Die Demokratiekrise - Eine Wahrheitskrise?

Wer sich auch nur ansatzweise für aktuelle politische Entwicklungen interessiert, wird in den letzten Jahren zunehmend lauter werdende Stimmen vernommen haben, die vor einem Untergang der modernen liberalen Demokratien warnen und diese Warnung in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Wahrheit bringen.

    Wie soll man diese Warnung verstehen? Eine Möglichkeit wäre etwa die folgende einfache Argumentation: Demokratie hängt wesentlich davon ab, dass Bürgerinnen ihren Politikerinnen (insbesondere ihren Regierungsvertreterinnen) vertrauen können. Ohne Vertrauen haben wir keinen Grund uns darauf zu verlassen, dass Politikerinnen Entscheidungen im Sinne des allgemeinen Wohls treffen werden. Und zu den Dingen, die Politikerinnen tun können, um Vertrauen auf sehr einfache Weise zu zerstören, gehört eben das absichtliche Täuschen von Bürgerinnen durch die Äußerung von Unwahrheiten. Lüge und Unaufrichtigkeit vertragen sich nicht mit Vertrauen. Wer beispielsweise ein Wahlversprechen abgibt, nur um es nach einem Wahlsieg sofort zu brechen, befördert unser Misstrauen in Politikerinnen und trägt zu der immer wieder bemühten ‘Politikverdrossenheit’ bei. Diese führt wiederum dazu, dass Bürgerinnen sich nicht mehr von ihren politischen Vertreterinnen repräsentiert fühlen und keinen Anlass mehr sehen, sich an Prozessen der demokratischen Entscheidungsfindung zu beteiligen.

     

    Gewöhnliche Lügnerinnen

     

    So eine Analyse des Zusammenhangs von Demokratie und Wahrheit mag zwar zutreffend sein, dennoch wird damit die spezielle Demokratiekrise, die seit etwa zwei Jahren – als grobe Orientierungspunkte mögen hier die Brexit-Entscheidung und die US-Präsidentenwahl im Jahre 2016 dienen – konstatiert wird, nur unzureichend erfasst. Zum einen stellen etwa die erwähnten Brüche von Wahlversprechen bis zu einem gewissen Punkt einen unvermeidbaren Bestandteil demokratischer Systeme dar: Politikerinnen müssen einerseits vor einer Wahl ankündigen, für welche konkreten politischen Massnahmen sie stehen, andererseits ergeben sich nach einer Wahl oft Koalitionskonstellationen, die eine vollständige Umsetzung der versprochenen Massnahmen unmöglich machen (von den sich permanent verändernden Umständen ganz zu schweigen). Zum anderen hat es wohl zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte Demokratien gegeben, in denen Politikerinnen nicht auf die eine oder andere Weise gelogen haben. Politikerinnen, die lügen, stellen keine radikal neue oder auch nur besonders überraschende Facette demokratischer Prozesse dar.

     

    Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass diese Facette unproblematisch ist. Allerdings sind Demokratien schon immer in der Lage gewesen sind, mit solchen Formen des Fehlverhaltens umzugehen und ein gewisses Ausmass an epistemischer Verlässlichkeit auf Seiten von Politikerinnen sicherzustellen. Es gibt eine ganze Reihe von institutionellen Mechanismen, die in Demokratien implantiert werden können, um politische Lügen aufzudecken und zu sanktionieren. Wir alle kennen Untersuchungsausschüsse und unabhängige Kommissionen aller Art, deren Aufgabe darin besteht, Politikerinnen nachzuweisen, dass sie gelogen haben; in der Folge können sie abgesetzt oder abgewählt werden; und zudem sind ihre Worte und Taten dem permanenten Blick von investigativen Journalistinnen und einer kritischen Öffentlichkeit ausgesetzt. Die Spiegel-Affäre, Watergate oder der Fichenskandal stehen in unserem kollektiven politischen Bewusstsein zwar für politisches Fehlverhalten, Lüge und Vertuschung; auf der anderen Seite lassen sie sich aber auch als im Sinne von demokratischen Erfolgsgeschichten lesen, die davon zeugen, wie ‘die Wahrheit ans Licht gebracht’ werden kann, und wie epistemisch ‘abtrünnige’ politische Akteure zur demokratischen Räson gebracht werden.

