Vom (Mit-)Teilen von Emotionen

"Das Gemeinsame der Emotionen wirkt auf uns wie ein Verstärker – neue Emotionen werden evoziert, bestehende verstärkt. Manche Emotionen wie Euphorie, Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühle setzen ihr Geteiltsein voraus."

    Wenn es um Emotionen geht, ist unser Alltag typischerweise von zwei, einander widersprechenden Einsichten geprägt: zum einen erfahren wir, wie leicht Emotionen anstecken können, wie Euphorie und Freude, aber auch Angst und Furcht kollektiv geteilt werden. Im Fußballstadion, im Konzert, auf Demonstrationen, an der Bushaltestelle, wenn der Bus verspätet ist, erleben wir, wie Emotionen gemeinsam hergestellt und gemeinsam erfahren werden. Wir schauen einander an und sehen, was wir fühlen – im Gesicht der anderen, in ihren Körperhaltungen, in ihren Gesten und wir spüren die Atmosphäre von Ort und Moment. Dabei lösen andere, ihre Gestik, Mimik, ihre sprachliche Artikulation, nicht nur Emotionen in uns aus, wir fühlen uns solidarisch verbunden oder fühlen sogar mit. Das Gemeinsame der Emotionen wirkt auf uns wie ein Verstärker – neue Emotionen werden evoziert, bestehende verstärkt. Manche Emotionen wie Euphorie, Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühle setzen ihr Geteiltsein voraus.

     

    Dieser Alltagseinsicht in die Möglichkeit des sozialen (Mit-)Teilens des innerlichen Erlebens von Emotionen stehen Erfahrungen von kommunikativen Grenzen gegenüber, wenn es darum geht, emotionales Erleben wie Schmerz, Trauer, aber auch Liebe und Glück anderen vermitteln oder mitteilen zu wollen. Wir verzweifeln schier daran, dass wir nicht genügend Ausdrucksmittel zur Hand haben, um der Liebsten unsere Gefühle zu offenbaren oder daran, dass wir dem Arzt nicht hinreichend präzise beschreiben können, wie sich der Schmerz in unserem ‚Inneren’ anfühlt. Der Andere wird in seinem Anderssein (schmerzlich) bewusst und die Kommunikation des emotionalen Erlebens transformiert dieses bereits in etwas anderes (oder wie Fuchs (1994: 100) feststellt: „Das Bewusstsein liebt, hasst, ekelt sich, fürchtet sich - nicht“.) Oft wird von uns sogar verlangt, dass wir inneres, emotionales Erleben eben nicht teilen – und es statt dessen für uns behalten. In professionellen Kontexten sind wir beispielsweise aufgefordert, unsere Emotionen nicht nach außen zu tragen und im wahrsten Sinne des Wortes face-work zu betreiben. Manchmal wir beharren sogar auf dem Recht der Einzigartigkeit unserer Gefühle und darauf, Experten unserer Emotionen zu sein und am besten zu wissen, wie wir uns gerade fühlen.

     

    Diese beiden einander scheinbar wiedersprechenden Alltagseinsichten geben Anlass dazu, nach Erklärungen für eine unstete Beziehung von innerlich-individuellem Erleben und äußerlich-sozialem Mit-Teilen zu suchen, die letztes ersterem vorausgehen, beides unabhängig von einander passieren oder in eins fallen lassen kann. Dass Erleben und Mit-Teilen überhaupt getrennt werden, lässt sich mit dem Auseinanderfallen von individueller, als innerlich geltender Erfahrung und ihrer sozialen, als äußerlich vermittelten und vermittelbaren Interpretation und Kommunikation zusammenbringen: Fiele beides in eins, existierte entweder kein sprachlicher – und damit sozialer - Sinn des individuellen Erlebens. Damit wäre allein das Geteilte, nicht aber das individuell Erlebte sinnhaft existent; das Erleben ergäbe also keinen Sinn und es würde allein über, nicht aber vom Erlebten gesprochen werden können. Oder es gäbe allein das innerliche Erleben, welches dann aber kommunikativ nicht zu fassen wäre und somit nur ideosykratisch existierte und allein für das Subjekt einen Sinn machen könnte. (Dies erscheint jedoch angesichts der Sozialität von Sprache und ihrer performativen Macht als unwahrscheinliche Alternative). Das Verhältnis von emotionalem, innerlichen Erleben und seinem sozial vermittelten Ausdruck scheint jedoch komplexer: Wir können kommunikativ (v)ermitteln, was nicht kommunikativ vermittelbar ist und machen innerliches Erleben damit – nicht nur äußerlich – sinnhaft.

