Schweden hat es getan, Deutschland ebenso, die Schweiz wird es möglicherweise bald tun. Immer mehr Länder bemühen sich um eine Reform ihres jeweiligen Sexualstrafrechts.i Dieses Bestreben geht einher mit einer Überzeugungsverschiebung hinsichtlich des grundlegenden Unrechts sexueller Grenzüberschreitungen: Die Überzeugung, dass dieses Unrecht Zwang oder Gewalt sein muss – eine Überzeugung, welche sich in der Notwendigkeit der Feststellung eines Nötigungstatbestands widerspiegelt, wie sie auch das (noch nicht reformierte) Schweizerische Sexualstrafrecht erfordert – weicht zunehmend der Überzeugung, dass der Kern dieses Unrechts aus dem Angriff auf die Selbstbestimmung eines Individuums hinsichtlich seiner sexuellen Sphäre bestehtii. In anderen Worten: Das Hauptunrecht besteht darin, dass diejenige Instanz, welche befugt ist, über einen bestimmten Bereich zu bestimmen, in ihrer Funktion als normative Gralshüterin dieses Bereiches missachtet wird. Eine solche Missachtung ist dann gegeben, wenn (hinsichtlich des besagten Bereiches) ohne Einwilligung der besagten Instanz gehandelt wird. Dieser neueren Überzeugung nach wird Einwilligung aus gleichsam moralischer wie rechtlicher Perspektive als ausschlaggebende, normative Macht anerkannt: Sexuelle Handlungen, welche die Körper von anderen involvieren, bedürfen deren Einwilligung. Sie sind nur dann erlaubt. Sexuelle Handlungen ohne Einwilligung sind nicht erlaubt resp. verboten.
Aus moralphilosophischer Perspektive kann, grob heruntergebrochen, zwischen zwei besonders relevanten Fragen hinsichtlich Einwilligungen zu sexuellen Handlungen unterschieden werden. Erstens: In welcher Form muss sich eine Einwilligung zu einer sexuellen Handlung manifestieren? Zweitens: Was genau macht eine Einwilligung zu einer gültigen Einwilligung? In diesem Text steht die Beantwortung ersterer Frage im Zentrum, wobei es hier insbesondere zwei Modelle sind, die in juristischen Diskussionen immer wieder miteinander verglichen werden, deren Betrachtung sich aus moralphilosophischer Perspektive aber genauso anerbietet: Das „Nein heisst Nein“-Modell und das „Nur Ja heisst Ja“-Modell. Es ist an dieser Stelle mit Nachdruck hervorzuheben, dass die folgenden Hervorhebungen zu den Modellen einzig auf moralischen Erwägungen, nicht aber auf strafrechtlichen Erwägungen aufbauen. Die moralphilosophische Empfehlung kann, muss sich aber nicht notwendigerweise mit der (bestmöglichen) strafrechtlichen Empfehlung hinsichtlich desselben Gegenstandes decken.
Vertreter*innen eines „Nur Ja heisst Ja“-Modells sehen Einwilligung zu einer sexuellen Handlung nur da gegeben, wo Zustimmung zu dieser Handlung ausgedrückt resp. kommuniziert wird. Vertreter*innen eines „Nein heisst Nein“-Modells aber glauben, dass, solange keine Ablehnung ausgedrückt wird, davon auszugehen ist, dass zu einer sexuellen Handlung oder Handlungsabfolge stillschweigend zugestimmt und eingewilligt wird. Beide Modelle lassen in der Regel viel Spielraum hinsichtlich der Art und Weise, in welcher die jeweiligen Zustimmungen resp. Ablehnungen kommuniziert werden können und anerkennen sowohl verbale und non-verbale Ausdrucksformen von Zustimmung resp. Ablehnungiii. Der moralische Hauptunterschied zwischen den beiden Modellen zeigt sich allen voran in ihren unterschiedlichen Anforderungskatalogen an die in sexuelle Handlungen Involvierten. Dem „Nein heisst Nein“-Modell nach müssen diejenigen, welche nicht zur Durchführung einer sexuellen Handlung am eigenen Körper einwilligen wollen, ihre Ablehnung der Handlung kommunizieren. Erst, wer sich über eine ausgedrückte Ablehnung hinwegsetzt, handelt ohne Einwilligung und unerlaubt. Das „Nur Ja heisst Ja“-Modell hingegen kennt keine solche Vetopflicht auf Seiten derjenigen, deren Körper von anderen in sexuelle Handlungen involviert werden: Vielmehr liegt es, wenngleich grundsätzlich an allen Involvierten, allen voran aber doch jeweils an den Handlungsinitiierenden, im Vorhinein sowie im Zuge der Handlung sicherzustellen, dass diejenigen, deren Körper sie in sexuelle Handlungen zu involvieren gedenken, auch tatsächlich und nach wie vor zustimmen. Wer nicht unerlaubterweise sexuell handeln will an und mit anderen, hat dem „Nur Ja heisst Ja“-Modell nach genau zwei Möglichkeiten: Die eigene Sorgfaltspflicht wahrnehmen und sicherstellen, dass alle Beteiligten zur Handlung zustimmen und einwilligen – oder nicht handelniv.