     

    Ist halt meine Meinung...

     

    Die gegenwärtige Krise der Demokratie scheint von einer anderen Dimension zu sein. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Erwähnung und Diskussion von aktuellen Beispielen für Politikerinnen, die in ihrer Missachtung der Wahrheit über das Lügen – über blosses Lügen, könnte man beinahe sagen – hinausgehen. Ich glaube auch nicht, dass sich die Fälle, die man hier anführen könnte, einfach klassifizieren und ordnen lassen. Verfolgt man die Nachrichten, hat man vielmehr das Gefühl, dass die ‘wahrheitswidrigen’ Strategien, die zurzeit in politischen Auseinandersetzungen eingesetzt werden, im stetigen Wandel begriffen sind und sich der jeweiligen diskursiven Situation flexibel anpassen. Ich glaube aber dennoch, dass sich an der Betrachtung einzelner dieser Strategien etwas über die Gefahr lernen lässt, die sie für die Demokratie darstellen. An dieser Stelle möchte ich zwei Varianten dieser Strategien unterscheiden und, um die wesentlichen Punkte in den Blick zu bekommen, anhand von zugegebenermassen artifiziellen WG-Dialogen illustrieren. Der erste Dialog könnte etwa folgendermassen ablaufen:

     

    A: Kannst du bitte deine Wäsche in den Keller bringen? Wir sollten nichts mehr im Gemeinschaftsraum aufhängen.

    B: Warum das denn?

    A: Hast Du schon die Schimmelränder an der Decke gesehen? Es ist zu feucht hier.

    B: Das ist doch kein Schimmel. Ich sehe da nichts.

    A: Schau mal die Fotos, die habe ich von der Leiter aus gemacht.

    B: Sieht für mich nicht nach Schimmel aus...

    A: Gestern war der Typ von der Baufirma hier. Er meinte, das sei Schimmel.

    B: Ja, klar. Das sagen die von der Baufirma immer. Die wollen doch nur Kohle machen.

    A: Was ist denn nun? Bringst du die Wäsche raus oder nicht?

    B: Nö. Ich sehe da keinen Schimmel. Tut mir leid, ist halt meine Meinung dazu. Bleibt mir ja unbenommen oder?

     

    Der zweite Dialog geht so:

     

    A: Was ist das denn? In der Küche sieht es aus wie auf dem Schlachtfeld. Bist Du nicht mit dem Spülen dran?

    B: Diese Woche hab ich Geburtstag, und wer Geburtstag hat, muss die ganze Woche lang nicht spülen.

    A: [rollt mit den Augen] Ist mir neu, aber OK, meinetwegen...

    [Zwei Wochen später.]

    B: Wie sieht es denn hier aus? Hast Du nicht Spüldienst?

    A: Aber ich habe doch Geburtstag! Ich muss diese Woche gar nicht spülen!

    B: So einen Schwachsinn habe ich noch nie gehört! Jetzt räum sofort diesen Dreck auf!

     

    Beide Dialoge sind absichtlich so konstruiert, dass sie das komplexe philosophische Problem vermeiden, das die Möglichkeit der rationalen Begründung von normativen Urteilen betrifft. Im ersten Beispiel geht es zwar insofern um eine normative Frage, als A und B sich darüber zu verständigen versuchen, wo in der WG Wäsche aufgehängt werden sollte, aber ihr Streit betrifft nicht eine Regel wie ‘Immer wenn Schimmel entsteht, sollte Wäsche nicht drinnen getrocknet werden’, sondern die zunächst harmlosere und, wie man meinen müsste, leichter zu entscheidende Frage, ob die Wände überhaupt schon von Schimmel befallen sind; im zweiten Beispiel dreht sich die Auseinandersetzung zwischen A und B zwar um eine WG-Regel, also um etwas Normatives, aber es geht hier nicht darum, wie so eine Regel begründet oder anderen Personen gegenüber rechtfertigt wird – sie wird von B ohne Begründung aufgestellt und von A schulterzuckend akzeptiert. Wie man sicht leicht denken kann, ist es nicht einfach, andere Personen auf rationale Weise von einem Werturteil oder auch nur einer Verhaltensregel zu überzeugen, an unseren Beispielen sieht man aber, dass sich auch in scheinbar einfacheren Kontexten, in denen keine normative Fragen im Mittelpunkt stehen, große Probleme ergeben können. Diese Probleme lassen sich nun in einem Bereich ansiedeln, der zumindest eine gewisse Verwandtschaft zu dem eingangs angesprochenen Fall der Lüge aufweist.

