Eine Stelle bei Pirandello
Ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie eine Stelle in einem Buch lesen, und dabei denken: "Donnerwetter, das ist ja genau meine Meinung!" Fantasie und Realität. Imagination und Erinnerung. Traum als zweite Wirklichkeit. Das Denken des Unmöglichen, und damit verbunden, das Denken der Unwirklichkeit. Etwas, das mich verwundert; etwas, das mir beinahe unmöglich erscheint; etwas, das ich besser verstehen möchte. In einem bekannten Roman des sizilianischen Schriftstellers Luigi Pirandello begegnet mir ein Gedanke, der bereits in einem früheren Beitrag von mir angeklungen ist:
"Nulla s'inventa (...) che non abbia una qualche radice (...) nella realtá; e anche le cose piu strane possono esser vere." (1)
Nichts entsteht aus dem Nichts, so der Gedanke. Der Mensch ist nicht Gott. Er ist gewissermassen nur ein sekundärer Schöpfer. Die Wirklichkeit wird "genommen" und in eine andere Wirklichkeit verwandelt. Selbst eine unwahrscheinliche Geschichte entspringt dem Leben, wie es auf Italienisch sinngemäss weiter heisst. Alles kann wahr sein. Potenziell gibt es unvorstellbar viele Möglichkeiten. Möglichkeiten von Möglichkeiten gar. Ist dann auch alles wirklich? Vielleicht schon ... aber wie?
Das unmöglich Unmögliche
Eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt - sei es im Zusammenhang mit Philosophie, Wissenschaft oder Literatur - ist das Denken des Unmöglichen. Nicht von Semantik und Sinnlosigkeit (meaninglessness) ist hier die Rede, sondern von etwas prinzipiell Unmöglichem, und einen Schritt weiter, von der Unwirklichkeit (Irrealität). Picken wir drei Sätze aus der Luft:
"In der Vergangenheit gab es Dinosaurier, in der Zukunft wird es Drachen geben."
"Die EU will den König der Schweiz stürzen, aber das geschieht nicht."
Wahr oder falsch? Wenn nicht die Frage nach der Wahrheit, welche Frage wäre dann sinnvoll? Es gibt nichts, dass auf irgendeine Art "König der Schweiz" genannt werden könnte (semantisch sinnlos, weil keine Referenz, vielleicht eine literarische Figur), aber der folgende hypothetische Satz ist möglich und im grammatischen Sinne wahrheitsfähig: "Wenn A, dann B oder C." A ist möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich. Witzig an dem patriotischen Satz ist, dass B wahr ist: "aber es geschieht nicht".
Es liesse sich einwenden, dass die Zukunft selbst eine Unwirklichkeit ist, wenn es auch mehr oder weniger wahrscheinliche Prognosen zu künftigen Ereignissen geben kann (philosophisch betrachtet Potenzial und Verwirklichung, wissenschaftlich gesehen statistische Wahrscheinlichtkeiten). Dieser Einwand soll im nächsten Abschnitt angegangen werden. Schauen wir noch einen dritten Satz an, der uns eher wissenschaftlich erscheint:
"Es mag parallele Universen geben, aber wir werden das niemals nachweisen können."
Was wäre hier prinzipiell unmöglich, respektive möglich? Antworten können sein ...
- ... dass es parallele Universen gibt;
- ... dass wir in der fernen Zukunft eine Methode finden werden, um das zu beweisen;
- ... dass wir das auf übersinnliche Weise aufzeigen können (etwa durch Extase);
- ... dass wir als Spezies in der fernen Zukunft überhaupt noch Wissenschaft betreiben;
- ... dass andere Universen unsere geometrischen Dimensionen und unsere physikalischen Eigenschaften aufweisen.
