Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Gute Absicht, gute Tat?

Ludwig Sieps Input zum Gedankenexperiment "Milena, die Brandstifterin", welches am 13. September 2020 im Schlachthaus Theater Bern mit Kindern und Erwachsenen diskutiert wird.

    Das Gedankenexperiment

    Milena hat es satt. Die örtliche Feuerwehr ist seit Jahren unterbezahlt und leidet an Personalmangel. Als Freiwillige bei der Feuerwehr versucht sie schon lange, die Behörden davon zu überzeugen, mehr Geld in die Feuerwehr zu investieren, um mögliche Brandkatastrophen zu verhindern. Die Behörden weigern sich aber vehement dagegen. Sie finden, dass die Feuerwehr genug Geld bekommt und dass Grossbrände eh unwahrscheinlich sind.

    Um die Behörden endlich zum Umdenken zu zwingen, zündet Milena ein unbewohntes Haus an. Weil die Feuerwehr sehr lange brauchte, um das Feuer bekämpfen zu können und das Feuer beinahe auf andere Häuser übergesprungen ist, haben die Behörden eingewilligt, mehr Geld in die Feuerwehr zu investieren.


    Kommentar von Ludwig Siep


    Um es vorweg zu nehmen: Nach meiner Auffassung durfte sie den Brand nicht legen. Auch die langfristig guten Folgen rechtfertigen nicht die Risiken für andere Menschen durch den Brand. Auch für gute Absichten darf man andere nicht als Mittel benutzen. Zur Begründung unterscheide ich handlungstheoretische, ethische und rechtliche Überlegungen (alle drei Aspekte gehören zur praktischen Philosophie)

    1. Handlungstheoretisch: Es gibt bei jeder Handlung eine Innenperspektive, die primär dem Handelnden selber zugänglich ist. Das betrifft seine Überlegungen, seine Absicht und seinen Entschluß. Die Außenperspektive schließt dagegen das ein, was „in der Welt“ aus der Ausführung resultiert und wie die Mitmenschen diese Folgen sehen. Die Handelnde ist für beide Aspekte unterschiedlich verantwortlich: In modernen Gesellschaften seit der Aufklärung (in der griechischen Tragödie war das anders) ist man primär für seine Absicht und diejenigen Folgen verantwortlich, die man selber in etwa abschätzen und vorhersehen konnte – in diesem Fall, dass das Feuer sich ausbreiten konnte. Man muß aber immer berücksichtigen, dass der Handelnde nur einen geringen Teil der Folgen selber kontrolliert, das Vieles „aus dem Ruder laufen kann“. Das muß man sich vorher überlegen. Deswegen gibt es eine „Sorgfaltspflicht“ und das Verbot der Fahrlässigkeit. Man kann – in diesem Fall – nicht nachher sagen das Übergreifen auf andere Häuser hätte man weder gewollt noch vorhersehen können. So weit hätte man nachdenken müssen.

    2. Ethisch wird die Handlung nach beiden Aspekten beurteilt, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Die Absicht selber muß einer Regel folgen, die alle anderen prinzipiell akzeptieren könnten und die niemanden nur zum Mittel des Handelnden macht („kategorischer Imperativ“). Es kann aber keine akzeptable Regel sein, Gesundheit und Leben anderer für die Erfüllung eigener guter Absichten aufs Spiel zu setzen (wieviel dürfte man sonst für andere gute Zwecke, etwa Klimarettung, riskieren?). Da die Gefahr, dass der Brand auf andere Häuser übergreift, gegeben und vorhersehbar war (der Abstand war offenbar nicht sehr groß), sind die dadurch gefährdeten Menschen „instrumentalisiert“. Sie sind Mittel für Milenas Ziel. Sie hat das in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt (nur durch die Ausbreitung des Brandes hat sie ihr Ziel erreicht). Ein Pflichtethiker verbietet das strikt. „Folgenethiker“ (Konsequentialisten) achten vor allem auf die Folgen für den Nutzen oder Schaden, das Wohlergehen oder Leid aller Betroffenen. Dazu gehören auch Tiere, Umweltschäden etc. – und der Handelnde selber. Es scheint zunächst, dass man aus dieser Sicht die Brandstiftung rechtfertigen könnte. Man könnte ja die Folgen der Vermeidung künftiger Brände für eine ungefähre Zahl von Nutznießern „hochrechnen“ – dann scheinen sie die Schäden durch das verbrannte unbewohnte Haus zu überwiegen (ob vielleicht der Besitzer ruiniert wird, ist im Beispiel nicht angegeben). Aber auch folgenethisch ist eine hohe Wahrscheinlichkeit schwerer Schäden in der nahen Zukunft – vor allem für Rechte und Gesundheit anderer Menschen – nicht gegen den unsicheren Nutzen durch die später verhinderten Brände aufzurechnen. Vor allem: Es ist keineswegs ausgemacht, dass es nicht ungefährlichere Mittel zum selben Ziel gegeben hätte. Es ist mehr als unklar, dass es sich um das einzige oder beste Mittel handelt – die Brandstifterin wird ja im Gefängnis landen und die Behörden sich u. U. nicht „erpressen“ lassen wollen. Die meisten heutigen Ethiker verbinden Pflicht- und Folgenethik, sie kämen unisono zur Ablehnung.

    3. Kann Milena sich auf ein Notrecht berufen? Rechtlich ist der Akt der Brandstiftung eine schwere Straftat. Um ihn als Notrecht oder Widerstandsrecht zu rechtfertigen, gibt es eine Reihe von Vorbedingungen. Sie sind hier nicht erfüllt. Es geht ja nicht etwa um unmittelbare Lebensrettung durch die Zerstörung des Hauses (wie bei Erdbeben und Verschütteten), sondern um ein längerfristiges „politisches“ Ziel. Da muß man zunächst eine größere Zahl von Mitbürgern zu überzeugen versuchen, um sicherzustellen, dass es sich nicht um eine private Meinung oder „fixe Idee“ handelt. Dann müssen alle anderen rechtlichen Mittel, außer Wahlen oder Volksbegehren auch Demonstrationen, Mahnwachen, Plakate („Billboards“), Zeitungsberichte etc. ausgeschöpft sein. Dazu können in extremen Fällen auch Akte des „zivilen Ungehorsams“ wie Straßenblockaden gehören, für die man die Strafe in Kauf nehmen muß. Das alles ist nicht geschehen – und selbst wenn es schon versucht worden wäre, kann man für politischen Druck nicht das Leben anderer Menschen gefährden.

    Nach diesen Überlegungen sehe ich keine Rechtfertigung für Milenas Tat. Dass sie faktisch ohne schwere Verletzungen und Schäden (außer ihrer eigenen Strafe) ein gutes Ziel erreicht hat, ist für die ethische Prüfung nicht von Belang. Wenn man großes Glück hat, entschuldigt das nicht falsche Handlungen – sonst könnte am Ende alles erlaubt sein.