     

    Im ersten Dialog sieht es so aus, als ob B einfach eine Unwahrheit behaupten würde: Immerhin behauptet sie, es sei kein Schimmel an der Wand, während alles dafür spricht, dass es sich nicht so verhält. Das ist die Parallele zum Fall des Lügens. Allerdings liegt hier keine Täuschungsabsicht vor: Es ist nicht realistisch, davon auszugehen, dass A sich durch die blosse Tatsache, dass B auch angesichts von Beweisfotos und Expertenurteilen an ihrer Überzeugung festhält, es sei kein Schimmel an den Wänden, von ihrer ursprünglichen Überzeugung abbringen lassen wird. Und selbst wenn das nicht unrealistisch wäre, ist es nicht besonders plasuibel, in dieser Situation anzunehmen, dass es B irgendwie darum geht, A in dieser Hinsicht dazu zu bewegen, eine bestimmte Überzeugung anzunehmen. B ist es ganz egal, was A über den Schimmel denkt, und es ist ihr im Grunde auch egal, was A über sie (d.h. B) und ihre eigenen den Schimmel betreffenden Überzeugungen denkt. Eine Lügnerin möchte auf eine spezifische Weise den kognitiven Haushalt einer anderen Person manipulieren; B ist der kognitive Haushalt von A gleichgültig. Es ist in diesem Fall auch nicht wichtig, ob es tatsächlich stimmt oder nicht, dass die Wand vom Schimmel befallen ist; entscheidend ist, dass – so zumindest die Annahme in der von mir konstruierten Situation – massive Evidenz vorliegt, die für die Wahrheit dieser Proposition spricht und B sie einfach zu missachten beschliesst.

     

    Im Fall des zweiten Dialogs lässt sich eine etwas anders gelagerte Form des epistemischen Fehlverhaltens ausmachen: B scheint hier an die Gültigkeit einer bestimmten Regel zu glauben, die daraufhin auch von A akzeptiert wird, nur um ihre diesbezügliche Überzeugung zwei Wochen später ohne einschlägige Gründe aufzugeben. Wenn man annimmt, dass sich in der Zwischenzeit nichts Relevantes geändert hat, dann bedeutet das, dass B sowohl der Auffassung ist, dass Geburtstage einen vom Spüldienst entbinden, als auch der Auffassung, dass das nicht der Fall ist. Damit vertritt sie in jedem Fall eine Überzeugung, die nicht der Wahrheit entspricht, und zwar gleichgültig, welche Überzeugung der Wahrheit entspricht. In diesem Beispiel kommt es nicht zentral darauf an, dass Bs Überzeugung die Gültigkeit einer WG-Regel betrifft, sondern lediglich, dass sie ihre Überzeugung ohne ‘evidentiellen Anlass’ Anlass ändert, weil ihr das in der spezifischen Situation einfach besser in den Kram passt. Dieselbe Strategie lässt sich genauso gut im Fall von nicht-normativen Propositionen anwenden, und es gibt Situationen, in denen sowohl diese als auch die Strategie aus dem ersten Dialog kombiniert eingesetzt werden können.

     

    Feinde der Wahrheit

     

    Beide Fälle lassen sich also nicht als Fälle klassifizieren, in denen gelogen wird; in beiden Fällen scheint das Fehlverhalten von B aber immer noch etwas mit Wahrheit und Unwahrheit zu tun zu haben. Worum geht es hier? Eine Möglichkeit, wie man Bs Äußerungen verstehen könnte, besteht darin, sie als Fälle davon zu betrachten, was Harry Frankfurt als ‘Bullshit’ bezeichnet. Eine Behauptung zählt Frankfurt zufolge als ‘Bullshit’, wenn sie ohne Verbindung zu einem Interesse an Wahrheit gemacht wird; die ‘Bullshitterin’ ist – im Gegensatz zur aufrichtig sprechenden Person, aber auch zur Lügnerin – gar nicht daran interessiert, ob ihre Äußerungen wahr oder falsch sind; sie unterwirft sich gar nicht erst den epistemischen Standards, die für Behauptungen gelten; sie versucht erst gar nicht, das, was der Fall ist, auf angemessene Weise in ihren Äußerungen zu repräsentieren; sie ist epistemisch gleichgültig.

