© Tanu Biswas 2020

Childismus

Spielen an der Kreuzung der Pädagogik der Philosophie und der Philosophie der Pädagogik

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    Das Wort Childismus kann gut Vorstellungen provozieren, von denen ich nicht ausgehen möchte. Daher scheint es mir angebracht, den philosophischen Ansatz „Childismus“ mit einigen Vorabklärungen anzufangen, was Childismus nicht ist:

     

    Childismus ist keine singuläre Philosophie.

    Childismus ist nicht darauf reduzierbar, einzelne Kinder (d.h. Personen unter 18 Jahren) als „Könige“ zu behandeln.

    Childismus bedeutet keine „Rückkehr zur Kindheit“.

    Childismus ist nicht nur für Kinder.

     

    Anfang der 2000er Jahre taucht der Childismus als philosophischer Ansatz und Forschungsbereich in den englischsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Das Ziel von Childism ist es, wissenschaftliche und soziale Strukturen aus der Sicht von Kindern als politisch marginalisierte Gruppe zu kritisieren und zu rekonstruieren (Wall 2019). Die Childismusforschung zielt darauf ab, eine kritische Linse für die Dekonstruktion des Adultismus und des Patriarchalismus bereitzustellen, um einen Beitrag zur altersgerechten Forschung und Interessenvertretung zu leisten. Komplementäre Erkenntnisse aus der Arbeit zum „Adultismus“, d.h. der allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz, die Position von Kindern in einer hierarchischen Beziehung zu sehen, sind ebenfalls wichtig für die Childismusforschung1.

    Indem sie auf der Grundlage der Erfahrungen von Kindern grundlegende Fragen zu größeren Sozialsystemen stellt, geht die Childismusforschung über eine Untersuchung der Erfahrungen von Kindern hinaus. So wie verschiedene Formen des akademischen Feminismus teilweise aus der Frauenforschung hervorgegangen sind, kommt der akademische Childismus aus dem Bereich der Kindheitsforschung (Childhood Studies). Childismus ist jedoch weder auf die Kindheitsforschung beschränkt, noch ersetzt sie diese. Vielmehr wird sie auch in anderen Bereichen genutzt und weiterentwickelt, z.B. Ethiktheorie (Rubio 2010; Wall 2010), Globalisierungsforschung (Josefsson & Wall 2020), Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit (Elkins 2013; Ott 2019), Politische Theorie (Mattheis 2020), Literaturwissenschaft (Wadsworth 2017), Judaistik (Parker 2017), Mädchenforschung (Mandrona 2016), Bildung (Franck 2017; Biswas 2020), Nachhaltigkeitsforschung (Biswas 2020), Staatsbürgerschaftsforschung (Sundhall 2017; Wall 2008, 2016).

    Mein Engagement mit Childismus begann mit meiner Suche nach einer „kinderfreundlichen“ Art und Weise, mit Kindern zu philosophieren. Anfangs habe ich die Form des Philosophierens selbst nicht in Frage gestellt. Ich stellte auch nicht meine Annahme in Frage, dass: Erwachsene lehren und Kinder lernen. Es kam mir nicht in den Sinne, dass ein logozentriertes Verständnis des Philosophierens als rationale Argumentation notwendig ist, um die pädagogische Asymmetrie zwischen einem Erwachsenen und einem Kind aufrechtzuhalten. Was verhinderte, dass ein nicht-logozentrisches Verständnis des Philosophierens in meinem Sinn kam? Das Privileg meines Erwachsenseins.

    Ich bezweifle nicht, dass Erwachsene Kindern Dialektik und Argumentation beibringen können. Nichtsdestotrotz ist es relevant, auch zu fragen, was Kinder Erwachsenen philosophisch beibringen können. Diese Handlungen sind ein Bestandteil des Philosophierens. Dennoch sind sie ein Teil des Prozesses des Philosophierens mit anderen; eine Kommunikationsform. Sobald Sprachkompetenz als die Form des Philosophierens identifiziert wird, haben Erwachsene die Oberhand. Aus dem Blickwinkel des Childismus ist aber philosophieren – spielen (z.B. Wall 2013). Spielen nicht als eine Aktivität, sondern als die ontologische Struktur des Menschseins. Die Subjunktive Kapazität, d.h. die Fähigkeit, das „Könnte“, „Sollte“, „Wäre“ erleben zu können, ist für jeden philosophischen Prozess wesentlich unentbehrlich. Ein Verständnis des philosophischen Prozesses, das in der subjektiven Fähigkeit wurzelt, schafft mehr Raum für reflexive pädagogische Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Es ermöglicht Momente, in denen auch der Erwachsene etwas vom Kind lernen könnte. Im Gegenzug könnte die pädagogische Asymmetrie, bei der der Erwachsene immer geben und das Kind immer erhalten muss, gemildert werden.

    In der Anwesenheit eines Kindes kann das Gewebe der Bedeutungen, in dem ich lebe, gleichzeitig neue Bedeutungen annehmen. Das heißt nicht, dass alltägliche Bedeutungen verschwinden, sondern dass plurale Bedeutungen gleichzeitig zum Leben erweckt werden könnten. Eine „Küche“ könnte ein „Lava-Land“ sein, ein „Esstisch“ könnte ein „Flughafen“ sein. Ein Kind kann neue zeiträumlichen Erzählungen schaffen, die weit von meiner alltäglichen, gelebten Realität entfernt sind. Die Erschaffung erfolgt nicht nur mit Worten, sondern auch durch onomatopoetische Klänge, Körperbewegungen, Neuanordnung von Objekten und so weiter. Spielen begründet die Möglichkeit neue Bedeutungen zu schaffen; in diesem Sinne ist Philosophieren - Spielen. Es werden nicht nur singuläre Bedeutungen verändert, sondern auch die Relationen zwischen Objekten und meinem Platz darin. Dies ist eine Form des Gedankenexperiments. Es unterscheidet sich von dem logozentrischen Verständnis des Philosophierens, weil es nicht verkopft ist. Es ist ein verkörpertes Gedankenexperiment in Bewegung. In Anwesenheit eines Kindes ist die Chance, an solchen verkörperten Gedankenexperimenten teilzunehmen, höher als in Anwesenheit eines Erwachsenen.