Alles ist denkbar, irgendwie möglich, mehr oder minder begründbar. Das ist eine wenig hilfreiche Annahme, zugegeben. Alles ist möglich? Das hiesse, dass wir das Wort "unmöglich" nicht in einem wörtlichen Sinne gebrauchen können, was aber getan wird. Klar, die Zeit "fliesst ins Tal hinunter", wenn wir das so sagen können (Enthropie). Aber was können wir schon über die entfernte Zukunft aussagen, ausser, dass sie "entfernt" ist, irgendwo "da unten im Tal" stattfindet, was nichts aussagt. Der verstorbene schottische Baron (frisch aus meiner Fantasie) mit einer Schwäche für trockene Blumen kommt nicht zurück, aber warum kann nicht dereinst ein Avatar - eine getreue Kopie - auftreten, die vielleicht den letzten Schritt vollbringt, den das Original im 18. Jahrhundert nicht mehr schaffte? Das klingt reichlich fantastisch, aber es geht um meine Verwunderung bezüglich des menschlichen Denkens. Wiederkehr, Wiedergeburt, die Wiederverkörperung einer Idee? Sind wir tatsächlich so frei (beinahe göttlich), dass wir uns absolut (in jeder Hinsicht) Unmögliches ausdenken können? Meine Antwort bringt nicht viel, denn sie lautet nicht anders als jene von Pirandello: "Die seltsamsten Dinge können wahr sein." Alles wurzelt in der Wirklichkeit, in der kollektiven menschlichen Erfahrung, in der äusseren Welt und in der körperlichen Psyche. Wem das zu stark nach C. G. Jung klingt, darf eine andere Antwort von mir bekommen: Wir wissen es nicht.
Das Mögliche und das Wirkliche
In der Lebenswelt können wir uns einen Platonismus für den Alltag zu eigen machen und hinzufügen, dass das Leben nicht vorherbestimmt ist, sondern dass wir einen gewissen Einfluss darauf haben ("Tugend" wäre hier das platonische und stoische Thema). Unser Leben wird bestimmt durch die Entscheidungen, die wir treffen. Mit einer Entscheidung schalten wir eine Möglichkeit ein und viele alternative Möglichkeiten aus. (Ganz so einfach ist es nicht mit der Vernunft und dem freien Willen, denn es gibt Externalitäten, auf die wir keinen Einfluss haben, von unseren Genen ganz zu schweigen.) Als spekulative Metaphysiker dehnen wir diesen Gedanken wagemutig auf die Ewigkeit aus und können so unendlich viele Alternativen in verschiedenen Universen annehmen (oder zumindest nicht ausschliessen). Sprachlich gesehen bin ich der Auffassung, dass die Definitionen von "Wirklichkeit" und "Möglichkeit" korrelliert sind. Ich improvisiere wieder, und es darf mir immer gerne widersprochen werden (ich fürchte nichts):
D': Das Mögliche ist jenes, das unter günstigen Umständen das Wirkliche werden kann.
D'': Das Wirkliche ist jenes, das innerhalb und ausserhalb der menschlichen Erfahrung prinzipiell möglich und als solches verwirklicht ist. Bei der Unterscheidung innen / aussen geht es ums Prinzip, nicht um Erfahrung und Erkenntnis.
D''': Umstände sind dann günstig, wenn sie Möglichkeiten zulassen, die unter anderen Umständen "unrealistisch" wären, also mit einer Wahrscheinlichkeit, die gegen Null tendiert. Auch Umstände müssen "möglich" sein, wobei anzunehmen ist, dass "Umstände" Fakten plus ein Bündel primärer Möglichkeiten sind.
