Die Verantwortung der Wissenschaft

Unsere Gesellschaft sieht sich zahlreichen komplexen globalen Problemen gegenüber: Von Klimawandel über cyber security bis hin zu Antibiotikaresistenzen und Bienensterben.

    All diese Probleme sind unbeabsichtigte Folgen früherer wissenschaftlicher Entwicklungen. Die Tatsache, dass die Anwendung neuer Technologien nicht selten mit unbeabsichtigten negativen Konsequenzen einhergeht, wirft eine interessante philosophische Frage auf: Inwieweit sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler moralisch verantwortlich für die unbeabsichtigten gesellschaftlichen Folgen ihrer Entdeckungen?

    Auf diese Frage sind zwei gegenläufige Antworten möglich. Die erste Antwort entbindet die Forschenden von jeglicher moralischer Verantwortung für die unbeabsichtigten Konsequenzen ihrer Entdeckungen. In dieser Perspektive besteht die einzige Aufgabe der Wissenschaft darin, robustes Wissen zu produzieren und dieses in nützliche Anwendungen umzusetzen. Demnach sind Wissenschaftlerinnen ausschliesslich der Wahrheitsfindung und Objektivität verpflichtet. Dafür zu sorgen, dass neue Technologien nachhaltig genutzt werden, fällt in die Verantwortung der politischen Entscheidungsträger und letzten Endes der Gesellschaft als Ganzes. Die einzige spezielle Verpflichtung der Wissenschaftler besteht darin, die methodischen Regeln ihres Faches einzuhalten, Daten nicht zu fälschen und die Ergebnisse ihrer Forschung ehrlich zu kommunizieren. Den Forschenden eine weitergehende moralische Verantwortung zu übertragen, würde sie zu sehr in ihrer Forschungsfreiheit einschränken und damit den wissenschaftlichen Fortschritt behindern. Die erste Antwort setzt also die Freiheit der Wissenschaft an oberste Stelle.

    Die zweite Antwort auf die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft geht von dem Grundsatz aus, dass erwachsene Personen auch für die unbeabsichtigten Folgen ihres Tuns moralisch verantwortlich sind. Ein Familienvater, der seine geladene Armeewaffe daheim herumliegen lässt, wäre sowohl legal als auch moralisch zur Verantwortung zu ziehen, wenn seine Kinder mit dieser Waffe einen Unfug anstellen. Wer vorhersehbare negative Konsequenzen seiner Handlungen in Kauf nimmt, agiert fahrlässig und rücksichtslos. Fahrlässiges und rücksichtsloses Handeln ist grundsätzlich moralisch verurteilenswert und nur unter ganz bestimmten Umständen zu entschuldigen. Dieser Grundsatz gilt auch für Wissenschaftler. Auch sie tragen eine moralische Verantwortung für die negativen Folgen ihrer Handlungen insofern diese vorhersehbar waren.

    Bei der Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft spielt also die prinzipielle Vorhersehbarkeit möglicher Konsequenzen eine zentrale Rolle. Es ist jedoch alles andere als einfach, die potentiellen Folgen einer wissenschaftlicheren Entdeckung im Voraus abzusehen. Allerdings ist es nicht unmöglich. Ein Blick auf die Geschichte der Wissenschaft zeigt nämlich, dass in zahlreichen Fällen vergangener Entdeckungen, deren negative Folgen wir heute beobachten, diese sehr wohl vorhersehbar waren. Im Falle der Antibiotikaresistenzen hat einer der beteiligten Forscher, Sir Alexander Flemming, bereits 1945 in seiner Nobelpreis-Rede auf die Risiken eines unbedachten Einsatzes von Antibiotika hingewiesen. Auch der mögliche Einfluss eines übermässigen CO2-Ausstosses auf das Klima war, wenn auch nicht im Detail, so doch in den Grundzügen schon sehr früh bekannt.

    Dasselbe gilt auch für gegenwärtige wissenschaftliche Entwicklungen. Auch die möglichen negativen Folgen vieler Technologien, die derzeit noch erforscht werden, lassen sich bereits jetzt voraussehen. Die zentrale Frage lautet also nicht so sehr, ob wissenschaftliche Forschung und technologischer Fortschritt spezifische Verantwortlichkeiten im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Folgen generieren, sondern vielmehr, wer die Träger dieser Verantwortlichkeiten sein sollen. Die erste Antwort überträgt die Verantwortung für die negativen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts der ganzen Gesellschaft, während die zweite Antwort die Verantwortung speziell bei denjenigen Individuen verortet, deren wissenschaftliche Tätigkeit neues Wissen und neue Technologien hervorbringt. Die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft entpuppt sich also in erster Line als eine Frage nach der institutionellen Implementierung eines bestimmten Typs von Verantwortlichkeit.

    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf eine spezifische Beschränkung hinzuweisen, die dem Wesen der modernen Wissenschaft, und insbesondere den empirischen Wissenschaften, innewohnt. Empirische Forschung bringt ausschliesslich Tatsachenwissen hervor. Aufgrund ihrer methodologischen Beschränktheit sind die empirischen Disziplinen nicht in der Lage, Wertaussagen zu produzieren. Die empirische Methode ist insbesondere nicht dazu geeignet, Aussagen darüber zu tätigen, wie das Wissen, welches mit Hilfe dieser Methode generiert wurde, auf eine sinnvolle und verantwortungsbewusste Weise angewendet werden sollte. Wer also den Forschenden in den Natur- und Technikwissenschaften eine Verantwortung für mögliche negative Folgen ihrer Entdeckungen übertragen möchte, sollte anerkennen, dass damit die Forderung einhergeht, die strikten methodologischen Grenzen ihrer Disziplinen zu überschreiten, denn die Auseinandersetzung mit Wertzusammenhängen und normativen Fragestellungen fällt traditionell in den Aufgabenbereich der nicht-empirischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Forderung nach einer moralisch verantwortlichen Wissenschaft setzt also voraus, dass wir uns ganz grundsätzlich Gedanken darüber machen müssen, wie wir unsere wissenschaftlichen Institutionen und das Verhältnis zwischen den empirischen und nicht-empirischen Disziplinen organisieren, wie wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausbilden und welche Rolle die Wissenschaft in der Gesellschaft spielen soll. In Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, ist Klarheit im Hinblick auf diese Fragen mehr als wünschenswert.



    Literaturhinweise

    • European Environment Agency. (2013). Late lessons from early warnings: science, precaution, innovation. Luxembourg: Publications Office of the European Union.
    • Fleming, Sir Alexander. (1945). Nobel Lecture: Penicillin. In Nobel lectures, physiology or medicine 1942-1962. Amsterdam: Elsevier Publishing Company, 1964. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1945/fleming-lecture.html
    • Douglas, Heather. (2009). Science, policy, and the value-free ideal. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.
    • Reydon, Thomas. (2013). Wissenschaftsethik: eine Einführung. Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer.

     

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