Ein Vorteil des „Nein heisst Nein“-Modells ist, dass es dem oftmals fliessenden Charakter sexueller Handlungen sowie dem sinnlich-körperlichen Vergnügen, welche viele Menschen aus diesen zu ziehen wünschen, in gewisser Weise entgegenzukommen scheint: Solange keine Ablehnung ausgedrückt wird, ist davon auszugehen, dass der beliebigen Entwicklung eines sexuellen Geschehens stillschweigend zugestimmt und erlaubterweise gehandelt wird. Es ist denn aber auch genau dieser Punkt, der in Hinblick auf die normative Praxis der Einwilligung moralische Bedenken hervorruft. In vielen anderen Lebensbereichen würde niemals davon ausgegangen, dass stillschweigend zu Handlungen zugestimmt und eingewilligt wird, es sei denn, man signalisiert Gegenteiliges. Wieso gerade für einen derart sensiblen Bereich, wie die eigene sexuelle Sphäre eine darstellt, andere normative Spielregeln erforderlich wären, ist unklar. Auch müsste eine Vetopflicht, wie sie das „Nein heisst Nein“-Modell kennt, zunächst erst einmal moralisch begründet werden. Dass aber genau diejenigen, welche befugt sind, die normative Situation hinsichtlich eines bestimmten Bereiches zu bestimmen, immer erst kommunizieren müssten, dass sie andere aus diesem Bereich ausschliessen, um Tangierungen desselben durch andere überhaupt wirksam als unerlaubt deklarieren zu können, hat kontraintuitiven Beigeschmack. Tine muss nicht zuerst kommunizieren, dass es für sie nicht ok ist, wenn Thea in ihre Wohnung eindringt, um Theas Eindringen in Tines Wohnung als unerlaubt zu deklarieren. Es liegt vielmehr an Thea, vorab sicherzustellen, dass Tine dem Vorhaben zustimmt. Es ist vielmehr eine Frage des Respekts gegenüber denen, welche die normative Kontrolle über einen bestimmten Bereich ausüben können, dass wir gefordert sind, eine Stellungnahme ebendieser einzuholen und im Zweifelsfall nachzufragen, statt von einer grundsätzlichen Handlungserlaubnis auszugehen.
Anders als das „Nein heisst Nein“-Modell vermag das „Nur Ja heisst Ja“-Modell diesem Respekt Rechnung zu tragen. Moralisch gesehen überzeugt sein Postulat, dass nur da von Einwilligung ausgegangen werden darf, wo Zustimmung ausgedrückt wurde und dass es an anderen liegt, in aktiver Weise unsere Zustimmung sicherzustellen hinsichtlich Handlungen in einem Bereich, in dem die Gestaltung der normativen Situation uns, nicht aber ihnen unterliegt. Moralisch gesehen ist das „Nur Ja heisst Ja“-Modell denn auch das anspruchsvollere Modell, da es mehr Achtsamkeit, Voraussicht und Kommunikation auf Seiten aller Beteiligten erfordert – insbesondere aber auf Seiten der Handlungsinitiierenden: Sie sind es, die sich moralischen Vorwürfen ausgesetzt wiederfinden, wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht ungenügend nachkommen und ohne Zustimmung anderer handeln. Zwei Dinge sollten zum Schluss nicht in Vergessenheit geraten: Einerseits sind viele moralische Regeln anspruchsvoll – dennoch kann ihnen ihre Legitimität nicht vernünftigerweise abgesprochen werden. Anderseits sind weder Sexualität noch Kommunikation herrschaftsfreie Sphären – auch innerhalb des „Nur Ja heisst Ja“-Modells nichtv. Wie stimmen wir zu und zu was stimmen wir zu? Hierarchische Gesellschaftsstrukturen zeigen sich oftmals auch in Situationen, in denen wir Zustimmung vorfinden. Vermeintlich freiwillige Einwilligungen können Produkt hartnäckiger (Geschlechter-)Stereotype sein. Die moralische Fürsprache für ein Modell entbehrt grundsätzlich also nicht der Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die das Modell hervorgebracht wurde und in die das Modell einzubetten ist.
i Vgl. hierzu mit URL: https://www.stopp-sexuelle-gewalt.ch/de/news/neue-gesetzesvorlage-sexualstrafrecht [aufgerufen am 16. Juni 2020]. Eine umfassende Auseinandersetzung zum Reformbedarf hinsichtlich des spezifischen Kontexts des Schweizer Sexualstrafrechts findet sich in Scheidegger, Nora (2018): Das Sexualstrafrecht der Schweiz: Grundlagen und Reformbedarf. Bern: Stämpfli Verlag.
ii Vgl. mit dem Aufruf „Übergriffe angemessen bestrafen. Das Schweizer Sexualstrafrecht muss revidiert werden. Das fordern 22 Strafrechtsprofessoren“, in: Tages-Anzeiger (04.06.2019) URL: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/uebergriffe-angemessen-bestrafen/story/15727953 [aufgerufen am 12. Juni 2020]
iii Vgl. Hörnle, Tatjana (2018): „Rape as Non-Consensual Sex“, in: Müller, Andreas/Schaber, Peter (Hg.): The Routledge Handbook of the Ethics of Consent. London: Routledge, S. 238.
iv Vgl. Dougherty, Tom (2018): „Affirmative Consent and Due Diligence“, in: Philosophy & Public Affairs 46 (1), S. 101.
v Vgl. Torenz, Rona (2019): „Ja heisst Ja“? Feministische Debatten um einvernehmlichen Sex. Stuttgart: Schmetterling Verlag, S. 61f.