Die gesamte altägyptische Kultur beruhte auf der Prämisse des richtigen Denkens über die Welt. Der regelmäßige Lauf der Sonne, des Mondes und der Gestirne sowie die wiederkehrende Nilflut waren keine vom Menschen unabhängige Maschinerie. Die Erde, die als flache Scheibe gedacht wurde, stand ständig in Gefahr sich umzukehren, die Sonne in ihrem Lauf stehen zu bleiben und der Ozean seinen angestammten Ort zu verlassen und das Land zu überschwemmen. Übersetzung eines typischen Textes (Jan Assmann, in Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken):
Die Erde ist verwüstet,
der Mond zögert, es gibt ihn nicht mehr,
der Ozean schwankt, das Land kehrt sich um,
der Fluß fließt nicht mehr ab.
Erstaunlich scheint zunächst, daß im obigen Text (vielleicht mit Ausnahme der ersten Zeile) ausschließlich kontrafaktische, d.h. empirisch nicht beobachtbare Katastrophen aufgeführt werden. Wer aber die Mythen des östlichen Mittelmeerraums (bis Persien und Indien) näher untersucht, wird die Kontrafaktizität schnell als omnipräsent und zur Theoriebildung der Antike gehörig verstehen, denn ihre Mythen sind keine empirisch-geschichtlichen Herleitungen des schon Beobachtbaren (diese Form der Theorie war vor der Moderne unbekannt), sondern, mit Rückgriff auf übernatürliche Kräfte, quasi-kausale konstitutive Theorien, die zuallererst beobachtbar machen. Eine Theorie im eigentlichen Sinn (im Gegensatz zum empirischen Modell) ist danach nur jene, die nicht beobachtet, sondern beobachtbar macht. Das aber ist genau die Einsicht Einsteins, daß erst die Theorie entscheidet was beobachtbar ist. Bezogen auf die alten Ägypter bedeutet dies, daß sie eine Theorie des Kosmos hatten und sich dessen auch bewußt waren, denn nur so war der Kosmos nicht nur beobachtbar, sondern auch kontrafaktisch, nämlich theoretisch, thematisierbar. Zum Schutz der Errungenschaft der Beobachtbarkeit wartete im Reich der Pharaonen auf Innovatoren, Transformatoren und Disruptoren fast dreitausend Jahre lang das Krokodilbecken. Das mag uns heute als autoritär und undemokratisch erscheinen, aber nur solange, wie sich nicht Horden von Gestaltungsjunkies ungefragt mit Hammer, Säge und Bohrmaschine unserer Wohnungseinrichtung nähern.
Ich bin absolut davon überzeugt, daß Affen die Sonne nicht auf- und untergehen sehen und sich weder deswegen noch um eine mögliche Umkehrung der Welt sorgen. Wir sind es, die ihnen eine Umwelt und ein spezielles Verhalten zuschreiben. Was sie selbst tun und sind, darüber können wir nichts wissen, denn sie sprechen keine Sprache. Affen sind und tun, was wir über sie denken, und nichts darüber hinaus. Die Höhlenmalereien und Statuetten der Steinzeit hingegen scheinen mir eine Sprache ihrer Erschaffer vorauszusetzen, denn die Abbildung eines Hirsches auf einer Höhlenwand oder die Modellierung von fast auf die weiblichen Geschlechtsmerkmale reduzierter Venusesind Ausdruck einer Theorie, nämlich der rudimentären Trennung von Welt und Ich, und von Mann und Frau. Aber auch der Steinzeitmensch sah die Sonne nicht auf- und untergehen, denn es hätte ihn, wie später die Ägypter, extrem beunruhigen und somit zum Thema seiner Kunst werden müssen. Dies ist aber nicht der Fall. Selbst noch den Griechen galt das Tageslicht als Eigenschaft des Tages und die Dunkelheit als Eigenschaft der Nacht (wir reden noch heute vom Hereinbruch der Dunkelheit - nicht vom Auszug des Lichts!). So konnte denn Heraklith seine Zeitgenossen mit der Feststellung: "Gäbe es keine Sonne wäre es (ständig) Nacht" aufs Äußerste verstören. Auch diese Feststellung ist kontrafaktisch und unbeobachtbar, d.h. Teil der theoretischen Basis einer Theorie.
