Aktualität in der Philosophie

Gibt es überhaupt „aktuelle“ Fragestellungen in der Philosophie, wenn doch manche Themen seit der Antike immer wieder diskutiert werden?

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    Die gemeinnützige Stiftung für Philosophie hat 2011 eine Repräsentativ-Studie erstellt. Das Ergebnis überrascht: 75 Prozent der deutschen Bevölkerung setzt sich grundsätzlich mit philosophischen Fragen auseinander und fast 70 Prozent fordert auch einen Gerechtigkeitstest für politische Entscheidungen. (1)
    Diese Zahlen erwecken den Eindruck, dass ein breit abgestütztes Bedürfnis nach philosophischer Auseinandersetzung besteht. Doch weshalb? Wird der Philosophie nicht mindestens genauso oft angelastet, seit hunderten, ja tausenden von Jahren dieselben Fragen immer noch nicht beantwortet zu haben?

    Philosophie als Bedürfnis
    Bereits im Jahr 1801 schrieb Hegel: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.“ (2) Auch die oben genannte Studie verortet die Gründe für das Bedürfnis nach Philosophie in der „Erosion innerhalb der Gesellschaft“ und spricht gar von einem „Versagen der Eliten“. (3)
    Eine im Gegensatz zur Studie ausführliche Auseinandersetzung zur Rolle der Philosophie in der modernen Gesellschaft findet sich im Werk „Zivilisationsdynamik – Ernüchterter Fortschritt politisch und kulturell“ des emeritierten Philosophieprofessors Hermann Lübbe. Er verortet den Nutzen der Philosophie in der Überwindung von Irritationen und Beunruhigungen, welche durch die globale Ausbreitung der technischen Zivilisation entstehen: „Dynamik und Komplexität der wissenschaftlich-technischen Zivilisation provozieren somit zugleich fortschreitend neue Philosophie.“ (4) Dabei untersucht Lübbe nicht nur die Frage, weshalb ausgerechnet die moderne Gesellschaft diese historisch unvergleichbar grosse Ungleichheit hervorgebracht hat, sondern auch, ob durch die dauerhafte Hochschätzung der Werte Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde eine überrissene Gemeinsinnszumutung entsteht. Lübbe zeigt zudem, dass das Bürgerinteresse am Gemeinwohl durch die Modernisierung wächst und zwar bedingt durch die Angewiesenheit auf das korrekte und wohlgemeinte Expertenwissen anderer Mitbürger. (5)
    Lässt sich daraus schlussfolgern, dass die wachsende Komplexität, Dynamik und Vernetzung der technischen Zivilisation unweigerlich ein Bedürfnis nach philosophischer Auseinandersetzung fördert? Vielleicht lässt sich diese Frage auch durch das wachsende Bewusstsein für das eigene Mitwirken, bspw. in sozialen Netzwerken, beantworten. Der Mensch ist nicht mehr nur Zuschauer, sondern auch Nutzer des technischen Fortschrittes.

    Der Zürcher ETH-Professor Michael Hampe fasst in Anlehnung an Whitehead zusammen: „Die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung, in der sich Menschen als Zuschauer der Welt begreifen, ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts immer wieder kritisiert worden. Sie ist das Ergebnis derjenigen Erziehungsformen, die aus Menschen Zuschauer statt Teilnehmer an der Welt machen. Natur- und Gesellschaftsordnungen können als gegebene Komplexitäten betrachtet werden (…).
    Oder sie können als das, aus dem einzelne Menschen hervorgehen und in das sie hineinwirken, betrachtet werden. Dazu müssen sich Menschen jedoch sowohl als Produkte der Welt, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten, begreifen, als sich auch zutrauen können, auf das, aus dem sie hervorgehen, wieder zu reagieren. Erst durch die Reaktion auf die Tatsachen wird das Gegebene bewertet und erfährt sich das Einzelwesen als ein zur Bewertung der Weltzustände fähiges und berechtigtes Wesen. Und die Weltzustände werden als durch es selbst veränderbare nur erkannt, wenn sich das Einzelwesen als reaktionsfähig erlebt hat. Diese Fähigkeit der Bewertung des Gegebenen legt die Grundlage zu einer freien Lebensführung, die die eigene Verschiedenheit ernst nimmt.“ (6)

    Hebt man die Bewertung des Gegebenen hervor, stellen sich eben keine naturwissenschaftliche Fragen, sondern philosophische. Insofern die Menschen ein selbstbestimmtes und in diesem Sinne freies Leben führen, lässt sich dieser Konfrontation kaum mehr ausweichen. Die Philosophie steht mit ihrem reichen Erfahrungsschatz somit als eigenständige Disziplin jeder Person gleichermassen zur Seite.

    Entwicklung und Aktualität
    Die Philosophiegeschichte kann die Veränderungen der jeweiligen Epochen nachvollziehen. So stehen auch die historischen Abhängigkeiten im Fokus, um zu erklären, weshalb zum Beispiel Sokrates in seiner Zeit eine derart grosse Faszination ausübte und eine grössere Anziehungskraft hatte als andere philosophische Bezugsrahmen.
    Eine „endgültige“ Antwort auf aktuelle Fragen zu suchen, ergibt daher wenig Sinn, wie Hampe zeigt: „Eine derartige Philosophiegeschichte wird sich nicht als „Sportberichterstattung“ verstehen und vor allem schauen, welche Argumente und Doktrinen „am Ende gewinnen“ werden. An welchem Ende denn? In welcher Lebensform und vor welchem Erfahrungshintergrund sollten alle jemals vollzogenen menschlichen Erfahrungen und alle Argumente und Erzählungen eine endgültige Deutung erhalten? Wie sollte verhindert werden, dass neue Erfahrungen nicht auch neue Voraussetzungen für neue Argumente und Erzählungen hervorbringen und zu einer revidierenden Interpretation der alten Gedanken führen?“ (7)

    Vor diesem Hintergrund lässt sich auch leichter erkennen, weshalb die Schriften der alten Griechen immer wieder neu von Interesse sein können, da sie unweigerlich stets aus einer anderen Perspektive gelesen werden. Aktualität versteht sich somit auch in diesem zeitlichen Sinn: Nicht nur stellen sich gewisse Bewertungsfragen auf Grund neuer Bedingungen, sondern auch ein „neuer“ Blickwinkel auf bestehende Bedingungen ergibt andere Erkenntnisse. Die philosophische Auseinandersetzung fördert im einen wie im anderen Fall argumentative Klarheit und vertieft somit die Rechtfertigungsgründe für die eigenen Handlungen.

     

    Quellen

    1. Vgl. Gemeinnützige Stiftung für Philosophie, Pressemitteilung vom 14.11.2011, online auf: http://identity-foundation.de/pressemitteilungen und i.V.m. Uwe Justus Wenzel, NZZ, 17.11.2011 online auf: https://www.nzz.ch/philosophie_im_trend-1.13337574
    2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, 1801, online oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, Hrsg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1964.
    3. Gemeinnützige Stiftung für Philosophie, Pressemitteilung vom 14.11.2011, S. 3
    4. Hermann Lübbe, Zivilisationsdynamik, Ernüchterter Fortschritt politisch und kulturell, Hrsg. von Wolfgang Rother, Schwabe Verlag AG, Basel 2014, S. 18
    5. Vgl. Ebenda, S. 73
    6. Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2016, S. 269
    7. Ebenda, S. 387

     

    Frage an die Leserschaft

    Welche ganz grosse Frage brennt Ihnen unter den Fingernägeln und warum?