Wozu Kunst? – Diese Frage hat in dem Maße an Anstößigkeit verloren, in dem die Vorstellung einer radikalen künstlerischen Autonomie problematisiert, bekämpft, verteidigt, verabschiedet wurde oder auch einfach verblasst ist. Die schroffe Zurückweisung jeder Funktionszumutung ist eher nicht mehr aktuell. Dennoch bleibt die Sache prekär. Kaum eine Künstlerin wird sich der Frage frontal aussetzen wollen, wofür das gut sein soll, was sie da gemacht hat, und für die Künste in allen ihren Disziplinen und Spielarten wird man erst recht kaum eine einheitliche Antwort geben können. Wenn es aber einen gemeinsamen Nenner gibt, auf den sich die meisten Künstler*innen, Kritiker*innen und Theoretiker*innen einigen können, so ist es wohl derjenige der Kritik.
Überzeugende, gute Kunst ist kritische Kunst, sei es rein formal, indem sie explizit Stellung bezieht oder direkt in Gesellschaft interveniert. Noch allgemeiner formuliert: Kunst verdoppelt das Bestehende nicht einfach und bestätigt es auch nicht unbesehen, sondern befragt es bis zur radikalen Verwerfung und eröffnet Spielräume bis zum utopischen ganz Anderen. Das bedeutet nicht, dass Kunst nicht auch unterhalten darf. Aber sie muss, wenn sie ihrem Begriff gerecht werden will, gleichzeitig herausfordern – sie muss Unterhaltung noch in dem Moment kritisch beleuchten, in dem sie selbst unterhält, oder zumindest die Möglichkeit dazu eröffnen.
In Bestimmungen von derartiger Allgemeinheit werden offensichtlich Kunstauffassungen über einen Kamm geschoren, die nichts miteinander zu tun haben (wollen), die sich unter Umständen bis aufs Blut bekämpfen oder als nicht satisfaktionsfähig ignorieren. Was sie aber allesamt ausschließen, ist die ungebrochene Affirmation, die das Bestehende ganz in Ordnung findet, und den reinen Eskapismus, der der Unerträglichkeit der Welt den Rücken zuwendet und so auch alles beim Alten lässt.
Wenn auch die meisten Theoretiker*innen all dies nicht nur in Bezug auf die bildende Kunst, sondern für Kunst überhaupt, also auch für Musik, Theater, Tanz, Film, Literatur etc. vertreten, scheint die tatsächliche Praxis der meisten Menschen hier doch etwas anderes zu sagen. Sicher, jeder hat seine guilty pleasures, und noch die reflektierteste Kritikerin wird sich bisweilen dem Konsum von kulturindustrieller Meterware hingeben, um sich zu entspannen, oder auch einfach tanzen gehen – Musik und Film, die omnipräsenten Serien eingeschlossen, scheinen hier eine besondere Rolle zu spielen. Aber gerade bei der Musik gibt es ein Moment, das man nicht so einfach als momenthaftes Herausfallen aus der reflexiven Mündigkeit abtun kann und das gerade in diesen Zeiten der Ungewissheit und erzwungenen Isolation eine große Rolle spielt: den Trost. (Das Tanzengehen soll hier nicht geringgeschätzt werden, aber das ist ein Thema für sich.)
Dass wir alle trostbedürftig sind, gilt aber nicht nur jetzt gerade, sondern es ist Teil unserer von Abschied und Verlust geprägten Existenz. Wenn es ein Musikstück gibt, das diese Trostbedürftigkeit ausdrücklich zum Thema gemacht hat, so ist es Johannes Brahms’ Deutsches Requiem von 1869. Im Mittelpunkt steht weniger die ewige Ruhe der Toten als der Trost der Lebendigen – das Trostversprechen erscheint hier geradezu als Kern des Christentums. Die musikalische Realisierung der scheinbar rhetorischen Fragen „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ verrät keine gelassene oder triumphale Sicherheit, sondern ein trotziges Aufbegehren, ein fast gewaltsames Löcken wider diesen Stachel. Die Toten mag Seligkeit erwarten, die Lebenden aber müssen getröstet werden, und zwar auf sehr weltliche und menschliche Weise: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66, 13) Dem Stück gelingt dies deutlich besser in den verhaltenen und melancholischen Passagen als in den strahlenden, die die göttliche Ewigkeit preisen.
