Dürfen wir glauben, was wir wollen?

Verantwortung für die eigene Meinung

    Versuchen Sie mal kurz, zu glauben, dass die Erde flach ist. Sie werden sich nun vielleicht lebhaft eine flache Erde vorstellen. Und wenn Sie gut schauspielern können, dann können Sie sogar andere davon überzeugen, dass Sie tatsächlich so etwas glauben. Aber es wird Ihnen nicht ohne Weiteres gelingen – so wage ich Ihnen zu unterstellen – wirklich der Meinung zu sein, dass die Erde flach ist. Denn alles, was Sie wissen, spricht klar gegen diese Meinung.

     

    Das Beispiel legt nahe, dass wir gar nicht so einfach glauben können, was wir wollen. Doch wenn wir unsere Meinungen nicht frei wählen können, dann scheint es vollkommen fehl am Platz zu sein, uns gegenseitig für unsere Meinungen zu kritisieren. Genau dies tun wir aber ständig. Wir schütteln unsere Köpfe in blankem Unverständnis, wenn wir hören, dass einige Menschen heutzutage tatsächlich noch glauben, dass die Erde flach sei (vgl. https://www.tfes.org/). Wir kritisieren auch Populisten wie Donald Trump dafür, dass sie ständig falsche oder irreführende Meinungen über steigende Mordraten, die Glaubwürdigkeit von Medien, die Realität des Klimawandels oder das Coronavirus verbreiten. Wir sind sogar verletzt, wenn jemand geringschätzig von uns denkt, und oftmals erwarten wir deshalb eine aufrichtige Entschuldigung von der Person (vgl. Basu 2019). Wir empören uns insbesondere über Meinungen, die diskriminierend sind: „Hass ist keine Meinung“ – so hieß es auf einigen Plakaten der weltweiten Demonstrationen gegen Rassismus. Dieser Slogan bedeutet nicht, dass es keine rassistischen Meinungen gibt – sondern dass solche Ansichten keinen Respekt verdienen. Wir schämen uns oftmals sogar dafür, dass wir selbst einmal bestimmte Dinge für wahr gehalten haben, von denen wir heute wissen, dass sie vollkommener Unsinn sind.

     

    Sind diese Reaktionen angemessen? Dürfen wir uns beispielsweise empören, nur weil jemand eine andere Meinung hat? Dürfen nicht einfach alle «glauben, was sie wollen»? Es scheint, dass wir Trump dafür kritisieren, weil er allerhand falsche Ansichten verbreitet. Aber kritisieren wir ihn auch für seine Meinung selbst? Was geht uns schon seine Meinung an! Dieser intuitiven Position zufolge sind wir nur verantwortlich für unsere Handlungen. Und das Haben einer Meinung ist selbst noch keine Handlung.

     

    Dass diese Position jedoch unhaltbar ist, sehen wir an folgendem Beispiel. Stellen Sie sich vor, Donald liest zu Beginn einer Epidemie Artikel über die vermeintliche Gefahrlosigkeit eines Virus. Er überprüft aber keine weiteren Quellen. Donald kommt daraufhin zur Überzeugung, dass das Virus ungefährlich sei. Er meint deshalb fälschlicherweise, Kontakt mit anderen Menschen sei unproblematisch. Daher trifft sich Donald unbesorgt weiterhin mit vielen Menschen. Infolgedessen infiziert sich Donald und verbreitet unbemerkt das Virus weiter.

     

    Nehmen wir an, Donald lag falsch und das Virus ist tatsächlich sehr gefährlich. Hat Donald etwas Falsches getan, als er sich mit vielen Menschen getroffen hat? Immerhin war sein Handeln gegeben seine Meinung über die Ungefährlichkeit des Virus vollkommen vernünftig. Sobald Donald diese Meinung hat, wäre es sogar irrational von ihm, sich nicht einfach weiterhin mit Menschen zu treffen. Es scheint also, dass wir ihm sein Handeln nur dann vorwerfen dürfen, wenn seine Meinung kritisierbar ist, auf der sein Handeln beruht (vgl. Peels 2017).

