Konflikte treten nicht nur dort auf, wo sich Menschen hauptsächlich von ihren Leidenschaften treiben lassen. Sie sind nicht das Privileg der Dummen. Konflikte treten auch im akademischen Leben auf, unter Menschen, die von sich glauben, besonders vernünftig und selbstkontrolliert zu sein.
Konflikte lassen sich teilweise erklären aus Verletzungen des Selbstwertgefühls. Unter Professorinnen und Professoren entstehen und verschärfen sich Konflikte, wenn Meinungsverschiedenheiten auf das Selbstwertgefühl zurückfallen.
Eigentlich haben wir an der Universität gelernt, sachliche Gründe von persönlichen Invektiven zu unterscheiden. Doch die Kritik einer Kollegin und eines Kollegen aus dem eigenen Seminar tut immer ein bisschen mehr weh als die Kritik von Fremden.
Man steht sich zu nahe, kommt sich zu nahe, auch wenn man sich nicht so oft sieht wie Angestellte in Großbüros. Zwischen Kollegen herrscht eine Atmosphäre des Wettbewerbs, auch wenn sie es nicht wollen und nicht zugeben.
Der Kollegen wird zum natürlichen „Fressfeind“. Die meisten Akademiker haben ein positives Selbstbild, einige sogar ein übersteigert positives Selbstbild von sich und ihrem engeren Team als vernünftige Personen.
Sie glauben, mit ihren nachweisbaren hohen kognitiven Fähigkeiten auch Konflikte wie ein Kinderspiel verstehen und beenden zu können. Doch sie schaffen es nicht. Warum?
Ich gebe einige Beispiele von Urteilen über den anderen Kollegen:
„Er verhält sich territorial. Er hat Angst um seine Machtposition. Er glaubt, andere wollten seinen Einfluss zurückdrängen. Er macht Intrigen. Er wittert bei anderen Intrigen. Er verhält sich wie ein Tier, wie ein Kind usw. Man kann mit ihm nicht mehr ruhig und sachlich reden. Er hört sich sachliche Gründe gar nicht mehr an. Er hat gar keine Gründe für seine Entscheidungen. Er spricht schlecht über seine Kollegen, vergiftet das Klima der Abteilung, zieht die Mitarbeiter in den Konflikt hinein. Es bräuchte eine Mediation von außen. Doch das lehnt er wahrscheinlich ab. Ich glaube nicht, dass eine Aussprache noch viel bringen wird. Ich werde nochmals eine lange E-Mail schreiben und darin meine Meinung möglichst sachlich begründen. Ich werde nochmals vorführen, was gute Gründe sind, wie man diskutieren müsste.“
Diese Aussagen eines Kollegen gegenüber einem Dritten, der nicht direkt am Konflikt beteiligt ist, lassen sich auf zwei Ebenen verstehen.
Auf der propositionalen Ebene, d.h. als Aussagen sind sie klar und nachvollziehbar. Sie scheinen den Konflikt zu erklären und könnten auch dazu dienen, den Konflikt zu beheben, wenn sie von allen Seiten beherzigt würden.
Auf der zweiten Ebene, ihrer „Performanz“, sind sie diese Aussagen Bestandteil des Konflikts; sie machen den Angesprochenen zum Zeugen oder Komplizen und schüren und verfestigen den Konflikt. Die Performanz einer Aussage besteht darin, was jemand tut, wenn er spricht.
Er triumphiert über einen Kontrahenten, der sich angeblich untermenschlich verhält, wie ein Tier oder ein Kind. Er triumphiert mit der eigenen überlegenen Kontrolle und Vernunft.
Er steigert sich in die Performanz eines Selbstlobs, eines „special pleading“, das besagt: „Ich ticke anders. Ich ticke nicht so. Ich intrigiere nicht. Mir geht es um die Sache, nicht um die Machtposition. Mein engeres Forschungsteam bleibt seriös und sachlich. Ich verstehe nicht, warum andere nicht so ticken.“
Während er das sagt, tut er das Gegenteil: Er intrigiert, polemisiert, setzt herab, spricht dem anderen/ den anderen den Status eines Vernunftwesens ab, verherrlicht seine Kleingruppe und schreibt an seiner eigenen Statuslegende vom wahren Intellektuellen als der gnostischen Lichtgestalt, die nicht nur Erkenntnis, sondern Erlösung und Versöhnung schenkt. Der Lichtbringer wähnt, über dem Konflikt zu stehen, doch er steht mitten drin. Er strampelt und versinkt im Schlamm.
Auf einer dritten Ebene betrachtet sind die Aussagen begleitet von indirekten verbalen und non-verbalen Signalen. Sie erfüllen die Tonlage der Kollegenschelte.
Die Stimme des Kollegen, der diese Analyse vorträgt, ist drängend, gehetzt, seltsam hoch (gelegentlich mit Kehlkopfstimme), diese fiebrige Stimme soll nicht nur analysieren, sondern Stimmung machen, den unbeteiligten Dritten einweihen und auf seine Seite ziehen und den getadelten Kollegen umstimmen.
Die Mitteilung soll zur Vernunft bekehren. Es geht um eine Konversionszumutung. Zwei berühmte Erzählungen belegen die Diskrepanz von Selbstbild und Realität bei Intellektuellen. Die erste Erzählung ist die Anekdote des Brunnensturzes von Thales, der von einer thrakischen Macht verlacht wird.
Seine astronomische Intelligenz hat ihm nicht geholfen. Während er den höchsten Dingen mit höchster Intelligenz zugewandt ist, fällt er ins dunkle Loch. Seine Superintelligenz macht ihn sogar besonders alltagsuntauglich. Er mag intelligent sein, doch hat er damit oder daneben auch die Alltagsintelligenz zur Lösung und Beilegung von Konflikten?
Die zweite Erzählung ist Platons Höhlengleichnis, das die Menschen in helle Köpfe und Dummköpfe aufteilt. Die Dummen leben in einer Höhle, und es macht ihnen auch nichts aus.
Es sind die zufriedenen Sklaven ihrer Borniertheit. Werden sie ins Tageslicht hinausgeführt, so werden sie geblendet und wollen zurück in die Höhle. Sie lassen sich entweder gar nicht oder nur mit Gewalt ins Licht der Vernunft führen.
Die anderen sind die Lichtgestalten. Davon gibt es sogar unter den Gebildeten nur sehr wenige, weshalb Gebildet gerne über „Halbgebildete“ lachen. Doch einige halten sich für intellektuelle Gipfelstürmer und möchten allen anderen helfen, auch ins Licht der Vernunft zu treten.
Das Höhlengleichnis gehört zum Selbstlob und Weihrauch der Legenden vom Philosophen als Retter der Welt. Rare und wahre Philosophen wollen für alle nur das Beste und wissen es von allem am besten. Und sie feilen an ihrem Selbstbild als selbstloser Helfer.
Das Selbstbild des Topphilosophen als einer vernünftigen Lichtgestalt ist suspekt.
Frage an die Leserschaft
Was bedeutet "richtig streiten"?