Vom Versuch eine Falte zu falten

warum die Hamburger Textilkünstlerin Julia Sundermeier Neu-Materialismus so materiell wie vielleicht niemand zuvor betreibt

    Gilles Deleuze beschrieb einst die Falte als Sinnbild für einen sich im bleibenden Werden befindenden Prozess, welcher den Innen/Außen-Dualismus durchquert und Identitäten negiert.

    Was wäre, gäbe es eine Kunst, die sich allein mit der Falte auseinandersetzt? Die rein aus Falten besteht, im Falten entsteht? Eine einzige Falte ist, und sich gleichzeitig aus vielen Falten zusammensetzt? So gar die Falte verquert, und damit, so scheint es, Deleuze selbst einen Schritt voraus ist? 

    Das Œuvre von Julia Sundermeier, in Hamburg schaffende Künstlerin, Absolventin der HAW (Hochschule für Angewandte Wissenschaften) und sich ihrer neumaterialistischen Macht noch nicht gänzlich bewusst, stellt dies dar. Drei emblematische Werke Sundermeiers werden im Folgenden abgebildet um ihr Werk auf neumaterialistische Weise zu diskutieren.

    Hier gezeigt sind die Falten einer Falte. Das Werk selbst faltet sich, faltet, ist am Falten, denn da die einzelnen Teile nur lose aneinander genäht sind, faltet das Werk in jeder Ausstellung, bei jeder Bewegung, auf jeder Fotografie neu. So verquert Sundermeier das schon Gefaltete mit dem bereits, immerzu, noch zu Faltenden.

    Das Werk ist eine sich im Falten und inmitten von Falten befindende Falte. Die das Werk ausmachende Falten sind PVC-Reste, Überbleibsel von Arbeitsschürzen-Fabrikaten, die hastig als Falte genäht wurden. Was dieses erste Foto also zeigt, ist eine Detailaufnahme einer Falte, die Falten faltet. In seiner Unfertigkeit "besteht" das Werk als Falte nicht aus Falten; es faltet einzelne Falten. Die einzelnen Falten sind nicht verhüllt oder gar verpackt, verschlossen in einer Falte. Vielmehr handelt es sich bei den einzelnen Falten um sich gegenseitig faltende und ebenbürtig (Deleuze verwendet hierfür die Metapher von Grashalmen) im Falten befindende Falten. Kurz: Das Werk ist nicht gefaltet, sondern faltend.

    Damit gelangt Sundermeier zum Versuch, die Deleuzianische Falte selbst zu falten, d.h. die Verquerung zu verqueren. Nur in seinem Dasein als ein Falten, nicht als gefaltete Falte, kann Deleuze’s Konzept gequert, verquert, überquert, ja gefaltet werden. Hier wird also die Falte als ein Falten erkannt, und in seinem Falten gefaltet. Genauer gesagt zeigt Sundermeier das Falten der Falte, d.h. nicht “sich“, sondern auffaltende, einfaltende, entfaltende, zusammenfaltende, ineinanderfaltende, schlicht faltende Falten. Ein philosophisch hochkomplexes Unterfangen, das Respekt verdient, und als Versuch genau die Versuchung beinhaltet, über das Falten der Falte nachzudenken.

    Sundermeiers Versuch ist also exakt richtig als Versuch. Es ist gar wünschenswert, dass er ein Versuch bleibt, denn als solcher besteht der Versuch selbst im Falten, wodurch er entwerfend, kartographierend bleibt, und nicht dem Nachvollziehen verfällt. Der vorsichtige Versuch Sundermeiers Werk, das Falten zu falten, verspricht daher ein im Falten verweilendes Falten, das somit stets wird.

     

    Sundermeier ist der Meinung, sie arbeite in Gegensätzen, wenn sie beispielsweise eine federleicht anmutende Skulptur aus dickwandigem PVC schafft. Doch eigentlich durchkreuzt sie Gegensätze. Sie liest sozusagen Härte und Leichte, PVC und gestrickten Stoff durcheinander — mit Barad, der Deleuzianerin, könnte man sagen: auf diffraktive Weise (Barad 2007, 2014). Speziell das Gestrickte erhält hier einen besonderen Stellenwert, denn laut Deleuze und Guattari ist Gestricktes ein Nomadisches, ein Werden, das hier als ein Dazwischen aus dem PVC zu quellen scheint. Man könnte sagen, Sundermeiers Werk ist ein Über an Werden.

