Empathie oder Dialog?

Warum wir uns oft selbst spiegeln beim Versuch, den Anderen zu verstehen

    „Alles Fragen und Wissenwollen setzt ein Wissen des Nichtwissens voraus.“

    – Hans-Georg Gadamer –

     

    Tagtäglich interagieren wir mit anderen Menschen: in unseren persönlichen Beziehungen, auf der Arbeit oder bei unseren zufälligen Begegnungen im öffentlichen Raum. Für diese Interaktionen benötigen wir auf die ein oder andere Weise ein Verständnis für die Menschen, denen wir begegnen. Wir benötigen ein Verständnis für ihre Überzeugungen, Wünsche und Emotionen – nicht zuletzt, um eine Idee davon zu haben, was diese Menschen tun werden: womit wir rechnen können und womit wir nicht rechnen können. Um die Menschen, denen wir begegnen, zu verstehen, nutzen wir u. a. unsere Fähigkeit zur Empathie und unsere Fähigkeit zum Dialog.

    Wenn Menschen versuchen, andere Menschen zu verstehen, kommt es notgedrungen auch zu Missverständnissen. Dennoch sollten wir bestrebt sein, Missverständnisse zu minimieren, denn sie können sich schwerwiegend auswirken – gerade bei unseren langfristigen Beziehungen im Privat- oder im Arbeitsleben. Dies trifft besonders dann zu, wenn Missverständnisse über längere Zeit hinweg unaufgelöst bleiben und im Hintergrund schlummern. Verschlimmert wird die Lage, wenn sich Missverständnis auf Missverständnis türmt. So kann ein unsichtbarer Berg zwischen den Interagierenden erwachsen, der ein ausgeglichenes Miteinander irgendwann unmöglich macht. Dieser Berg kann so groß werden, dass er letztlich sogar zu einer privaten oder beruflichen Trennung führt.

    Der Titel dieses Blogbeitrags suggeriert, dass wir uns beim Versuch, den Anderen zu verstehen, zwischen zwei Fähigkeiten zu entscheiden haben: entweder Empathie oder Dialog. Aber warum sollte das so sein? Wie wir noch sehen werden, gibt es ein Problem mit unserer Fähigkeit zur Empathie: Sie führt häufig in die Irre. Diese Diagnose mag irritierend wirken, da wir in einer Kultur leben, in der Empathie grundsätzlich positiv bewertet wird. Aber wir – die Autoren dieses Textes – möchten ein differenzierteres Empathiebild zeichnen, das sowohl ein Bewusstsein für die Defizite der Empathie schaffen soll als auch auf eine Reduzierung dieser Defizite hinweisen soll, die durch eine bestimmte Art des Dialogs erreicht werden kann.

    Empathie“ ist ein schillernder Ausdruck, der auf die unterschiedlichsten Weisen verstanden wird. Wir möchten den Ausdruck „Empathie“ benutzen, um uns auf eine Fähigkeit zur Perspektivübernahme zu beziehen, die sowohl kognitive als auch affektive Aspekte miteinander verbindet. Bei dieser Perspektivübernahme versteht man nicht nur, wie es für den anderen in seiner Situation ist, sondern man spürt es auch. Das Ziel von Empathie ist nicht – und das ist ein entscheidender Punkt – zu erfahren, wie es für uns selbst wäre, in der Situation des Anderen zu sein, sondern das Ziel ist, zu erfahren, wie es für den Anderen ist, in seiner Situation zu sein (vgl. Coplan 2011). Und genau hier liegt die zentrale Schwierigkeit: das Projektionsproblem.

    Wir wissen aus der empirischen Psychologie seit dem Ende der siebziger Jahre vom sogenannten false consensus effect (vgl. Ross, Greene & House 1977), dem Effekt der „falschen Übereinstimmung“, der dadurch entsteht, dass wir – ohne es zu bemerken – unsere eigenen Überzeugungen, Wünsche und Emotionen auf andere Menschen projizieren. Dadurch entsteht das Projektionsproblem: Statt zu geglückter Empathie kommt es zur Projektion großer Anteile der eigenen Perspektive auf die Perspektive der anderen Person. Anders gesagt: Häufig stellen wir uns nicht vor, wie es für den Anderen ist, in seiner Situation zu sein, sondern wir stellen uns – ohne es bewusst zu wollen – vor, wie es für uns selbst wäre, in der jeweiligen Situation zu sein.

