Ein Artikel von Journal21.ch

Irrsinn im Gewand der Vernunft

Schaffen Argumente Überzeugungen? Leider ist es häufig genau umgekehrt: Überzeugungen schaffen Argumente. Die Folgen sind höchst problematisch.

    Dieser Artikel stammt von Journal21.ch und wurde von Herr Eduard Kaeser geschrieben. Zum Artikel!

    Wollen Sie beweisen, dass eine x-beliebige Person einen Mord begangen hat? Logisch gesehen, kein Problem. Gehen Sie wie folgt vor. Treten Sie als Ankläger vor Gericht: Hohes Gericht, ich werde zunächst die Gründe darlegen, dass für den Mord nur der Angeklagte, der Papst, der Präsident der USA oder der Trainer von Bayern München als Schuldige in Frage kommen. Danach werde ich Gründe anführen, die über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sind, dass Papst, Präsident und Trainer diesen Mord nicht begangen haben. Woraus ich zwingend schliesse, dass der Angeklagte der Schuldige ist. Quod erat demonstrandum.

    Logik genügt nicht

    Mit diesem logischen Kniff lässt sich jeder beliebigen Behauptung der Anstrich verpassen, sie entspringe einer robusten Beweisführung, einem Syllogismus. Es handelt sich auch tatsächlich um ein gültiges Schlussverfahren:

    1. Nur der Angeklagte, der Papst, der US-Präsident oder der Bayerntrainer können den Mord begangen haben.
    2. Nun haben weder der Papst noch der US-Präsident noch der Bayerntrainer den Mord begangen.
    3. Also ist der Angeklagte des Mordes schuldig.

    Logisch gesehen, genügt es, die drei anderen Verdächtigen auszuschliessen, um den Schluss auf die Schuld des Angeklagten zu rechtfertigen. Dennoch hat man das Gefühl, dass hier keine echte Beweisführung geliefert wird. Tatsächlich muss man gute Gründe für die Prämissen eines Syllogismus anführen, damit er eine gute Unterlage für die Schlussfolgerung abgibt. Und es ist zweifelhaft, dass man wirklich gute Gründe für eine derartige Einengung des Verdächtigenkreises beibringen kann.

    Nun beruhen die Prämissen 1) und 2) auf Indizien, sie sind also nie „über jeden vernünftigen Zweifel erhaben“. Und hier hakt der Verteidiger des Angeklagten mit grosser Wahrscheinlichkeit ein. Er wird Ihre Gründe auf eine Weise zu zerpflücken suchen, dass sie ihre „Erhabenheit“ verlieren. Gelingt ihm dies, fällt Ihr logisches Gerüst in sich zusammen, nicht weil es unlogisch ist, sondern weil es auf einer Indiziengrundlage steht, die Zweifel mürbe gemacht haben. Man kann aus Unsinn jede Menge weiteren Unsinn logisch deduzieren. Die juristische Reglementierung „Über jeden vernünftigen Zweifel erhaben“ steht deshalb mit gutem Grund über der Logik.

    Elimination der Alternativen – Intelligent Design

    Das beschriebene Manöver wird als Elimination von Alternativen bezeichnet. Es findet Anwendung auf zahlreichen Feldern. Zum Beispiel argumentieren Anhänger des Intelligent Design (ID) damit. Sie nennen es „eliminative Induktion“, um ihm einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.

    Tatsächlich gibt es ein Phänomen in der Natur, an dem sich die Evolutionstheorie die Zähne ausbeisst: Die lebenden Organismen weisen eine Komplexität auf, die zu hoch erscheint, als dass sie bloss durch Zufall und Auslese hätte entstehen können. Weshalb sich die Idee eines intelligenten Schöpfers aufdrängt. Das mutet auf den ersten Blick wie eine wissenschaftliche Hypothese an, aber bei genauerer Analyse zeigt sich die gleiche Logik wie in unserem fiktiven Beispiel. Die Hypothese eines intelligenten Schöpfers gewänne ja nur dann an Plausibilität, wenn man alle möglichen naturwissenschaftlichen Alternativen ausgeschlossen hätte. Das dürfte sich als äusserst schwierig erweisen.

    Im Grunde aber legen sich die ID-Anhänger gar nicht mit der Wissenschaft an. Sie sind überzeugt von einem göttlichen Designer. Ihre vermeintliche „Hypothese“ ist also eine Glaubensüberzeugung, und das Verfahren der eliminativen Induktion dient allein ihrer Befestigung, nicht der Erkenntnissuche.

    Feste Überzeugungen und Verschwörungstheorien

    Im Englischen gibt es den Begriff des „Shoehorning“, des Schuhlöffelns: Man schiebt mit dem Löffel der Logik alles in den Schuh der festen Überzeugung. Schuhlöffeln könnte geradezu als definierendes Merkmal von Verschwörungtheorien angesehen werden. Dieser Typus von Theorie erklärt eigentlich nicht, sondern zementiert eine feste Überzeugung, ein Vorurteil, eine Ideologie oder Obsession – und er tut es unter der Vorspiegelung, zu erklären.