     

    Es ist nicht schwer zu sehen, inwiefern man B den Vorwurf machen könnte, so eine ‘Bullshitterin’ zu sein. Zumindest auf den ersten Blick scheint es von einer gewissen Gleichgütigkeit gegenüber der Wahrheit zu zeugen, wenn man, wie B im ersten Fall, massive Anzeichen, die gegen eine der eigenen Überzeugung sprechen, nicht sieht; und ähnlich sorglos scheint B auch in dem zweiten Fall zu sein, wo sie ‘einfach so’, d.h. ohne evidentielle Basis, ihre Meinung wechselt. Warum sollten wir besorgt sein, wenn Politikerinnen ein kommunikatives Verhalten an den Tag legen, das Bs Verhalten in den beiden Dialogen ähnelt, wenn sie also Evidenzen, die gegen ihre Überzeungen sprechen, nicht weiter beachten (oder sie zu ‘fake news’ erklären) oder völlig unbekümmert davon sind, dass sie sich mit ihren Äusserungen selbst widersprechen?

     

    Auch bei dieser Frage kann uns Frankfurts ‘Bullshit’-Ansatz behilflich sein. Für Frankfurt ist die Bullshitterin schlimmer als die Lügnerin: Wer lügt, nimmt in gewisser Hinsicht noch immer an einer kooperativen Unternehmung teil. Eine Lügnerin akzeptiert im Grunde die Anforderungen, die an Mitglieder der epistemischen Gemeinschaft gestellt werden – sie entscheidet sich nur, sie zu verletzen. Im Gegensatz dazu ignoriert eine Bullshitterin solche Anforderungen, gerade so, als ob es sie gar nicht geben würde. Für eine Lügnerin, aber auch für eine aufrichtige Person sind Tatsachen sehr wichtig; beide gehen davon aus, dass es einen Unterschied zwischen wahren und falschen Überzeugungen gibt, je nachdem, in welcher Relation sie zu den Tatsachen stehen. Der Bullshitterin ist das alles egal. Im Gegensatz zur Lügnerin besteht ihr Ziel nicht nur darin, die Wahrheit zu verschleiern; man könnte sagen, dass sie stattdessen eher dabei ist, Wahrheit als relevante Kategorie abzuschaffen. Das ist der Grund, warum Frankfurt die Bullshitterin für die weitaus größere Feindin der Wahrheit hält.

     

    Bei genauem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass eine Bullshit-Analyse unserer zwei WG-Fälle möglicherweise noch immer zu kurz greift. Zum einen ist nicht klar, was es heissen sollte, dass B dabei ist, ‘die Wahrheit abzuschaffen’, wie manchmal in politischen Kommentaren formuliert wird, die sodann auch noch das ‘post-faktische’ Zeitalter ausrufen. Es ist ja nicht davon auszugehen, dass B aufhört, daran zu glauben, dass es eine Tatsache darstellt, dass der Zug, den sie für einen Ausflug in die Berge nehmen möchte, auf einem bestimmten Gleis losfährt, oder dass das Trinken von Benzin tödlich enden kann. Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Überzeugungen und die Existenz von Tatsachen, von denen es keine ‘alternativen’ Versionen geben kann, müssen für jede Person, die nicht völlig verrückt ist und sich in der Welt auch nur ansatzweise zurechtfinden möchte, eine zentrale Rolle spielen.

     

    Zum anderen geht Frankfurt davon aus, dass die Bullshitterin auch dadurch zu charakterisieren ist, dass sie ein bestimmtes Ziel verfolgt: Sie sagt das, was sie sagt, um sich als Person in einem bestimmten Licht darzustellen. Eine Lobrednerin kann etwa Bullshit von sich geben, um sich der gelobten Person gegenüber als jemand zu präsentieren, der sie besonders wertschätzt. Eine Konsequenz daraus ist, dass es der Bullshitterin zwar egal ist, was (ansonsten) der Fall ist, keinesfalls aber, ob ihre Adressatin sie für eine Bullshitterin halten wird. Anders gesagt: Eine Person, die Bullshit von sich gibt, möchte die Tatsache verschleiern, dass ihr die Wahrheit gleichgültig ist.