    Kann man das Projektionsproblem umgehen? Da wir dem false consensus effect zufolge dazu tendieren, Ähnlichkeiten zu sehen, wo keine sind, besteht die Lösung darin, auf die Unähnlichkeiten zwischen uns und anderen Personen aufmerksam zu werden. Man könnte meinen, dass das durch gründlicheres Imaginieren der Perspektive des Anderen gelingen könnte – sprich: durch verbesserte Empathie. Der Einzelne, so könnte man denken, kann durch Selbstreflexion darauf aufmerksam werden, worin die Unterschiede zwischen sich selbst und dem Anderen liegen. Unserer Meinung nach ist dieser Vorschlag nicht vielversprechend, weil er überschätzt, was der Einzelne durch Selbstreflexion hinsichtlich der Weltperspektive des Anderen – aber auch seiner eigenen – erfassen kann.

    Unserer Meinung nach sind wir nur bedingt dazu in der Lage, durch Selbstreflexion die Weltperspektive des Anderen zu verstehen, denn wir sind in unserer eigenen Weltperspektive so fest verankert, dass wir sie nicht per Knopfdruck ausblenden können. Diese feste Verankerung ist auch der Grund dafür, weshalb wir nicht einmal unsere eigene Weltperspektive durch Selbstreflexion problemlos in ihrer Gänze erfassen können, denn diese ist uns so selbstverständlich, dass wir uns ihrer – zumindest teilweise – oftmals nicht explizit bewusst sind (und sie somit auch nicht ausblenden können, um etwa Projektion zu vermeiden).

    Unsere eigene Weltperspektive ist wie die sprichwörtliche Brille, durch die wir gewohnt sind, die Welt zu sehen. Und da unsere Aufmerksamkeit auf der Welt liegt und nicht auf der Brille, vergessen wir den Einfluss der Brille. Wir können unsere Brille allerdings nicht einfach abnehmen, denn ohne Brille sehen wir nichts. Wir können nicht keine Weltperspektive haben. Die Notwendigkeit, eine eigene Weltperspektive zu haben, und die Schwierigkeit, sie vollständig zu reflektieren, sind sicherlich wesentliche Gründe für den false consensus effect.

    Unser eigener Vorschlag, den wir auf die Herausforderung des Projektionsproblems geben wollen, ist inspiriert durch die Theorie des Verstehens und des Dialogs von Hans-Georg Gadamer zum einen und Donald Davidson zum anderen (vgl. Gadamer 2010 [1960]; Davidson 1984). Statt auf den Einzelnen und seine Reflexionsfähigkeit setzt unser Vorschlag auf eine bestimmte Art des Dialogs. Wir benötigen die Begegnung mit Andersdenkenden, Anderswünschenden und Andersfühlenden im Dialog, um im Kontrast zu diesen anderen auf die eigenen Besonderheiten aufmerksam werden zu können. Jedoch braucht es hierfür eine bestimmte Art des Dialogs.

    Es braucht einen Dialog, den wir den „empathischen Dialog“ nennen, in dem bloße Empathie ergänzt wird durch eine tastende Art der Gesprächsführung. Ein solcher Dialog setzt ein Wissen des eigenen Nichtwissens voraus: zum einen ein Wissen des Nichtwissens von der wirklichen Weltperspektive des Gesprächspartners und zum anderen ein Wissen des Nichtwissens über große Teile der eigenen Weltperspektive.

    Man könnte meinen unser Vorschlag sei zirkulär: Wenn der empathische Dialog ein Wissen vom Nichtwissen voraussetzt, so setzt er doch gerade das voraus, was er lösen soll – oder? War nicht die Wurzel des Projektionsproblems der false consensus effect, der besagt, dass wir oftmals gerade kein Wissen davon haben, wie unterschiedlich wir Menschen sind? Der empathische Dialog setzt tatsächlich ein abstraktes Wissen vom Nichtwissen voraus, d. h., er setzt voraus, dass wir von der Unterschiedlichkeit der Menschen im Allgemeinen wissen. Allerdings setzt er kein konkretes Wissen vom Nichtwissen voraus, d. h., er setzt nicht voraus, dass wir in Einzelfällen wissen, wie genau der Andere sich von uns unterscheidet. Im Gegenteil: Der empathische Dialog soll gerade dieses konkrete Wissen liefern!