    Verschwörungstheorien stehen seit 9/11 in giftiger Blüte. Man muss allerdings sorgfältig differenzieren zwischen Verschwörungstheorien und Theorien der Verschwörung. Eine seriöse Theorie versucht das Phänomen Verschwörung zu erklären, ohne dass sie den Anspruch auf alternativlose Erklärung erhöbe. Sie rechnet also immer mit andern Schuhen verschiedenster Grösse. Für die Verschwörungstheorie hingegen gibt es nur einen einzigen grossen Schuh, und sie operiert meist mit versteckten, unausgesprochenen Prämissen, die genau deshalb verschwiegen werden, um gegen Widerlegungen immun zu bleiben. Was man für oder gegen die Theorie ins Treffen führt, verwandelt sie in Evidenz zu ihren Gunsten. Ihr Makel ist nicht, dass sie nicht schlüssig, sondern dass sie zu schlüssig ist.

    Prophetie-Bias

    Ein anderes Phänomen ist damit verwandt. Wenn man unbeirrt an die Buchstabenwahrheit der Bibel glaubt, lässt sich jedes Ereignis in einen von über 30’000 Versen löffeln. Ein schönes Beispiel bietet die BP-Ölkatastrophe im Golf von Mexiko im April 2010. Für den Bibeltreuen ein Ansporn für die Suche nach Prophetien, etwa in der Offenbarung des Johannes, 8: „Der zweite Engel blies seine Posaune. Da wurde etwas, das einem grossen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen. Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um, und ein Drittel der Schiffe wurde vernichtet.“

    Es geht hier nicht darum, Bibelsprüche lächerlich zu machen, sondern um den „Prophetie-Bias“: die Neigung also, aus beliebigen Dokumenten der Vergangenheit Vorhersagen von Gegenwartsereignissen herauszulesen. Bei über 30’000 Bibelversen und einem mit unerbittlicher Logik armierten Glauben ist die Wahrscheinlichkeit äusserst gering, keinen Vers zu finden, der auf ein angeblich vorausgesagtes Ereignis zuträfe.

    In der Allianz von Unbeirrbarkeit und Logik manifestiert sich die oft unheimliche Rückseite unserer Vernunft. „Ausgehend von einem Irrglauben kann uns unerbittliche Logik ins Irrenhaus führen“, bemerkte einmal der britische Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes. Und er hatte damit nicht nur die Ökonomie im Auge. Der Irrsinn zeichnet sich durch erstaunliche logische Konsistenz aus, durch eine oft stupende Raffinesse, mit der er sich in irrige Überzeugungen verbeisst. Vielleicht liesse sich Irrsinn gerade so definieren: Statt sein Weltbild der Welt anzupassen, kümmert man sich ausschliesslich um die logische Konsistenz des Weltbildes.

    Der Wille zur Ignoranz

    Wir sind – so betrachtet – alle mehr oder weniger anfällig für Irrsinn. Wir hängen Überzeugungen an, die wir nicht oder nur unter grösstem Widerstreben aufzugeben bereit sind. Auch nicht, wenn Fakten gegen sie sprechen. Wir sind schlechte Falsifizierer. Das macht auch den Willen zur Ignoranz verständlich: Ich glaube fest an X; die Evidenz spricht aber gegen X; deshalb will ich von ihr nichts wissen.

    Dieser Wille wird in einer überinformierten Gesellschaft aus drei Gründen stärker. Erstens gibt es ein wachsendes Misstrauen gegenüber den Wissenschaftern, zum Beispiel in Fragen der Gesundheit und des Klimas. Zweitens können und wollen wir angesichts der Informationsflut und immer neuer Erkenntnisse unsere einmal gefassten Überzeugungen nicht ständig umbauen. Und drittens findet man in den Social Media stets Gleichgesinnte, mit denen man sich dank der Kohäsionskraft vorgefasser Überzeugungen gegenüber anderen Meinungen abschliessen kann.

    „Wohin er auch geht, der Mensch ist umhüllt von einer Wolke tröstlicher Überzeugungen, die sich mit ihm bewegt wie ein Schwarm Fliegen an einem Sommertag“, schrieb Betrand Russell schon 1919. – Das Bild verlockt einen zur Frage: Stinkt der Mensch mit vorgefassten Meinungen derart aus dem Kopf, dass diese tröstlichen Überzeugungen an ihm haften bleiben?

    Der Irrsinn wird gesellschaftsfähig

    Nicht Lügen oder bewusste Faktenfälschungen stellen im Grunde die erkenntnistheoretische Gefahr dar, sondern Unbeirrbarkeit. Sie unterminiert den eminenten sozialen Wert der Wahrheit. Denn Wahrheit hat immer auch die Funktion einer vermittelnden Bürginstanz innegehabt, an der wir unsere Überzeugungen eichen und messen. Deshalb konnte man Leute, die unbeirrbar ihre festen Überzeugungen verzapfen, immer mal an den Pranger der Lächerlichkeit oder des Irrsinns stellen.

    Das ist heute nicht mehr so ohne weiteres möglich. Schwindet die Funktion der Bürginstanz oder verliert sie an Bedeutung, erodiert auch die Grundlage der Kritik. Und dann kommt es so weit, dass der Irrsinn gesellschaftsfähig wird. Heute besonders.