     

    Es ist nun alles andere als klar, ob diese Voraussetzung in unseren beiden WG-Szenarien und in den entsprechenden politischen Diskurssituationen gegeben ist. Schauen wir uns zunächst den ersten Dialog an: Wenn es tatsächlich der Fall sein sollte, dass das Zeug an der Wand wie Schimmel aussieht, wie Schimmel riecht und von einem Schimmelexperten als Schimmel identifiziert wird, dann lässt sich kaum erwarten, dass B diese Beweise in den Wind schlägt und gleichzeitig verschleiern kann, dass ihr die Wahrheit egal ist. Jemand, dem Regentropfen ins Gesicht schlagen, kann nicht bestreiten, dass es regnet, ohne dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er zumindest ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit hat. Ganz ähnlich kann man in unserem zweiten Szenario argumentieren: Auch hier kann kaum davon die Rede sein, dass B die Tatsache verschleiert, dass es ihr im Grunde egal ist, was der Fall ist, d.h. in dieser speziellen Situation, welche WG-Regel gilt. Bs Gleichgültigkeit bezüglich ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit ist in diesem Fall nicht einmal schlecht getarnt. In beiden Fällen haben wir es mit einer kommunikativen Akteurin zu tun, die auf unverhohlene Weise epistemische Standards missachtet, und das spricht dagegen, sie als Fälle zu betrachten, in denen Bullshit geredet wird.

     

    Ich denke tatsächlich, dass das Problem, das sich sowohl mit B in den beiden Dialogen als auch mit der speziellen Form des Populismus verbindet, die uns in der jüngsten Zeit begegnet, ein anderes ist. Man kann ihm näherkommen, indem man auf eine Eigenschaft der von mir konstruierten Dialoge reflektiert, die ich eingangs schon kurz erwähnt hatte: Sie wirken konstruiert. Man kann sich kaum vorstellen, dass solche Gespräche in WGs besonders häufig stattfinden. Das liegt daran, dass eine Person, die ein kommunikatives Verhalten wie B an den Tag legen würde, nicht sehr lange WG-Mitglied bleiben würde. WGs stellen soziale Kontexte dar, die ein Mindestmass an Kooperation voraussetzen und notwendig darauf angewiesen sind, dass ihre Mitglieder sich auf vernünftige Weise über bestimmte Fragen verständigen können. Und B scheint das Verfahren, das zu genau diesem Zweck eingesetzt werden muss, zu torpedieren. Anders gesagt: Es geht nicht darum, dass B eine andere Auffassung davon hat, was in der jeweiligen Situation gemacht werden sollte, sondern dass sie nicht bereit ist, A als gleichberechtigte Teilnehmerin in einem Verständigungsprozess zu respektieren. Diese Missachtung äussert sich eben darin, dass sie davon auszugehen scheint, dass sie befugt ist, von einem Tag auf den anderen ihre Ansichten über WG-Regeln zu ändern oder einseitig die Standards für die Feststellung von empirischen Tatsachen aufzukündigen.

     

    Machtspiele

     

    Kehren wir an dieser Stelle zu dem Problem zurück, das ein analoges Verhalten von Politikerinnen für die Demokratie darstellt, so lässt sich aus den bisherigen Betrachtungen Folgendes lernen: Politikerinnen, die empirische Tatsachen anzuzweifeln scheinen, indem sie Expertenurteile in den Wind schlagen und sich im Hinblick auf ihre eigenen Überzeugungen keinerlei Konsistenzstandards verpflichtet fühlen, verfolgen keinesfalls irgendeine Art skeptisches Projekt, das es zum Ziel hat ‘die Wahrheit abzuschaffen’, was auch immer Letzteres heissen sollte. Sie sind vielmehr dabei, auf bewusste Weise die Randbedingungen der Möglichkeit von demokratischer Verständigung zu zerstören. Sie missachten auf diese Weise nicht so sehr die Wahrheit, wie oft behauptet wird, sondern primär die anderen Teilnehmerinnen an demokratischen Prozessen der Entscheidungsfindung. Demokratischer Konsens ist sehr schwer zu erreichen. Wie soll dies aber möglich sein, wenn sich die Dialogpartnerinnen noch nicht einmal darauf einigen können, was der Fall ist? Wenn sie in einer rationalen Auseinandersetzung mal die eine, mal die andere Position beziehen, je nachdem, wie es ihnen gerade in den Kram passt?