     

    Ein Blick in die – soziologisch rekonstruierte - Geschichte zeigt, dass das Auseinanderfallen von individuellem Erleben und dessen sozialer Vermittlung als neuzeitliche Entwicklung anzusehen ist. Diese umfasst zwei grundlegende Wissensbestandteile: neben der Idee des Individuums als eigenständigem Wesen mit Rechten, Pflichten und eben einem individuellen Erleben, die Idee der Trennung der äußerlichen Welt und ihrer innerlichen, einzigartig-individuellen Wahrnehmung. Beide Ideen gehören zum Bestand der aufklärerischen Kosmologie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, die sich mit den folgenden vier Masternarrativen der Moderne beschreiben lässt: Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung.

     

    (i) Differenzierung meint, allgemein gesprochen, Entstehung von neuen, spezialisierten Positionen, Rollen, Funktionssystemen zur Erfüllung von gesellschaftlichen und sozialen Funktionen wie Erziehung, Landesverteidigung oder Krankenversorgung (Schimank und Volkmann 1999). Damit einher geht auch eine zunehmende Differenzierung in professionelle und private Rollen, in denen der Umgang mit emotionalem Erleben je unterschiedlich stark normiert, standardisiert und geregelt ist und je unterschiedliche emotional work erfordert, die im professionellen (zunehmend kapitalistischen) Kontext zu emotinal labor und mit zunehmender emotionaler Entfremdung einher geht (Hochschild 1979 und 2003).

     

    (ii) Rationalisierung wiederum betrifft die zunehmende Dominanz von universell gültigen Regeln in immer mehr Lebensbereichen. Die Trennung von Ratio und Emotionalität als Modi der Welterfassung ergreift immer mehr Lebensbereiche; der gesellschaftliche Primat der Ratio über der Emotionalität beginnt, alle Arten von sozialen Beziehungen zu durchziehen. Traditionen, aber eben auch Affekte und Emotionen treten in den Hintergrund (dies, in etwa, meint Habermas mit dem Konzept der „Kolonialisierung der Lebenswelt“; Habermas 1981). Rationalisierung geht auch mit der „Entzauberung der Welt“ durch die Dominanz rationaler, vernunftbetonter, auf Kausalgesetze abzielende Erklärungen natürlicher und transzendentaler Phänomene einher (Weber 1976 [1921] und 2006 [1922]). Damit basieren sozial primär erwartete Weltzugänge eben nicht (mehr) auf Spiritualität, Sinnlichkeit oder dem, was ab sofort Aberglaube genannt wird.

     

    (iii) Individualisierung beschreibt die „Entdeckung des Individuums“ als eigenständigem Subjekt (van Dülmen 1997), welche sich in der transnationale Etablierung der Menschenrechte seit den 1940er Jahren (z.B. Eckel 2014), aber auch in der Freisetzung des Individuums von Gruppenkontexten (Beck 1996) widerspiegelt. Damit wird ideengeschichtlich eine Trennung in eine Innen- und Außenwelt als kulturelle Konfiguration von Welterfassung und die Verlagerung von Deutungs- und Sinngebungsprozessen in die Innenwelt des Individuums verbunden. Die Welt wird dem Individuum quasi „einverleibt“. Emotionales Erfahren wird zum wichtigsten Modus der innerlichen Welterfassung, ihre permanente Bearbeitung zum Identitätsprojekt des Selbst (McCarthy 2002), während Rationalität den Außenverhältnissen und den Motivzuschreibungen an andere vorbehalten wird.

