Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Woher kommt Wissen?

Können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr über Diskriminierung wissen, als eine diskriminierte Person?

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    Ein Gedankenexperiment

    Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Forscherin, welche über Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe arbeitet. Sie führen qualitative Interviews mit Betroffenen durch, analysieren bisherige statistische Forschung und machen selbst Experimente. Sie selbst wurden bezüglich Hautfarbe noch nie diskriminiert. Sind folgende Aussagen richtig oder falsch?

    (1) Ich weiss, was Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe ist.
    (2) Ich weiss nicht, was Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe ist.
    (3) Ich weiss mehr darüber als eine direktbetroffene Person, was Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe ist.

    (Gedankenexperiment von Michael Messerli, Universität Zürich)

     

    Kommentar von Hannes Ole Matthiessen, Berlin

    Auf den ersten Blick scheinen die Antworten auf diese Fragen auf der Hand zu liegen. Weiss eine Rassismusforscherin, was Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe ist? Ja, davon ist auszugehen. Sie hat sich jahrelang mit der Materie beschäftigt, kennt die einschlägige Literatur und hatte eingehende Gespräche mit Betroffenen. Häufig wird darauf hingewiesen, dass von Diskriminierung selbst nicht Betroffene nicht merken, wenn andere oder sie selber – ohne böse Absicht sozusagen – zu unterschwellig diskriminierendem Verhalten neigen und somit nicht immer erkennen, wann Diskriminierung vorliegt. Wegen des in ihrer Forschungspraxis erworbenen Feingefühls können wir aber auch dieses bei unserer Forscherin sicher ausschliessen. Damit ist die Aussage (1) wahr und die Aussage (2) falsch.

    Um zu verdeutlichen, wie seltsam eine anderslautende Antwort auf die ersten beiden Fragen wäre, stellen wir uns folgende Situation vor. Unsere Forscherin hat einen dunkelhäutigen Kollegen, mit dem sie seit Jahren zusammenarbeitet. Sie haben bereits gemeinsam Interviews vorbereitet und geführt, Fachliteratur diskutiert, und Konferenzen veranstaltet. Ihr Kollege muss nun wegen gesundheitlicher Probleme die Teilnahme an einer Podiumsdiskussion zum Thema Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe, zu der er eingeladen war, absagen. Es entspinnt sich folgender Dialog:

    Der Forscher: Es ist ein Jammer, dass ich da nicht hinfahren kann. Gern hätte ich ja dich als Ersatz vorgeschlagen, aber du weisst ja leider nicht, was Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe ist.

    Die Forscherin: Ja, wirklich schade. Zwar sind wir beide international anerkannte Experten auf dem Gebiet, aber es ist nun einmal so: Du weisst, was Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe ist, und ich weiss es nicht.

    Warum klingt das lustig? Ganz einfach deshalb, weil nicht ersichtlich ist, worin der Erkenntnisunterschied zwischen den beiden Personen bestehen sollte, wenn wir den im Alltag am weitesten verbreiteten Wissensbegriff, den des propositionalen Wissens, zu Grunde legen. Bei dieser Art Wissen handelt es sich um ein berechtigtes Fürwahrhalten, für das drei Bedingungen erfüllt sein müssen:

    Das wissende Subjekt muss das Gewusste für wahr halten (traditionell wird hier auch von der Überzeugungsbedingung gesprochen).
    Das für wahr gehaltene muss tatsächlich der Fall sein (Irrtümer sind kein Wissen).
    Für das Fürwahrhalten muss eine Berechtigung vorliegen (das Wissenssubjekt kann seine Überzeugung begründen, oder die Überzeugung ist auf eine zuverlässige Methode, wie etwa Sinneswahrnehmung, zurückführbar).
    Propositionales Wissen kann unproblematisch weitergegeben werden. Normalerweise bin ich automatisch berechtigt, das für wahr zu halten, was du mir erzählst. Im Zweifelsfalle kann ich deine Berechtigung zu einer Überzeugung prüfen und damit Gewissheit erlangen. Da es sich in unserem Falle um wissenschaftlich fundiertes Wissen handelt, für das gute Begründungen vorliegen, ist der Gedanke, dass die Forscherin ein bestimmtes Wissen nicht erwerben könnte, über das ihr Kollege verfügt, ganz unverständlich.