    Innerhalb solcher temporären, verkörperten Gedankenexperimente gibt es reiche Gelegenheiten, das „Könnte“, „Sollte“, „Wäre“ auszuüben. Darüber hinaus sind die Gelegenheiten der Selbstreflexivität für Erwachsene, die in der Anwesenheit von Kindern beleuchtet werden. Diese Gelegenheiten beleuchten die selbstverständlichen Beziehungen zwischen dem Selbst und den umgebenden Objekten. Sie bieten uns philosophische Lichtungen um zu erleben: was anders sein könnte. Temporär. Dementsprechend öffnen sie Passagen, um den Horizont des eigenen Bewusstseins zu erweitern. Das ist ein Geschenk, das auch in den pädagogischen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern einen Platz haben muss. Ein Geschenk, das der Erwachsene lernen müssen zu erhalten.

    Wie ich schon in den Vorabklärung vorgestellt habe, schlage ich nicht vor, dass Erwachsene in die Kindheit zurückkehren. Ich schlage auch nicht vor, dass in pädagogischen Beziehungen nur Kinder als Lehrer betrachten werden. Ich schlage vor, dass Erwachsene mehr Raum für philosophische Reziprozität und Selbstreflexivität geben könnten. Dazu gehört die Anerkennung von Formen des Philosophierens außerhalb von Argumentation und Dialektik. Eine Anerkennung, dass die Relationalität der Rationalität ermöglicht.

     

    Literaturangaben

     

    Biswas, Tanu (2020): Little Things Matter Much. Childist Ideas for a Pedagogy of Philosophy in an Overheated World. Munich: Büro Himmelgrün.

    Bonnardel, Yves (2015): La domination adulte: l'oppression des mineurs. Canejan: Myriadis.

    Elkins, Kathleen Gallagher. 2013. “Biblical Studies and Childhood Studies: A Fertile, Interdisciplinary Space for Feminists.” Journal of Feminist Studies in Religion 29(2):146-53.

    Flascher, Jack (1978): Adultism. In Adolescence 13 (51), pp. 517–523.

    Franck, Olof. 2017. “Highlighting Ethics, Subjectivity and Democratic Participation in Sustainabiltity Education: Challenges and Contributions.” In Ethical Literacies and Education for Sustainable Development: Young People, Subjectivity and Democratic Participation, edited by Olof Franck and Christina Osbeck, 1-17. New York: Palgrave Macmillan.

    Josefsson, Jonathan; Wall, John (2020): Empowered inclusion: theorizing global justice for children and youth. In Globalisations. Available online at https://doi.org/10.1080/14747731.2020.1736853.

    Liebel, M. (2020). Unerhört: Kinder und Macht. Weinheim: Beltz Juventa.

    Mattheis, Nikolas (2020): Unruly kids? Conceptualizing and defending youth disobedience. In. European Journal of Political Theory(40) https://doi.org/10.1177/1474885120918371

    Mandrona, April. 2016. “Ethical Practice and the Study of Girlhood.” Girlhood Studies 9(3):3-19.

    Ott, Kate. 2019. “Taking Children’s Moral Lives Seriously: Creativity as Ethical Response Offline and Online.” Religions 10, pp. 525-37.

    Parker, Julie Faith. 2017. Valuable and Vulnerable: Children in the Hebrew Bible, especially the Elisha Cycle. Providence, RI: Brown Judaic Studies.

    Rubio, Julie Hanlon. 2010. Family Ethics: Practices for Christians. Lanham, MD: Georgetown University Press.

    Sundhall, Jeanette. 2017. “A Political Space for Children? The Age Order and Children’s Right to Participation.” Social Inclusion 5(3):164-171.

    Wadsworth, Sarah. 2015. “The Year of the Child: Children’s Literature, Childhood Studies, and the Turn to Childism.” American Literary History 27(2):331-341.

    Wall, John. 2008. “Human Rights in Light of Childhood,” International Journal of Children’s Rights 16.4, pp. 523-543.

    Wall, John. 2010. Ethics in Light of Childhood (Washington, DC: Georgetown University Press).

    Wall, John (2013): All the world's a stage. Childhood and the play of being. In Emily

    Ryall, Wendy Russell, Malcom MacLean (Eds.): The Philosophy of Play. London:

    Routledge, pp. 46–57.

    Wall, John. 2016. Children’s Rights: Today’s Global Challenge (Lanham, MD: Rowman & Littlefield Publishers).

    Wall, John. 2019. “From Childhood Studies to Childism: Reconstructing the Scholarly and Social Imaginations,” Children’s Geographies, 17(6):1-15, special issue edited by Hanne Warming on Society and Social Changes through the Prism of Childhood.

     

    1 Der Adultismus als Untermauerung von Prozessen sozialer Diskriminierung, Macht- und Herrschaftsbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika von Jack Flascher (1978) als psychologisches Konzept eingeführt. In Deutschland hat Liebel (2020) individuelle und strukturelle Symptome der Diskriminierung von Erwachsenen umfassend untersucht. In Frankreich hat Bonnardel (2015) über die Erweiterung des emanzipatorischen Horizonts geschrieben, indem er die Infantilisierung von Kindern in Familien- und Bildungseinrichtungen aufgrund ihres gesellschaftspolitischen Status als "Minderjährige" anprangert.