Die alten Ägypter konnten den Kosmos beobachten und hatten so allen Grund ob seiner Ordnung besorgt zu sein. Die imminente Apokalypse und deren Abwehr war nach Jan Assmann das Grundlebensgefühl jener Zeit. Der 'Rücksturz' ins Chaos und darüber hinaus ins Unbegrenzte (Apeiron) bzw. Nichts, war im Gegensatz zu den Vorsokratikern keine philosophische Rückbindung des Seins an einen Urstoff, sondern tägliche Erfahrung im Kampf gegen das Vergessen und Verfälschen des richtigen Denkens und damit des Seins überhaupt. Es war der Kampf gegen die Theorielosigkeit und damit gegen das Nichts der Nicht-Beobachtbarkeit. Die allzeit drohende 'Seinsvergessenheit' der Ägypter war aber nicht das, was Heidegger darunter verstand - eine abhanden gekommene Fundamentalontologie, ein hinter der Theorie verborgenes Ur-Sein, ein reines Sein im Fluß der Zeit. Das Sein ist jedoch immer nur eines und es ist immer ein theoretisches, auch wenn seine sukzessive Einbettung in die natürliche Sprache die Theorie zur Phänomenologie verschleift und so als Theorie unkenntlich macht. Im krassen Gegensatz dazu haben wir als aufgeklärte Menschen gelernt, daß die Natur außer uns ist und sich in Brüchen (Revolutionen) entwickelt, sowie daß Besseranpasstsein der Motor dieser Entwicklung ist. Aber liegt nicht schon in der Logik des 'besser' das bloß lokale wenn nicht sogar parasitäre Moment einer solchen Besseranpassung? Wie könnte es in einem Ganzen ein besser oder schlechter geben? Als Gegenbegriff zur Entwicklung (Evolution) ziehe ich deshalb den Begriff der Entfaltung vor. Die Entfaltung unterscheidet sich von der Evolution dadurch, daß ihr eine conditio sine qua non mitgegeben ist, die es mit sich bringt, daß Entfaltungsschritte a priori nicht-falsch und daher nicht nur kumulativ sondern augmentativ sind. Diese Urbedingung ist der Imperativ der Denkeinheit, d.h. der Absoluten Widerspruchsfreiheit. Das Neue (hier: die Theorie) der Entfaltung muß daher in seiner Konstitution das Absolut Unfehlbare und somit das Absolut Andere enthalten. Der Widerspruch kann nicht logisch (denn die Logik beruht auf der Identität!), sondern muß Absolut ausgeschlossen werden. Das Absolute ist aber hier kein Hegelsches 'Donnerwort', es bezeichnet nichts Seiendes, sondern die Art der Verfassung des Seins. Erst in dieser speziellen Verfassung des Absoluten spricht das Neue über das Alte so, daß es erscheint, als ob man das Neue schon immer gewußt hätte und sich dessen nur erinnere. Jede Absolut-nicht-falsche Theorie ist ein potentieller, kollisionsfreier neuer Sinn, der die beobachtbare Welt erweitert ohne sie zu verändern; eine Revolution findet nicht statt. Der Ausbruch eines solchen potentiellen Sinns aus Laboratorien und Vorlesungssälen kann aber nur dann gelingen, wenn die neue Theorie in Absolut anderer Weise über das Alte spricht und so das Alte überschreitet ohne es zu entwerten. Erst wenn es keine logische Verbindung mehr zwischen dem Neuen und dem Altem gibt, hat die Sprache die notwendige Freiheit das Neue sukzessive kausal in das Alte einzubinden. Wenn dieser Prozess nach vielen, vielen Generationen abgeschlossen und die dahinterstehende Theorie längst vergessen oder Gemeinplatz geworden ist, reden wir von unabweisbarer (unvermittelter) phänomenaler Wahrnehmung, denn mit der Sprache ändert sich nicht nur die externe Welt, sondern auch unser Körper. Ein Großteil solcher natürlichen Wahrnehmung fiel der Aufklärung als Metaphysik zum Opfer. Die danach entstandenen Modelle der Welt, d.h. empirische, logische, komplexe und probabilistische Theorien, können nie in die natürliche Sprache (und die Sinnlichkeit) eingehen, denn sie machen nicht beobachtbar, sondern verknüpfen das längst beobachtete in ideo-logischer Weise. Da ihnen das Absolute (die rechte Form) fehlt, um sich widerspruchsfrei in das Ganze des Seins zu integrieren, bleiben sie nie einlösbare Versprechen auf die Zukunft und somit sprachzersetzend.
Doch zurück zum Sein. Was dem Sein unterliegt (oder vorausgeht), können wir im Sinne von Kants Ding-an-sich nicht wissen, denn erst die Theorie macht das Ding (welches auch immer) als dieses beobachtbar. In vorempirischer Zeit konnte eine solche neue Theorie als a priori und somit als göttlich assistierte (oder spontane) Offenbarung verstanden werden. Die Frage nach einem Ding-an-sich stellte sich nicht; die Welt und was man über sie dachte, war dasselbe. Erst die beschreibenden Beobachtungswissenschaften und das mit ihnen verbundenea posteriori Paradigma implizierten, daß das, was dem Beobachteten und Beschriebenen als Beobachtetes und Beschriebenes zugrunde liegt, notwendig unerkennbar bleiben muß. Diese duale Denkhaltung von der Welt an-sich und der Welt für-uns - die Uneigentlichkeit der Welt - ist das Hauptvermächtnis der Aufklärung aus dem sich der maßlose Anspruch, daß der Mensch der Herr seines Seins sei, herleitet. Aber was ist das Sein der (Post)Moderne? Nun, ihr 'Sein' ist ein Werden, denn sie ist eine Abfolge von zusammenhangslosen, bzw. sich widersprechenden Ansichten, Methoden und Technologien, die jeweils als Sprung aus der Sackgasse der vorherigen gerühmt werden bevor sie selbst vom nächsten disqualifiziert werden (die Revolution muß ihre Kinder fressen!). Die Parmenidische Illusion des Werdens und der Zeit liegt genau in der Notwendigkeit der permanenten Transienz des Fortschritts; das Werden kann zu nichts werden, denn, einmal in Bewegung gesetzt, läßt es sich kaum noch anhalten. Erst die ständig steigende Anzahl von zunehmend widerstreitenden Bedingungen, die an das Werden gestellt werden (müssen), führt letztlich zu seiner Unkontrollierbarkeit, Paralyse und spurlosen Selbstauflösung. Das Werden ist der Zeit-Weg zurück zu Theorielosigkeit und Unbeoabachtbarkeit. Fliegen wir nicht längst blind?