    Aber schauen wir uns nun Frage (3) an. Weiss die Forscherin mehr über Diskriminierung von Menschen mit dunkler Hautfarbe als direkt davon Betroffene? Nach dem, was wir bisher festgestellt haben, müssen wir sagen: Es gibt wahrscheinlich direktbetroffene Personen, die mehr wissen als die Forscherin und solche, die weniger wissen als sie. Aber ist dies die endgültige Antwort?

    John Locke wies bereits vor über 300 Jahren darauf hin, dass nur diejenigen wissen, wie eine Ananas schmeckt, die schon einmal eine probiert haben. Alle anderen können zwar erzählt bekommen, dass sie süss schmeckt und reifer Birne mehr ähnelt als Johannisbeeren, aber etwas Entscheidendes fehlt ihnen; im deutschen würde man hier sagen sie kennen den Geschmack von Ananas nicht. Für eine Reihe sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften – Klänge, Geschmäcker, Farben – gilt eben, dass man sie nur dadurch richtig kennenlernt, dass man mit ihnen konfrontiert ist, sie also gewissermassen erlebt. Und etwas Ähnliches scheint sich auch über das Verliebtsein oder Kinderhaben sagen zu lassen. Für alle diese Fälle gilt, dass man zwar eine Menge an relevantem Wissen über sie mitgeteilt bekommen kann, man sie aber richtig erst durch eigenes Erleben kennenlernt.

    Um auf unser Gedankenexperiment zurückzukommen: Gehört Diskriminierung zu den Dingen, die man nur durch eigenes Erleben kennenlernen kann? Ehrlich gesagt weiss ich es nicht.

    Falls nein, so gibt es zwischen unserer Forscherin und ihrem Kollegen tatsächlich keinen relevanten Unterschied bezüglich ihrer Kenntnis von Diskriminierung. Sie kann also sehr wohl an seiner Stelle zur Podiumsdiskussion fahren. Hier lautet die Antwort auf die dritte Frage so, wie oben angedeutet: es gibt direktbetroffene Personen, die mehr wissen, und solche die weniger wissen, als die Forscherin.

    Falls Diskriminierung doch zu den Dingen gehört, die man nur ganz kennt, wenn man von ihnen betroffen war, lautet die Antwort auf die dritte Frage: Selbst, wenn für Wissen im eigentlichen Sinne kein prinzipieller Unterschied zwischen der Forscherin und betroffenen Personen besteht, so kann es doch sein, dass erstere Diskriminierung nicht so kennt, wie viele Betroffene.

    Es besteht nach dieser Lesart also ein relevanter Unterschied zwischen unserer Forscherin und ihrem Kollegen. Wie gross dieser ausfällt, hängt davon ab, ob die fehlende Erfahrung irgendwie kompensiert werden kann. So könnte beispielsweise unsere Forscherin, obwohl sie rassistische Diskriminierung nicht aus eigener Erfahrung kennt, das Phänomen der Diskriminierung sehr gut kennen, weil sie als Rollstuhlfahrerin selbst davon betroffen ist. Dies erlaubt ihr dann, auch rassistische Diskriminierung besser zu verstehen als Menschen ohne Diskriminierungserfahrung. Ganz allgemein scheint auch die menschliche Fähigkeit zur Empathie gute Aussichten zu bieten, ohne eigenes Erleben durch Gespräche zu erfahren, was Diskriminierung ist.

    Selbst wenn man bezüglich der Möglichkeit, bestimmte Arten der Diskriminierung über analoge Erfahrungen oder durch Empathie kennenzulernen skeptisch ist, so heisst das keinesfalls, dass unsere Forscherin ihren Kollegen nicht bei der Podiumsdiskussion vertreten kann. Auch wenn beide sich darin einig sind, dass zwischen ihnen gewisse Erkenntnisunterschiede bestehen, so wissen sie auch, dass kaum etwas davon von Bedeutung ist für die Frage, ob sie zum Thema rassistische Diskriminierung kompetent sprechen und anderen etwas beibringen können.