Es soll hier von erkenntnistheoretischen Erörterungen bezüglich der menschlichen Erfahrung und des Wissens von der Welt abgesehen werden. Es geht hier um die Korrelation von potenziellen und aktuellen Entitäten (was auf freie Art mit der platonischen Ideenlehre verbunden werden könnte). Der Bereich des Möglichen (the realm within the possible) ist im Alltag ziemlich eingeschränkt. Wenn wir wie ein trunkener Gott träumen und die Ewigkeit spielen lassen, dann erscheint plötzlich alles möglich und irgendwie alles wirklich. Das Unwirkliche als Modus des Wirklichen, vielleicht als trügerischer Schein. Wenn der Bereich des Möglichen und des Wirklichen unbegrenzt ist, wie wir als Hypothese annehmen, dann lösen wir damit noch keine Probleme. Auch wird das uns nicht helfen, die schwierige Frage nach der menschlichen Kreativität - als Phase der natürlichen Kreativität und des kosmischen Wandels - zu erhellen. Dann stellt sich früher oder später auch noch die Gottesfrage, ja genau das. Die Möglichkeit zu schweigen ist immer gegeben (Wittgenstein), aber nicht besonders interessant.
Zeit und (Un-) Wirklichkeit
Der Begriff der Ewigkeit spielt im menschlichen Denken eine fundamentale Rolle. Ewigkeit ist zunächst Relativierung - wenn nicht Negierung - der Zeitlichkeit. Nehmen wir das durch mehr als ein Millennium getrennte Denkerpaar A. Shankara und F. H. Bradley - illustre Namen, die an verschiedenen Stellen meiner Dissertation auftauchen (ungekürztes Typoskript, Bern 2009). Das Kriterium im hinduistischen Nondualismus (Aidvata Vedanta, teilweise als Antwort auf buddhistische Lehrmeinungen) des Shankara und verwandter Denker ist die Wirklichkeit der "lebendige Weltgeist" (meine Wortwahl). Die höhere Wirklichkeit ist die Wirklichkeit. Alles "unter" ihr - nicht "ausser" ihr - ist Schein und Verführung durch die Sinne. Ein vergleichbarer Gedanke findet sich bekanntlich in Descartes' Meditationen wieder. Nehmen wir den schlechtesten Fall für die Wissenschaft in Descartes' bekanntem Gedankenexperiment: Die fünf Sinne sind nicht zuverlässig, sie könnten uns manchmal - oder immer - täuschen, weshalb wir einer nichtsinnlichen Grundlage des Wissens bedürfen. Wenn ich über das Denken nachdenke, dann kommt offenbar etwas zur Sinnlichkeit hinzu, eine Art nachträgliche Interpretation meiner Gedanken. Für den hinduistischen Geistlichen, Philosophen und Dichter Shankara und für den bedeutenden Britischen Idealisten Bradley in Oxford ist die Zeit Schein oder - näher bei Bergson gedacht - ein mentales Raster, das uns zwar im Alltag hilft, aber keine höhere Geltung beanspruchen kann. (Für Bradley sind Relationen "Schein" oder Zutaten des menschlichen Intellekts.) Descartes' Cogito würde bei Shankara in abendländischer Diktion (und auf meine Art ohne Gott) so klingen:
"Ich kann nur denken, wenn etwas in mir ist, das denkt. Das etwas ist eine Ursache, aber übersinnlich und allgemeingültig, nicht von meiner Willkür abhängig. Also ist es wirklich, wirkend und wahr. Durch mich denkt sich der Kosmos selbst. Ich bin gewissermassen ein Medium für etwas Höheres (ein Teil des Ganzen)."
Eine kollektive (angeborene) Fehlleistung des Denkens wird ausgeschlossen. (2) Auf was es in diesem Abschnitt ankommt: Was ewig ist, ist wirklich, was vergänglich ist, ist zeitlich und letztendlich Täuschung. Wahrheit ist die Erkenntnis des Wirklichen und des Unwirklichen (von Gut und Böse, biblisch gesprochen). Und mit Bradley weltlich und monistisch betrachtet: Alles, was ist, ist ursprünglich zusammen, oder nichts ist, ausser Schein (Terme und Relationen).