    Die einen sehen in diesem Werk eine Wolke, die anderen einen Stein. Wieder andere sind der Meinung, es handle sich hier um das Bühnenkostüm einer Ballerina (O-Töne aus der letzten Midissage). Das Werk ist all jenes, und noch vieles mehr, denn nicht nur je nach Blickwinkel, sondern auch bei jeder Formung, zu der Sundermeier’s Werk fähig ist, wird es ein Anderes. Es ist, wieder nach Barad, eine „infinite Alterität“ (Barad 2012), ein grenzenloses Anders-Werden, wodurch es nicht nur den Innen/Außen-Dualismus verquert. Genau in dieser Flexibilität ist auch dieses Werk, das einmal nicht aus den emblematischen Falten Sundermeiers besteht (siehe vorheriges und nachfolgendes Bildmaterial), Inbegriff der Falte — nicht als gefaltet, sondern als ein Falten.

    Daher trifft es das Werk auch nicht gänzlich, es als skulpturell zu beschreiben. Skulpturell sein bedeutet: Skulptur sein. Sein. Vielmehr ist es skulpturierend, Conatus besitzend, werdend. Damit teilt es der Fotografie die Aufgabe zu, nicht sein Werden zu dokumentieren, denn das wäre wieder ein Nachvollziehen, sondern es in seinem Werden weiter zu erschaffen, ja es in seinem Falten anzustacheln. Mit Deleuze gesprochen: Das materielle Werk in seiner De-territorialisierung zu steigern, wodurch es in seinem Falten vervielfältigt und vielerorts gleichzeitig werden kann. So wird jedes Foto zu eine Falte des Werks.

     

    Namen haben Sundermeiers Werke nicht. Namen bedeuten Identitäten. Namen bedeuten. Doch es handelt sich hierbei nicht um Werke im klassischen Sinne, nicht um Abgeschlossenes, sondern um Prozesse. Anders formuliert: Sundermeier „fertigt“ nicht, sie faltet, nämlich Falten, die im Falten bleiben. Interessant ist, dass die Künstlerin selbst nicht beantworten kann: Was ist das (Identität)? Was bedeutet das (Zeichen)? Sie mag schlichtweg keine Bedeutungen, keine Produkte. Dies ist sicherlich auch der Grund, weshalb ihre Werke wohl nur verweilen um uns in ihren Bann zu ziehen, uns mit auf den nächsten Sprung zu nehmen, uns in ihr Werden zu verwickeln, hineinzufalten in das so nie Einfältige.

    In ihrem Werden bleiben die Werke, werden animalisch, werden kindlich, werden anders. Dabei kreieren sie Körper, die sich dem Versuch des organischen Strukturierens entziehen. Es sind Körper-ohne-Organe, und damit ganz im Deleuzianischen Sinne. Doch Sundermeiers Werke bleiben diffraktiv in diesem Werden bestehen, kreieren final nichts außer sich selbst, werden nicht zu einem sonstig Anderem. Was bleibt ist ein Werk, das wird, und ein Werden, das bleibt.

     

    Sundermeier ist eine Künstlerin, die vom Material her und zum Material hin arbeitet, denn das PVC ist in seinem „um zu“ Charakter schon allein geruchlich weiterhin greifbar, was ebenso wie seine rau-glatte Haptik Teil des Werkes wird, weshalb, nebenbei bemerkt, einige Kunden doch das Foto als Werk vorziehen.

    Auch dadurch lassen ihre Werke neumaterialistische Ideen so materiell begreifbar werden wie nie zuvor, was ihre besondere philosophische Attraktivität ausmacht. Und das Großartige daran ist: All das ist ihr noch nicht bewusst. Julia Sundermeier, eine (sich noch ent-)faltende Künstlerin.