Kritisches Denken fördern in Forschung und Lehre

«Kritisches Denken in den Wissenschaften» – das klingt wie eine Tautologie! Denn Wissenschaft und Forschung haben es vermeintlich immer mit kritischer Reflektion zu tun. Es wird untersucht und hinterfragt, statt die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie scheinen. Oder ist das vielleicht nur ein Ideal?

    «Kritisches Denken in den Wissenschaften» – das klingt wie eine Tautologie! Denn Wissenschaft und Forschung haben es vermeintlich immer mit kritischer Reflektion zu tun. Es wird untersucht und hinterfragt, statt die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie scheinen. Oder ist das vielleicht nur ein Ideal? Die tägliche Praxis mag tatsächlich anders aussehen. Zahlreiche Sachzwänge wie etwa ökonomische Belange, Finanzierungs- und Zeitbeschränkungen sowie Druck von den Fachkollegen erschweren es oft, sich kritisch auseinanderzusetzen mit den verwendeten Methoden, den vorausgesetzten Begrifflichkeiten und den gezogenen Schlussfolgerungen. Dabei sei mit «kritisch» oder «Kritik» hier das Gegenteil bezeichnet von einem «Dogmatismus», wie man es nenne könnte, bei dem eine solche Auseinandersetzung eben fehlt und bei dem die Fähigkeit verloren geht, die Dinge aus gebührender Distanz und verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

    Nun kann und sollte man nicht immer alles explizit hinterfragen. Entsprechend ist mit kritischem Denken auch nicht die rein akademische Sorge gemeint, die beispielsweise danach fragt, ob es theoretisch möglich wäre, dass ein Stück Kreide nicht auf den Boden fällt und zerbricht, sondern vielmehr zerbrochene Teilstücke aufschnellen und sich wieder zu einem einzelnen Kreidestück zusammenfügen. Gemeint ist stattdessen ein anhaltendes Bewusstsein sachangemessenen Urteilens. Auf Nachfragen sollte ein Wissenschaftler seine Begrifflichkeiten, Forschungsfragen und sein experimentelles Vorgehen rechtfertigen können. In der Tat ist die Fähigkeit, Rückfragen in zuverlässiger und kritischer Weise beantworten zu können, die erste und vielleicht wichtigste Art, Verantwortung zu zeigen – wie es ja das Wort «Ver-antwort-ung» («response-ability») bereits nahelegt.

    Ein verantwortungsbewusster Wissenschaftler sollte nicht nur in der Lage sein, einen Schritt zurück zu tun und über die eigenen Handlungen zu reflektieren, sondern sollte dies auch verständlich darlegen können. Kritisches Denken schliesst die Fähigkeit ein, sich mit Kollegen auch aus anderen Fachbereichen austauschen zu können. Und Ähnliches gilt mit Blick auf eine breitere Öffentlichkeit: Man sollte in der Lage sein zu erklären, warum die eigene Forschung wichtig ist, was ihre Ziele, Grenzen und Gefahren sind. Dabei besteht die grosse Kunst darin, sozusagen durch ein Bermuda-Dreieck zu steuern und dem Gegenüber weder (i) Trivialitäten noch (ii) Unverständlichkeiten noch (iii) Falschheiten zu präsentieren.

    Auch ist kritisches Denken nichts, dass «bloss im Nachhinein» wichtig wäre. Vielmehr ist es ein integraler Bestandteil guter wissenschaftlicher Praxis. Kritisches Denken sollte deshalb in der universitären Ausbildung bereits früh und breit gefördert werden. Es sollte von Studierenden konkret eingeübt werden – und dies auch anhand eigener Forschungs- und Qualifikationsarbeiten. Denn kritisches Denken impliziert Selbstkritik und das Bewusstsein für andere Denkweisen. Es ist mehr als blosse Beckmesserei gegenüber den Arbeiten anderer.

    Es führte zu weit, hier auf einzelne Möglichkeiten der didaktischen Umsetzung einzugehen.[1] Wichtiger für einen Blog auf philosophie.ch ist es, nachdrücklich auf die Relevanz hinzuweisen, die der universitären Philosophie im Kontext der Förderung einer kritischen Grundhaltung zukommt. Hier ist es wichtig, den Studierenden – jeweils in disziplinspezifischer Nuancierung – zentrale wissenschaftstheoretische und -historische Einsichten zu vermitteln. Sie sollten verstehen, inwiefern es ein allgemeiner «Teil des Spiels» ist, dass sich Begriffe und Methoden in den Wissenschaften in bestimmter Weise ändern und entwickeln, und woran sich dies in ihrer eigenen Disziplin konkret zeigen lässt. Damit kommt dem kritischen Denken neben dem intrinsischen Wert, der in der Ausbildung verantwortungsbewusster Wissenschaftlicher liegt, auch ein instrumenteller Wert zu. Denn das gerade genannte Verständnis kann auf aktuelle Projekte übertragen werden, indem man Stärken und Schwächen sowie mögliche alternative Ansätze aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Es handelt sich also um eine kontext-sensitive Fähigkeit; und die kann, wenn sie in der Praxis gelebt wird, dem Wissenschaftler helfen, flexibler und systematischer zu werden im eigenen Denken, erfolgreicher in der Auseinandersetzung mit Kollegen – und auch weniger erschrocken und «verstockt», wenn die Messdaten, Quellen oder Ableitungen etwas Unerwartetes zutage fördern.

    Klarerweise kann und soll eine historisch und philosophisch informierte Reflektion über natur- und technikwissenschaftliche Begriffe und Methoden niemals ein Ersatz sein für eine Ausbildung in ebendiesen Wissenschaften. Doch wenn man solch ein kritisches Denken vernachlässigt, wird dies unweigerlich ernsthafte Konsequenzen haben nicht nur für diese Wissenschaften, sondern auch für die gesamte Gesellschaft.


    [1] Siehe hierzu u.a. den Podcast «Wie lehrt man kritisches Denken?» , die Homepage der «Critical Thinking»-Initiative der ETH Zürich (CTETH) sowie folgende Berichte über konkrete interdisziplinäre Kursformate: «Was Physik-Studierende von Philosophen lernen», «Wenn aus Fehlern Fährten werden».

     

    Frage an die Leserschaft

    Was wären Ihrer Meinung nach die ganz am Schluss des Beitrages erwähnten "ernsthaften Konsequenzen" für die Wissenschaft und die gesamte Gesellschaft, wenn ein kritisches Denken vernachlässigt wird?