Beim Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Nietzsche im Anschluss an Schopenhauer) spielt sich alles vor dem Hintergrund der Ewigkeit ab. Vorausgesetzt, das Universum ist ewig (man könnte abweichend auch sagen ... ist zyklisch, wiederholt sich ewig), dann spricht nichts dagegen, dass dereinst Phänomene und ihre Bedingungen gleich - oder zumindest sehr ähnlich - auftreten werden. Ja nicht nur das, denn Ewigkeit ist ein Garant für Vielfalt und Vielheit. Also dürfen wir annehmen, dass das Gleiche "unglaublich oft" in grosser Vielfalt an Varianten wiederkehrt. (3) Was nehmen wir da für uns heraus? Das ist eigentlich nahe liegend: So wie unzählige Wiederholungen über unzählige kosmische Zyklen hinweg möglich sind (ich folge hier mehr meinem Kollegen Michael Gallmeister als Friedrich Nietzsche), so ist es auch möglich, dass das Unmögliche "irgendwo in der Ewigkeit" realisiert wird. Anders gesagt: eine Nichtwirklichkeit wird zu einer Wirklichkeit in einem Universum - das unsere oder ein anderes. Das scheint die Erklärung zu sein, die meinem Gefühl bezüglich Fantasie und Realität, Wirklichkeit und Unwirklichkeit eine gewisse spekulative Grundlage gibt.
Wissen und Glaube
Nun höre ich schon alte und neue Aufklärer das Wort "Mystizismus" flüstern, ganz so, als würde ich es nicht hören. Deren Lösung war meistens, Religion von Wissenschaft (und Politik) zu trennen, was methodisch richtig ist. Trennen und das Getrennte separat verwalten - eine Art von Reduktion der Komplexität. Aber anthropologisch und metaphysisch gesehen macht das keinen Sinn. Denn Glauben und Wissen sind Weisen der Gewissheit, und Gewissheit kann einmal subjektiv, ein andermal objektiv sein. Es gibt tatsächlich keine Schiedrichter, die regulieren, wie viel Prozent Glauben und wie viel Prozent Wissen erlaubt oder geboten sind. So kann ich mir bewusst sein, dass die Luft, die mir entgegenweht, ein Gewitter ankündigt. Das ist subjektive Gewissheit, die auf Erfahrung beruht und von mehr als einer Person geteilt wird. Wenn ich ein Meteorologe bin, kann ich theoretisch aufgrund von Statistiken und Messungen aufzeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Gewitters über 75% ist. Und siehe da, nach zehn Minuten beginnt tatsächlich ein Gewitter! Das wäre eine wissenschaftlich fundierte objektive Gewissheit - das, was wir gewöhnlich mit "Wissen" bezeichnen (ich erinnere mich hier an Dewey). Es ist nun nicht so, dass es nichts Wahres, Schönes, Gerechtes und nichts Überzeitliches gibt. Das sind falsche, ungeduldige Behauptungen, die der menschlichen Intuition - und den psychologischen Bedürfnissen - diametral entgegenlaufen. Eine Anti-Intuition-Philosophie verlangt weit mehr als aufklärerisches Gerede um gefügige Geister nochmals rumzukriegen. Man muss sich zuerst die Intuition vornehmen und ansatzweise zeigen, dass sie uns von irgendwem eingetrichtert wurde. Ein schwieriges Unterfangen - besser die Finger davon lassen. A propos "rumkriegen" und missionarischer Eifer! Wissen ist immer ein Stück Glaube, denn neue Forschungsergebnisse (oder bessere Erklärungen bestehender Resultate und Funde) können nie ausgeschlossen werden. Bis wir so weit sind, wollen wir "glauben", dass unsere wissenschafltiche Interpretation akkurat ist. Periodisch angekündigte Wald- und Weltuntergänge sind historisch und sozialpsychologisch höchst