     

    (iv) Domestizierung wiederum lässt sich in Anlehnung an Elias (1989) als Prozess der Internalisierung von Affekten und der Ersetzung von Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle in Folge der Verlängerung von Interdependenzketten begreifen, mit dem die Ausdifferenzierung von Gefühlsregeln, aber auch zum Konkurrenzkampf zwischen Statusgruppen einhergeht.

     

    Empirische Evidenzen für die gesellschaftliche Internalisierung von des emotionalen Erlebens in der aktuellen Moderne lassen sich leicht finden: Trauer und Schmerz erleben wir in der Moderne als nicht kommunizierbar und verbinden dieses Erfahren mit dem Recht auf Innerlichkeit, Individualität und Einmaligkeit (z.B.: Winkel 2008). Identitätsprojekte und die soziale Verpflichtung zu emotionalem Selbstmanagement und kontinuierlichem self-enhancement spiegeln sich nicht nur in zunehmender Professionalisierung im Umgang mit Emotionen im öffentlichen und privaten Raum, sondern auch in einer zunehmenden Psychologisierung des Alltags, in einer wachsenden Anzahl an Ratgebern und emotionaler Coaching- und Therapie-Programmen (z.B. Furedi 2001, Neckel 2005 oder Schnabel, Bengs und Wicklund 2012). Diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass sie Emotionen und ihr Management mit Identität und damit an Individualität koppeln und dem Individuum die Verantwortung für seine Emotionen und (vor allem) ihren situativ angemessenen Ausdruck aufbürden. Dies wird nicht nur durch entsprechende feeling rules (Hochschild 1979) geregelt und normiert, sondern auch durch ein Dispositiv aus professionellen Hilfsangeboten und der raum-zeitlichen Trennung von professionellen und privaten Kontexten und der Zurverfügungstellung von kulturell zum Ausleben von Emotionen vorgesehenen Orten und Zeiten abgestützt.

     

    Damit diese Wirklichkeit für uns wirklich werden kann, setzen die unsteten Beziehungen von innerlichem Erleben und äußerlichem Mit-Teilen besondere Wissenselemente voraus, die sich als durch gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen bedingt lesen lassen. Sie erheben sozial Gültigkeit über den Einzelnen hinaus, werden aber immer individuell realisiert. Zu diesen Wissensbeständen lassen sich die Differenzierungen in Selbst-Andere (z.B. Tomasello und Rakoczky 2009) und die (in der Philosophie des 5. Jhd v. Chr. angelegten) Unterscheidung in „Innenwelt zur Selbstbeherrschung“ und „Außenwelt zur Weltbeherrschung“ (Schmitz 2014:14) zählen. Jenseits dieser selten aktualisierten kulturellen Grundelemente des Wissens – so könnte man mit Schütz (Luckmann und Schütz 2003) sagen - wissen wir aber auch sehr konkret, welches unmittelbar körperliche Fühlen typischerweise mit welcher Bedeutung verbunden ist – also wie zu benennen, bewerten und kommunizieren ist und welches Fühlen privat oder sozial relevant ist: Emotionen sind eben nicht allein körperliche Reaktionen; wir sind vielmehr im Alltag kognitiv und vor-kognitiv sehr gut vertraut mit feeling rules, die uns anleiten, was wir in welcher Situation wie intensiv und wie lange fühlen und anderen kommunizieren sollen. Diesen feeling rules vermögen wir unseren emotionalen Ausdruck, aber auch unser Fühlen durch emotion work anzupassen. Wissenssoziologisch könnte man also sagen, dass wir über typisches Wissen über die Bedeutung, die Situationsadäquanz, soziale Relevanz und die sozialen Regeln unseres emotionalen Fühlens verfügen – und damit über das situativ angemessene Auseinander- oder Zusammenfallen von individuellem Erleben und dessen sozialer Vermittlung. Dieses Wissen muss weder explizit noch kognitiv verankert sein - oft wissen wir, was wir fühlen, fühlen sollen und wie sozial bedeutungsvoll dieses Fühlen ist, ohne dass wir dieses Wissen zu explizieren vermöchten.