    Aber der empathische Dialog kann das Projektionsproblem nur halb lösen. Die andere Hälfte der Problemlösung erfordert eine Veränderung unserer Kommunikationskultur, unserer Kommunikationswerte. Die andere Hälfte des Projektionsproblems liegt nämlich in dem, was Michael P. Lynch die Know-It-All Society nennt, eine Kultur, die zur Scham vor Unwissenheit und zur intellektuellen Arroganz führt (vgl. Lynch 2019). Lynch schreibt:

    „Wir hassen es so sehr, nicht zu wissen, dass wir versuchen, uns selbst – und alle anderen – davon zu überzeugen, dass wir mehr wissen, als wir tatsächlich wissen. All dies deutet darauf hin, dass die Saat der intellektuellen Arroganz in den Boden unserer sozialen Interaktionen gepflanzt wird. Die Saat ist nicht die Unwissenheit selbst, sondern unsere gesellschaftlich verstärkte Angst davor. [...] Intellektuelle Arroganz ist daher eine ausgesprochen soziale Haltung.” (Lynch 2019: 21; unsere Übersetzung)

    Dies ist eine soziologische Diagnose. Sie besagt, dass wir den Zustand des Nichtwissens in unserer Gesellschaft als so problematisch empfinden, dass wir dazu tendieren, andere und sogar uns selbst darüber zu täuschen, wie wenig wir eigentlich wissen. Eine Folge dieser Tendenz ist auch, dass wir nicht in einen empathischen Dialog einsteigen, d. h., dass wir nicht adäquat nachfragen und uns somit die Unterschiede zwischen uns und anderen Menschen verborgen bleiben.

    Fragen ist in unserer Gesellschaft zu großen Teilen nicht positiv konnotiert, sondern mit dem Makel des Nichtwissens behaftet. Somit wollen wir so viel wie möglich allein herausfinden. Das Resultat ist Projektion statt Verstehen. Dieser Aspekt betrifft sowohl unsere persönlichen Beziehungen als auch unsere Arbeitsbeziehungen und hat vermutlich auch weitreichende Folgen für unser Bildungssystem. Auch dort wird das Antworten oftmals höher geschätzt als das Fragen.

    Der erste Schritt in Richtung einer Auflösung des Projektionsproblems liegt also nicht im empathischen Dialog selbst, sondern in einer Veränderung der kulturellen Voraussetzungen für diesen Dialog: Statt intellektuelle Arroganz durch eine Stigmatisierung des Nichtwissens indirekt zu fördern, sollte der Wert vom Wissen des Nichtwissens gefördert werden. Dies führt zu einer anderen sozialen Haltung: Statt zur Haltung intellektueller Arroganz führt dies zur Haltung intellektueller Bescheidenheit.

    Die Haltung der intellektuellen Bescheidenheit ist insbesondere relevant für die Frage, wie wir im Dialog auf Missverständnisse reagieren sollten. Bei auftretenden Missverständnissen sollten wir zunächst unterstellen, dass unser Gegenüber etwas Sinnvolles gesagt hat und wir die Ursache für das Missverständnis sind, weil wir aus unserer Weltperspektive heraus etwas in die Äußerungen unseres Gegenübers hineingelegt haben, was dort nicht hingehört. Davidson nennt das Prinzip, das einem solchen Vorgehen zugrunde liegt, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation.

    Die Aufklärung des Missverständnisses besteht nun darin, dass wir gemeinsam mit unserem Gegenüber im Rahmen eines empathischen Dialogs herausfinden müssen, ob wir möglicherweise bewusst oder unbewusst etwas in seine Perspektive hineingelegt haben, was dort nicht hingehört. Dies geschieht, indem wir uns nach und nach in seine Perspektive hineinfragen. So konturieren sich unsere eigene Weltperspektive und die des Gegenübers im Gespräch durch wechselseitige Abhebung. Wir erkennen, wer der Andere ist, während wir erkennen, wer wir sind; und wir erkennen, wer wir sind, während wir erkennen, wer der Andere ist. Fremdverstehen und Selbstverstehen gehen Hand in Hand.