interessant. Millenarismus handlich zum Mitnehmen, für moderne Menschen mit viel Mobilität und wenig Religion. Aber sie verbirgt sich überall, diese Religion. Zum Beispiel in der Wissenschaft, wenn plötzlich nur noch eine Lehrmeinung erlaubt ist. Wissenschaft als Religion ist Pseudowissenschaft (Michael Crichton zu Studenten), und auch Pseudoreligion, wie ich getrost hinzufügen darf. (4) Alles hängt irgendwie miteinander zusammen. Materialismus, irrationale Hoffnungen, wahnsinnige Ängste, das Unbehagen in der Post-Kultur. Menschlich, allzu menschlich, wenn die Hoffnung versagt. Umgekehrt ist der Gaube eine Art Wissen - ein qualitatives Wissen von Dingen, die es in Kultur und Geschichte objektiv gibt. Es geht mir nicht darum, die Religion von der Wissenschaft zu "retten" oder teilweise zu immunisieren, wie das vor und nach 1900 ein grosses Anliegen war (was sich auch in der Philosophie niederschlug). Was ich damit sagen will, ist, dass Aufklärung eine Art Mystifikation ist, wenn sie die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Individuen und Gesellschaften einfach übergeht und ein Allerwelts-Weltbild zur Lösung von Allerwelts-Problemen verkaufen will (zwecks politischer Macht). Antike Mythologie ist gut und interessant - neuzeitliche Mystifikation ist schlecht und gefährlich. Denn sie vernebelt den Blick auf die Tragik des menschlichen Daseins, und darauf kommt es an, wenn man nach Lösungen sucht (ich folge wieder in einiger Entfernung Whitehead). Wenn man spekuliert, erreicht man Grenzen, die man vergeblich zu überschreiten sucht. Immerhin lässt sich dies sagen: Eine gewisse politische Seite wird nicht das letzte Wort haben. Denn Einsicht, Ehrlichkeit und Tiefe sind gefragt. Das ist ein guter Trost.
Was haben wir gewonnen?
Es wäre billig, mir einen Glauben an die Ewigkeit zu unterstellen. Es würde hier auch wenig Sinn machen, den Begriff der Ewigkeit zu zerlegen (ewige Zeit oder ewig ohne Zeit). Ich bin einfach milde perplex, wenn ich mir das Verhältnis von Fantasie und Wirklicheit vor Augen führe. Ich bin nicht abergläubisch, sprachverwirrt, zu konservativ, oder sonst eine Etikette. Poetisch ausgedrückt fühle ich, dass es eine Aporie zwischen "alles ist möglich" und "nichts ist möglich" gibt, denn diese beiden theoretischen Extrema sind kontraintuitiv. Wir glauben gewöhnlich nicht an "alles oder nichts", auch wenn wir manchmal so stark sprechen mögen. Also denn, alles ist möglich. Hurra! Morgen bin ich Millionär! Übermorgen bin ich Präsident! Aber weshalb soll diese Feststellung überhaupt interessant sein? Vielleicht ist sie trivial, ironisch oder sogar zynisch gemeint. Ja klar, alles ist möglich, wie gesagt. Die Ewigkeit ist das Sanktuarium der Weltreligionen und eine typische Art philosophischer Spekulation: Schein und Wirklichkeit (Platon, Shankara, Bradley), mein Selbst im Fluss der Zeit, der Fluss der Zeit im Ozean der Ewigkeit, das Göttliche oder die absolute Transzendenz. Was wir gewonnen oder bestätigt haben, ist zunächst Freiheit. Für Nietzsche war die unzählige Wiederholung eines Individuums eine Hypothese mit einer ethischen Implikation. Ich konstruiere sie auf meine Art so:
"Leb dein Leben so, dass es Wert ist, unzählige weitere Male gelebt zu werden. Tu das und befreie dich von Zweifeln, Ängsten und von moralischen Ketten, wenn diese dein Glück und deine Gesundheit beeinträchtigen."