     

    Eine Politikerin, die sich in politischen Auseinandersetzungen der Strategien von B aus unseren beiden Dialogen bedient, ist im Grunde wie jemand, der bei einem Fussballspiel plötzlich anfängt, mit dem Ball in der Hand übers Spielfeld zu laufen. Und das Problem in einer Demokratie besteht darin, dass es keine klare Schiedsrichterinstanz gibt, die solche Regelverletzungen sanktionieren könnte. Dass solche Regelbrüche, wie angedeutet, auf nahezu unverschleierte Weise erfolgen, verleiht ihnen zudem einen schamlosen Charakter. Mit so einer moralisierenden Bewertung ist allerdings in diesen Kontexten nur wenig zu gewinnen, und sie verschleiert einen zentralen Aspekt solcher Regelbrüche im politischen Raum: Sie sind als Gesten zu verstehen, die mit Macht zu tun haben.

     

    Nun hat Politik immer auf die eine oder andere Weise mit Macht zu tun. Ich meine an dieser Stelle aber etwas Spezifischeres: Eine Person, die sich im politischen Rahmen wie B in den beiden von mir konstruierten Dialogen verhält, bringt zum Ausdruck, dass sie kein Problem mit Macht hat, die nicht demokratisch legitimiert ist. Das kann zum einen im Sinne eines Greifens nach dieser Sorte von Macht verstanden werden, wie es gehäuft bei populistischen Politikerinnen in Wahlkampfzeiten zu beobachten ist: ‘Die Kriminalitätsrate in unseren Städten ist wieder gestiegen’, kann dann etwa behauptet werden, ohne dass die Sprecherin oder ihre Adressatinnen daran interessiert wären, ob es sich tatsächlich so verhält. Wiederum nur schlecht verschleiert steckt dahinter der plumpe Appell ‘Wähle mich, dann werde ich schon mit allem, was dir (und mir) schlechte Gefühle bereitet, ein für alle Mal aufräumen.’ Das ist aber kein Vorschlag, der sich als Beitrag zum Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung versteht, sondern wiederum ein nur notdürftig kaschierter Versuch, die Mechanismen der dazu notwendigen Diskussion ausser Kraft zu setzen.

     

    Bei bereits gewählten Politikerinnen, die Regierungsverantwortung haben, stellen solche Kommunikationsstrategien zum anderen Gesten der Machtbehauptung dar, wobei wiederum zentral ist, dass hier eine Macht behauptet wird, die nicht demokratisch legitimiert ist. Man denke hier etwa an die Floskeln, Pseudobegründungen und Inkonsistenzen, aus denen politische Verlautbarungen in Autokratien zusammengestellt sind: Zum Ausdruck wird hier nicht primär eine bestimmte Auffassung gebracht, die die Machthabenden von einem Sachverhalt in der Welt haben, sondern eben die Tatsache, dass sie das, was sie behaupten, behaupten können, ohne sich gleichzeitig auf das lästige Spiel des Begründens und Rechtfertigens einlassen zu müssen, das charakteristisch für demokratische Systeme ist. Bedenklich ist nun, dass sich durchaus verwandte Gesten der nicht-demokratischen Machtbehauptung zunehmend auch bei demokratisch gewählten Repräsentantinnen unserer Tage wiederfinden lassen. Die dreiste Botschaft von ‘Ihr könnt mir ohnehin nichts anhaben’, die in den von der Realität losgelösten Behauptungen einiger unserer Poitikerinnen mitschwingt, erinnert nicht nur an das Verhalten von Schulhofrüpeln, sondern nimmt eben auch den demokratieverachtenden Gestus autokratischer Machthabender vorweg.

     

    Was tun?