Auch wenn wohl jede*r dieses Bedürfnis kennt und sich kaum eine*r dieser Vorstellung entziehen kann, bleibt in Bezug auf Kunst und Musik doch der Verdacht, dass es hier um eine Beschwichtigung, eine Form des Quietismus gehen könnte, die sich die Energie eines möglichen Aufbegehrens gegen die Ungerechtigkeit für ein leeres Versprechen abhandeln lässt. In aller Deutlichkeit findet sich dieser Verdacht artikuliert in Theodor W. Adornos Texten, auch und gerade in denen zur Musik. Die Reihe der Adjektive, mit denen der Trost an verschiedenen Stellen versehen wird, ist eindrucksvoll und ziemlich eindeutig: billiger, bloßer, leerer, ohnmächtiger, gefährlicher, zwielichtiger, armseliger, affirmativer, verordneter Trost. Das geläufige Bild des unerbittlichen und harschen Richters, das auch hier nahezuliegen scheint, stimmt bei Adorno aber nie so recht. Man kann sagen, dass die Voraussetzung dieser Härte gerade die Anerkennung der Trostbedürftigkeit ist, und dass sie sich wesentlich aus der Empörung über den Verrat an dieser Bedürftigkeit speist.
Besonders häufig und durchaus nicht immer abwehrend taucht das Motiv des Trostes im Zusammenhang mit zwei Komponisten auf: Schubert und Mahler. Zu letzterem heißt es, ganz nah an Brahms: „Mütterlich fährt Mahlers Musik denen, welchen sie sich zuwendet, über die Haare.“1 Dieses äußerst konkrete, beinahe körperlich spürbare Bild fungiert als Inbegriff der Bedürftigkeit und ihrer Stillung, so wie insgesamt von der „Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte“2 die Rede ist. Die betonte Vergangenheitsform zeigt, wie weit diese Utopie davon ist, einfach für die Gegenwart gesetzt werden zu können. Dass sie aber für Adorno nicht in der schrankenlosen Selbstentfaltung, sondern im bedingungslosen Aufgehobensein besteht, zeigt umgekehrt, dass sie auch nicht einfach kalt beiseitegeschoben werden sollte.
In der Auseinandersetzung mit Schubert spricht er von einer Dialektik von Trauer und Trost: Die Trauer über das Verlorene kann vom Trost nicht ungeschehen gemacht werden, so wenig er es wieder herbeischaffen kann. Trost müsste in diesem Sinne nicht Versöhnung sein, müsste nicht sagen, dass im Grunde oder jetzt wieder alles in Ordnung ist. Aber Trost mag die Voraussetzung dafür sein, überhaupt weiterleben zu können, und so auch die einzige Möglichkeit, sich mit dem Verlust nicht abzufinden und die Energie des Aufbegehrens zu retten. Selbst Kunstwerke und Musikstücke, die den Trost aus guten Gründen verdächtig finden und sich gegen ihn verhärten, müssten etwas von dieser Dialektik durchblitzen lassen, wenn sie nicht vollkommen unmenschlich werden wollen. Manchmal mag es so scheinen, als hätte die Musik eher das umgekehrte Problem, denn noch die dunkelsten und unversöhnlichsten Stücke wirken trotz allem oder gerade wegen ihrer Dunkelheit tröstlich – die Winterreise bietet in ihrer alles durchdringenden Traurigkeit vielleicht mehr Trost, als wenn sie eine forcierte Wendung ins Helle nähme.
Ein gutes Antidot gegen die quietistischen Züge des Trostes findet sich in Gegen Verführung von 1925, einem von Brechts bekanntesten Gedichten. Dessen letzte Strophe lautet:
Lasst Euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann Euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
und es kommt nichts nachher.
Der Trost liegt hier nicht darin, dass nach dieser Welt eine bessere kommt, in der alles wieder gut wird, sondern dass diese hier die einzige ist. Hier ist der Ort der Trauer, des Trostes, des Kampfes und der Freude. Die Dialektik und von Trauer und Trost speist sich nicht daher, dass wir ohnehin nichts zu verlieren haben, sondern daher, dass wir alles zu verlieren haben, und an der gemeinsamen Anerkennung der Unwiderruflichkeit dieses Verlusts.
Um von Schubert, Mahler und Brecht endlich einen Sprung in die Gegenwart zu machen: Ich kenne kein überzeugenderes zeitgenössisches Musikstück, das Trauer, Trost und Kampfgeist zusammenbringt, ohne dabei die Schärfe des Blicks zu verlieren, als Kendrick Lamars Alright. Der Schlagzeugbreak, das Einsetzen des Basses, die federnden Synkopen, die Zeile „We gon’ be alright!“ versprechen keine billige Versöhnung, und wenn dieser Refrain von Black Lives Matter-Aktivisten aufgegriffen wird, ist dies so sehr Ausdruck des Trotzes wie der Hoffnung, gerade weil nichts nachher kommt. Dann mag sogar das Tanzen zu einem subversiven Akt der Emanzipation werden.