    In diesem Verstehensprozess spielt auch Empathie eine nützliche Rolle, denn sie kann helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Dafür müssen wir uns vorstellen, wie es vermutlich für den Anderen ist, in seiner Situation zu sein, was er glauben, wünschen oder fühlen muss, damit seine Äußerungen und sein Verhalten eine kohärente Weltperspektive ergeben. Empathie hat also ihren würdigen Platz in unserer Verstehenspraxis, wenn sie eingebunden ist in einen dialogischen Verstehensprozess.

    In diesem Verstehensprozess kommen unsere Weltperspektiven in Bewegung, denn letztlich sind unsere Weltperspektiven nach einem solchen Dialog nicht mehr dieselben. Die Perspektive des Anderen geht in unsere ein und umgekehrt. Auch wenn wir unsere Position in Bezug auf einzelne Themen nicht verändert haben, so haben wir dennoch ein besseres Verständnis davon gewonnen, wer wir selbst und wer der Andere ist. Diesen dialogischen Vorgang nennt Gadamer Horizontverschmelzung – eine Verschmelzung der Weltperspektiven. Eine solche Verschmelzung beinhaltet nicht, dass die Unterschiede verloren gehen. Ganz im Gegenteil! Gemeint ist, dass beide Weltperspektiven nach ihrer Begegnung im empathischen Dialog einen gemeinsamen Verständnisboden kreieren, der die Grundlage für wechselseitige Kritik bilden kann, aber auch für wechselseitiges Verständnis.

    In der Praxis ist eine solche Horizontverschmelzung überaus schwierig, denn dafür benötigt es mindestens zwei Personen, die dazu gewillt sind, einen empathischen Dialog zu führen. Und selbst wenn sich zwei solche Personen finden, kommen oft Stress und Ungeduld in die Quere, aber auch im Hintergrund liegende Status- und Machtfragen. Diese Probleme stehen allerdings auf einem anderen Blatt geschrieben.

    Was wir letztlich feststellen können, ist, dass das Einfließen unserer Weltperspektive in den Verstehensprozess eine konstruktive und eine destruktive Seite haben kann. Das Einfließen hat eine konstruktive Seite, wenn es zum Einsatz kommt, um zu Beginn eines Gesprächs eine vorläufige, zum Teil an die eigene angelehnte Weltperspektive unseres Gegenübers zu entwerfen, innerhalb der die einzelnen Äußerungen des Gegenübers einen vorläufigen Sinn ergeben.

    Das Einfließen unserer Weltperspektive hat eine destruktive Seite, wenn es unentdeckt bleibt; wenn die Gesprächspartner nicht wissen, dass ihre eigene Weltperspektive notgedrungen ins Gespräch und ihre Empathiebemühungen einfließt. Dann werden sowohl Empathie als auch Dialog zur bloßen Projektion. Wir müssen also ein Wissen von unserem Nichtwissen haben, um einen empathischen Dialog führen zu können, in dem das Projektionsproblem reduziert wird. Und wir benötigen darüber hinaus eine Kultur der intellektuellen Bescheidenheit, in der nicht nur das Antworten, sondern auch das Fragen zu seiner Würdigung gelangt.

     

    Literatur:

    Coplan, Amy (2011): “Understanding Empathy: Its Features and Effects.” In: A. Coplan and P. Goldie (ed.): Empathy, Philosophical and Psychological Perspectives. New York: Oxford University Press. 3-19.

    Davidson, Donald (1984): Inquiries into Truth and Interpretation: Philosophical Essays. Oxford: Clarendon Press.

    Gadamer, Hans-Georg (2010 [1960]): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck.

    Lynch, Michael Patrick (2019): Know-It-All Society. Truth and Arrogance in Political Culture. New York: Liveright Publishing Corporation.

    Ross, Lee, David Greene & Pamela House (1977): “The ‘False Consensus Effect’: An Egocentric Bias in Social Perception and Attribution Processes.” In: Journal of Experimental Social Psychology 13. 279-301.