht im Alltag aber kaum praktische, sozial erfahrbare Konsequenzen nach sich. Heimat-Ethnologen erheben die Angewiesenheit auf einen überschaubaren sozio-kulturell gegliederten Raum, der Verhaltenssicherheit, Aktion und Identifikation gewährt, zu einem anthropologischen Grundbedürfnis. Nach Peter Sloterdijk (1999) ist ein „heimatlich definierter Mensch“ eine feste Verbindung von Ort und Selbst eingegangen.
In demselben Maße, wie die Verbindung von Ort und Selbst postuliert wird, müssen heutzutage unvermeidlich auch raumbezogene Verluste und Irritationen zur Sprache kommen. Beim Vergleichen von früheren mit heutigen Raumkonstellationen fällt auf: Meist ist weit mehr verschwunden als eine romantische oder idyllische Kulisse, die Anlass zu wehmütigem und nostalgischem Schwelgen bieten mag. Es hat sich verlustreicher Enteignungsprozess fortgesetzt, der das Leben heute – insbesondere das von Kindern und Jugendlichen – substantiell betrifft. Tagtäglich gehen immer mehr Spiel- und Erlebnisräume verloren, Orte mit Anmutungsqualitäten für alle Sinne und die Phantasie. Umgekehrt bedeutet das „Machen“ von Heimat, dort wo dies gesellschaftlich praktiziert werden kann, wohltuende Vergewisserung von Selbst und Raum im Sinne der Zugehörigkeit. Heimat ist Medium der (Selbst-)Vergewisserung.
Zum Raum, der dem Individuum oft sowohl diffus als auch unveränderlich vorkommt und Ohnmachtsgefühle erzeugen kann, entwickelt sich durch Heimatmachen ein persönliches, beeinflussbares Verhältnis. Persönliche, subjektiv erworbene Beziehungen zum Raum lassen sich sichtbar machen, z.B. in Form von Karten. Im Alltag werden einerseits professionelle, amtlich „exakte“ Karten, z. B. Straßenkarten, eingesetzt, andererseits sind spontan von Hand gezeichnete kartographische Skizzen ebenso in Umlauf. Eine handgemachte Kartenskizze mag ungelenk und improvisiert wirken, sie weist gegenüber einer professionellen Karte jedoch ein hohes Kreativ- bzw. Deutungspotenzial auf, und zwar als Medium einer subjektiven Vermessung der Welt (vgl. Daum 2010). Heimatmachen durch subjektives Kartographieren heißt, sich den Raum anzueignen. Am Ende entsteht ein differenziertes Bild des Lebensraumes, das dabei hilft, sich mit ihm zu identifizieren, sich besser darin zu orientieren, sich wohlzufühlen oder auch Unbehagen zu artikulieren, eventuell Missstände aufzudecken und gemeinsam nach Problemlösungen zu suchen.
Vor diesem Hintergrund kann sich Heimat in der Weise konstituieren, dass in ihr unterschiedliche Visionen der Menschen von einer gemeinsam gestalteten Zukunft zusammenkommen und sich durch gesellschaftliche Praxis realisieren lassen. Eine so verstandene Kulturarbeit schafft neuartige soziale Beziehungen, erweitert dabei die Handlungsmöglichkeiten der Menschen, macht ihnen die eigenen kreativen Fähigkeiten bewusst und legt Spuren für das kollektive Gedächtnis, auch von Heimat.
Literatur
Daum, Egbert (2010): Heimatmachen durch subjektives Kartographieren. Kinder entwerfen Bilder ihrer Welt und setzen sich damit auseinander. In: Grundschulunterricht Sachunterricht, 57, Heft 2, S. 17-21. Webseite: http://methodenpool.uni-koeln.de/download/daum_karto.pdf
Daum, Egbert (2015): Heimat als Ort? Heimat als Raum? Subjektive Sinnsuche und Weltkonstruktion aus geographischer Perspektive. In: Theologie und Glaube, 105, Heft 2, S. 22-138
Piepmeier, Reiner (1990): Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs. In: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bielefeld, S. 91-108
Sloterdijk, Peter (1999): Der gesprengte Behälter. Notiz über die Krise des Heimatbegriffs in der globalisierten Welt. In: Spiegel Spezial, Nummer 6, S. 24-29