Am 14. September 2020 sprechen wir mit Dr. Martin Götz
Valentin Groebner, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern und Autor populärer Bücher, hat soeben ein neues veröffentlicht mit dem Titel: „Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat.“ Eine Interviewanfrage des Bayerischen Rundfunks aus gegebenem Anlass wurde zunächst vertröstet, Groebner sei gerade im Urlaub … Aber, so vielleicht die Lektion der Anekdote, haben wir heute nicht in der Tat zumindest ein zutiefst zwiespältiges Verhältnis zum Verreisen aus vermeintlichem Vergnügen? Und selbst das Reisen aus der Sachzwängerei beruflicher Gründe hat das Virus, wenigstens vorübergehend, in den virtuellen Raum des bebilderten Telefonierens verdrängt, in den solche ‚Kommunikation‘ nach Stand der Technik doch eigentlich längst hineingehören müsste. Bleibt vielleicht noch wie zu alten Pilgerzeiten ein Reisen aus Berufung? Oder letztlich gar keines?
Wir wollen dem Sinn des Weggehens nachgehen und versuchen, die Motive und Zwecke, Ziele und Muster, die dabei im Spiel sind, zu sortieren; in Zeiten von Globalisierung, Virtualisierung, „overtourism“ und der Entdeckerlust an daseinsprägenden Mikroabenteuern in der Ostwand des Wohnzimmers.
Martin Götz wurde 2005 in Basel mit einer philosophisch-germanistischen Dissertation zur Sprachphilosophie Friedrich Hölderlins promoviert. Seither hat er vor allem in der Bundesverwaltung gearbeitet, nebenbei lehrt er seit einigen Jahren Philosophie an den Volkshochschulen in Zürich und Basel.
Am 12. Oktober 2020 philosophieren wir mit Dr. Tanja Rechnitzer
Was ist «intellektuelle Bescheidenheit»?
«Es ist ein Jammer, dass die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel», soll Bertrand Russel gesagt haben. Im Rahmen der Tugend-Erkenntnistheorie kann man das so interpretieren, dass die einen zu wenig intellektuelle Bescheidenheit haben—sie sind sich ihrer eigenen kognitiven Grenzen zu wenig bewusst und sind intellektuell arrogant, oder hochmütig. Den Klugen dagegen scheint es an intellektuellem Selbstvertrauen zu mangeln—sie sind zu zaghaft.
Aber was genau bedeutet es, solche Tugenden zu haben, was sind sie genau, und wie können wir sie kultivieren? Der philosophische Tugenderkenntnistheorie zufolge sind intellektuelle Tugenden «kognitive Vortrefflichkeiten», die es erlauben, ein intellektuelles Gut – z.B. Wahrheit – zuverlässig zu erreichen. Jemand weiss etwas, wenn sie oder er eine wahre Überzeugung aufgrund ihrer intellektuellen Tugenden erworben hat. Wissen ist eine intellektuell verdienstvolle wahre Überzeugung, so der Philosoph John Greco. Wer sich selbst über- oder unterschätzt, hindert also seinen eigenen Wissensfortschritt.
Wir wollen an diesem Abend zuerst einige Grundlagen der Tugenderkenntnistheorie und deren Plausibilität diskutieren, bevor wir zu konkreten Tugenden (oder Lastern!) und deren Rolle für uns und im öffentlichen Leben übergehen. Sind intellektuell tugendhafte Menschen schlauer oder gescheiter als andere? Welche intellektuellen Tugenden sind heute besonders wichtig – und welche Laster besonders verwerflich? Besonders bietet sich dafür die Tugend der intellektuellen Bescheidenheit an: Angesichts komplexer und globaler Krisen ist es wichtig, dass wir uns nicht zu sicher wähnen, sondern unsere Positionen immer wieder hinterfragen. Doch wann schlägt Bescheidenheit in zu grosse Zaghaftigkeit um—und wie gut verträgt sich diese Tugend damit, dass man manchmal auch unbequeme Wahrheiten verteidigen muss?
Tanja Rechnitzer hat 2018 ihre Dissertation in Philosophie an der Universität Bern abgeschlossen. Davor studierte sie Europäische Kultur- und Ideengeschichte in Karlsruhe und verbrachte 2016 ein Gastsemester an der Harvard University. Derzeit beschäftigt sie sich mit den Unterschieden zwischen Wissen und Verstehen sowie den sozialen Komponenten dieser epistemischen Erfolgszustände.
Am 9. November 2020 sprechen wir mit Dr. Rebekka Hufendiek
Braucht die Psychologie Ideologiekritik?
Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die das menschliche Verhalten, das Denken, Wahrnehmen und Empfinden sowie deren Organisation, Entwicklung und Ursachen zum Gegenstand hat. Als empirische Wissenschaft hat die Psychologie den Anspruch durch Experimente zu verallgemeinerbaren Ergebnissen, Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten zu gelangen, die unserem Erleben und Verhalten zugrunde liegen.
Bei der Betrachtung prominenter psychologischer Theorien und Grundannahmen aus dem letzten Jahrhundert wird schnell deutlich, dass psychologische Befunde häufig eng mit ideologischen Vorannahmen verbunden waren. So argumentiert etwa der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim, dass Autismus auf eine frühkindliche Bindungsstörung zu einer "emotional kalten" Mutter zurückzuführen sei. Bettelheim legt damit in der Konsequenz nahe, dass arbeitende Mütter die Gesundheit ihrer Kinder aufs Spiel setzten. Im Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders dem Handbuch der einflussreichen American Psychiatric Association war Homosexualität bis 1973 als psychische Erkrankung gelistet.
Mit Blick auf die Vergangenheit ist es oft leichter ideologische Vorannahmen zu entdecken und ihre normativen Voraussetzungen zu kritisieren als mit Blick auf die Theorien der Gegenwart. Ich möchte in meinem Vortrag allerdings vorschlagen, dass die empirische Psychologie genau deshalb die philosophische Ideologiekritik braucht. Viele Fragen der Psychologie lassen sich gar nicht unabhängig von normativen und damit schnell auch unreflektierten ideologischen Vorannahmen erforschen und es ist Aufgabe der Philosophie diese zu analysieren und zu kritisieren. Wie das Verhältnis von Ideologie und Wissenschaft aussieht und wie das Verhältnis von Ideologiekritik und empirischer Forschung aussehen sollte, können wir anschliessend gemeinsam diskutieren.
Rebekka Hufendiek hat seit Oktober 2020 eine SNF-Förderprofessur an der Universität Bern inne. Sie leitet dort ein Forschungsprojekt mit dem Titel: Explaining Human Nature. Empirical and Ideological Dimensions. Sie hat in Berlin mit einer Arbeit über Emotionstheorien promoviert und interessiert sich für verschiedenste Fragen im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Natur und Normativität. In letzter Zeit interessiert sie sich vor allem für die Frage, ob und inwiefern ideologische Annahmen die empirische Erforschung des Menschen prägen.