     

    Die unstete Beziehung zwischen innerlichem emotionalen Erleben und äußerlichem Kommunizieren besteht also im Spannungsverhältnis zwischen in einem besonderen historischen Zeitraum sich entwickelnden sozialen Wissen und dessen aktueller, als ongoing accomplishment (Garfinkel 1967) sich vollziehender individueller Realisierung: In der angemessenen, eigenverantwortlichen Bearbeitung der sozialen Anforderung an das Zusammen- oder Auseinanderfallen, in das gleichzeitige oder zeitversetzte Evozieren unseres emotionalem Erleben und des dazu gehörigen, situativ angepassten Kommunizierens erweisen wir uns als kompetente, soziale Mitglieder moderner Gesellschaften und fühlen uns doch gleichzeitig individuell besonders: Dabei werden wir entlang sozial fabrizierter und oft auch materiell abgesicherter feeing rules aufgefordert, etwas mitzuteilen, das gesellschaftlich-historisch als etwas individuell-innerliches (re-)produziert ist und als nicht mitteilbar gilt. In diesem Sinne sind unsere Alltagseinsichten alles andere als selbstredend, sondern historisch und sozial ausgesprochen voraussetzungsvoll.

     

     

    Zitierte Literatur:

    Beck, U. (1996): Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

     

    Eckel, J. (2014): Die Ambivalenz des Guten: Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

     

    Fuchs, P. (1994): Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? Soziale Systeme, 10: 89-110.

     

    Furedi, F. (2002): The Silent Ascendency Of Therapeutic Culture in Britain. Society, 39: 16-24.

     

    Garfinkel, H. (1967): Studies in Ethnomethodology. Cambridge, Oxford: Blackwell Publisher.

     

    Habermas, J. (1981): Theorien kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

     

    Hochschild, A. R. (1979): Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure. American Journal of Sociology, 85: 512-575.

     

    Hochschild, A. R. (2003): The Managed Heart. Berkley: University of California Press.

     

    Luckmann, T. und A. Schütz (2003): Strukturen der Lebenswelt. Stuttgart: UTB.

     

    McCarthy, E. D. (2002): The Emotions: Senses of the Modern Self. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 27: 30-49.

     

    Neckel, S. (2005): Emotion by Design. Journal für Soziologie, 15: 419-430.

     

    Schimank, U und U. Volkmann (1999): Gesellschaftliche Differenzierung. Bielefeld: Transkript.

     

    Schmitz, H. (2014): Atmosphären. Freiburg und München: Verlag Karl Alber.

     

    Schnabel, A., C. Bengs und M. Wiklund (2012): Moderità, stress e ricerca dell’autogestione emotive (Modernity, Stress, and the Quest for Emotional self-Management). Salute e Società, Special Issue: ”The Medicine of Emotions and Cognitions”, 11, Supplemento 2/2012, S. 74-91.

     

    Tomasello, M. und H. Rakoczky (2009): Was macht menschliche Erkenntnis einzigartig? In: Schmid, H.B. und D. Schweikard (Hg.): Kollektive Intentionalität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 697-738.

     

    Van Dülmen, R. (1997): Die Entdeckung des Individuums, 1500-1800. Frankfurt a.M.: Fischer.

     

    Weber, M. (1976 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.


     

    Weber, M. (2006 [1922]): Wissenschaft als Beruf. Stuttgart: Reclam.

     

    Winkel, H. (2006): Soziale Grenzen und Möglichkeiten der Kommunizierung von Trauer. In: R. Schützeichel (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Frankfurt am Main/ New York: Campus, S. 286-304.