     

    Mit all dem ist selbstverständlich nicht gesagt, dass die politische Wirklichkeit, mit der wir heutzutage konfrontiert sind, sich unter Zuhilfenahme der von mit konstruierten Beispielfälle erschöpfend analysieren lässt. Wie bereits angedeutet, glaube ich zudem, dass die Strategien, die ich thematisiert habe, keinesfalls das gesamte Repertoire populistischer Politikerinnen erfassen und im Kontext weitergefasster Fragestellungen diskutiert werden müssten, z.B. der Frage nach dem Wesen von Verschwörungstheorien, die sich in diesem Zusammenhang geradzu aufdrängt.

     

    Zudem wäre es unredlich, wollte man die gegenwärtig konstatierten Demokratiekrisen nur darauf zurückführen, dass Politikerinnen sich selbst widersprechen oder keine Rücksicht auf epistemische Evidenz nehmen. Hier muss dreierlei konstatiert werden: Erstens sind die meisten von uns Nicht-Politikerinnen zumindest nicht ganz unschuldig, wenn es um solche Debattenstrategien geht. Zweitens sind Experten manchmal tatsächlich korrupt, Statistiken gefälscht und Fotos manipuliert, so dass eine gewisse ‘evidenzbezogene Skepsis’ durchaus angebracht sein kann. Und drittens sind wir als Wählerinnen mitverantwortlich, wenn aus demokratiefeindlicher Opposition Repräsentantinnen oder gar Regierungsvertreterinnen werden, die in Amt und Würden das demokratische System noch effektiver aushöhlen können.

     

    Geht es um die Frage, wie man die gegenwärtige Demokratiekrise abwenden kann, verweist gerade der zuletzt genannte Punkt auf ein zentrales Anliegen dieses Textes. Wenn man Wählerinnen davon abbringen möchte, sich auf populistische Politikerinnen einzulassen, dann wird es wohl nicht reichen, auf abstrakte Weise auf den Wert von Wahrheit hervorzustreichen oder antiskeptische Argumente aus der Philosophiegeschichte aufzubereiten. Erfolgversprechender scheint mir, darauf aufmerksam zu machen, dass bestimmte Standards der Rechtfertigung von Aussagen im politischen Raum eine zentrale Vorbedingung für das Funktionieren von Demokratien darstellen, um dann in einem zweiten Schritt immer wieder und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf den Wert von Demokratie zu verweisen.

     

    Wie man für Demokratie werben sollte, ist keine neue Frage, und es ist davon auszugehen, dass sie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen jeweils anders zu beantworten sein wird. Als Philosoph habe ich zu dieser Aufgabe nicht viel beizutragen. Sollte ich mich auf diesbezügliche Spekulationen einlassen, würde ich allerdings zum einen davon ausgehen, dass demokratische Erziehung in jedem Fall eine wichtige Rolle dabei spielen wird: Wenn man bereits als Kind lernt, dass man nicht der ‘König der Welt’ ist, dass man in der Verständigung mit anderen Personen nicht einfach ‘Ist halt meine Meinung’ sagen kann, und dass diese anderen Personen nicht nur eigene Bedürfnisse, sondern auch eine eigene Perspektive auf die Welt haben, die in Diskussionssituationen zu berücksichtigen ist, dann ist damit schon sehr viel im Hinblick auf ein respektvolles Miteinander und eine rationale Debattenkultur gewonnen.

     

    Auch wenn Angst nicht immer der beste Lehrmeister ist, glaube ich zum anderen, dass der gelegentliche Blick in die Geschichte uns gute Gründe gibt, Demokratie ganz besonders wertzuschätzen. Wer aus einer WG rausgeschmissen wird, kann sich eine andere Bleibe suchen; wenn der demokratische Diskurs zusammenbricht, wird die Bühne frei für die Ausübung davon, was ich als Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist, bezeichnet habe; und der paradigmatische Fall davon ist nackte Gewalt. Wer aufhört, nach Verständigung zu suchen, hebt Steine auf. Wir müssen noch nicht einmal besonders weit in die Vergangenheit zurückschauen, um uns vor Augen zu führen, welches Grauen hier droht. Demokratie kann frustrierend sein; sie ist keine Garantie für gerechte Verhältnisse; sie bedeutet permanente Anstrengung von uns Bürgerinnen; aber wir haben keine ernsthafte Alternative dazu.