Das Letztere ist im therapeutischen Sinne Freuds (und Reichs) zu verstehen, nicht unbedingt im politischen Sinne Machiavellis. Niemand sagt, eine Person habe das Recht, eine andere zu überrennen oder zu überfahren. Das nicht, aber dies: Recht und Gerechtigkeit sollen der Tatsache Rechnung tragen, dass Menschen faktisch nicht gleich sind, und das heisst: Unterschiedliche Menschen / Gesellschaften haben divergierende Wertsysteme. Die Tendenz - die durch die Ethnologie bestätigt wird -, ist offenbar die, sich selbst als Standard zu sehen, und durch diese Folie andere als Abweichung vom Standard. "Wir, die richtigen Menschen" - ungefähr so verstehen die Asmat auf Papua Neuginea die Eigenbezeichnung ihres Volkes (soweit ich mich erinnere, entspricht das der entspechenden Etymologie). Auf diese Weise werden die eigenen Werte höher gewertet als fremde oder neue Alternativen dazu, ebenso die eigene Freiheit oder die Freiheit des eigenen Staates. Konflikte sind wirklich, nicht eingebildet. (Das vergessen Akademiker zuweilen, weil sie unter dem Schutz des Staates stehen.) Nun, es wurde das Wort "Freiheit" erwähnt - Freiheit zu sein, Freiheit zu schaffen, Freiheit zu arbeiten, Freiheit nichts zu tun. Unser Thema ist ferner eine Lektion in Demut. Wir sind vielleicht nicht einmalig, jedenfalls haben wir nicht die Natur und schon gar nicht das Universum unter Kontrolle, und nichts und niemand hat auf dem blauen Planeten auf unsere nackte, nervöse Spezies gewartet. Es ist durchaus möglich, dass unsere guten diskursiven und intuitiven Gewissheiten keinen "massive error" bewirken, dass wir aber irgendwie einen "general slant" in unser Weltbild eingebaut haben, der eine fundamentale Tatsache ignoriert. Gut möglich, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie mit einer allgemeinen Neigung zu etwas, was eigentlich anders ist, gut zurecht kommen. Prinzipiell heisst das jedoch, uns wieder vermehrt auf unser Menschsein zu besinnen und in einer positiven, durchaus lebensbejahenden Art und Weise "demütig" zu sein und dankbar, für das, was wir haben, wie man zu sagen pflegt. In Wirklichkeit "haben" wir gar nichts. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
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(1) Luigi Pirandello, Il fu Mattia Pascal (1904), Kapitel VIII, Seiten 97-98 in der Ausgabe von 1993, die ich von einer italienischen Studentin geschenkt bekommen habe. Die Wendung "unwahrscheinliche Abenteuer" stammt auch aus Pirandellos witzigem und sehr philosophischen Roman. - Siehe meinen ersten Beitrag auf diesem Portal "Erfinden ist Finden" vom 12. März 2018.
(2) Ich drücke den Gedanken von Brahma als "einziger Ursache" und "einziger Wirklichkeit" so aus, dass sich die Sache wie das anthropische Prinzip anhört. Ich sehe da eine Analogie (etwa so wie bei der Menschwerdung Gottes im Neuen Testament und dem historischen Idealismus Hegels).
(3) Ich mache hier nochmals auf das Gespräch mit dem Fachmann Michael Gallmeister aufmerksam, das interessierte Leser auf dieser Seite finden können: "Die Ewige Wiederkehr neu entdeckt (...)", veröffentlicht am 5. November 2018.
(4) Ganz deutlich war das beim Thema "Waldsterben" in der Schweiz, als es da um 1985 herum ganz bestimmt hiess, dass alle Wälder wegen der Luftverschmutzung "innert der nächsten zwanzig Jahren" zugrunde gehen werden. Der Globus ist heute so grün wie nie zuvor, was Satellitenbilder belegen. Also stimmt etwas nicht. - Herr M. U. ist ein gemässigter Demokrat aus deutsch-jüdischer Familie in Milwaukee. Er sagte mir vor einigen Jahren: "Ich bin zuversichtlich. Wir werden immer eine Lösung finden." Nicht alle (Sozial-) Demokraten sind Pessimisten, wie es scheint. Gut so.