     

    In der gegenwärtigen philosophischen Debatte gibt es zwei konkurrierende Ansätze, um verständlich zu machen, wie wir für unsere Meinungen kritisierbar sein können – und das obwohl wir unsere Meinungen nicht einfach frei wählen können. Laut der Kontrolltheorie kommt es darauf an, ob wir unsere Meinungen durch unser Handeln beeinflussen konnten (Meylan 2013, Peels 2017). Donald wäre demzufolge kritisierbar, weil er sich nicht besser informiert hat und seine Meinung nicht kritisch reflektiert hat. Laut der Gründetheorie kommt es darauf an, ob unsere Meinung gut durch Gründe gestützt ist (vgl. Hieronymi 2008, McHugh 2013, Owens 2000, Smith 2005). Dieser Theorie zufolge ist Donald kritisierbar, weil er keine hinreichenden Gründe für seine Meinung hat – ganz gleich, welchen Aufwand er betrieben hat, um sich die Meinung zu bilden.

     

    Ich denke beide Theorien haben einen wahren Kern. Wenn wir genau herausfinden, worin dieser jeweils besteht, dann werden wir uns auch klarer darüber, wie wir zueinander auf angemessene Weise in Beziehung treten. Sehen wir uns wieder ein Beispiel an.

     

    Donald ist Beliebtheit wichtiger ist als Wahrheit. Selbst wenn man ihn kennt, ist schwer zu sagen, was er eigentlich glaubt. Denn je nachdem, mit wem er gerade spricht, behauptet er ständig etwas anderes. Wenn er abends in der Kneipe ist, schimpft er über Migranten. Gleich am nächsten Morgen wendet er sich aber klar gegen eine migrationsfeindliche Politik, als er mit seinen Kolleginnen und Kollegen spricht. Donald selbst denkt nicht wirklich darüber nach, welche seiner beiden konfligierenden Haltungen richtig ist. Es interessiert ihn auch gar nicht. Stattdessen hat er gelernt, sich in Gruppen beliebt zu machen, indem er jeweils die Meinung vertritt, die bei allen gut ankommt.

     

    Donalds Haltung scheint kritikwürdig zu sein. Die Kontrolltheorie erklärt dies damit, dass Donald nicht bewusst über seine Meinungen reflektiert. Die Gründetheorie erklärt seine Kritikwürdigkeit damit, dass Donald nicht in der Lage ist, gute Gründe für seine jeweils vertretenen Meinungen anzuführen. Welche Theorie liefert die bessere Erklärung?

     

    Wir können das Beispiel leicht verändern, um die Grenzen der Kontrolltheorie aufzuzeigen. Stellen wir uns vor, dass die Gesellschaft, in der Donald aufgewachsen ist, kein kritisches Denken zulässt. Donald hat es daher auch nicht gelernt, seine Ansichten zu hinterfragen. Zudem war es für Donald stets vorteilhaft, seine Meinung an die jeweilige soziale Gruppe anzupassen. Es war aus seiner Perspektive immer die vernünftigste Strategie, anderen nachzuplappern. Wir können uns den Fall damit so vorstellen, dass Donald gar keine hinreichend guten Gründe hatte, seine Meinungen kritisch zu reflektieren: Dies wäre mit zu hohen sozialen Kosten für ihn verbunden gewesen und er hätte sich die Fähigkeit zu kritischem Denken erst mühsam erwerben müssen.

     

    In diesem Fall kann es von Donald nicht gefordert sein, seine Meinung kritisch zu hinterfragen. Wir können ihn also nicht dafür kritisieren, dass er seine Meinungen nicht angemessen durch sein Handeln beeinflusst hat. Reine Kontrolltheorien sind in diesem Fall darauf festgelegt, dass Donald nicht für seine Meinung kritisierbar ist.

     

    Doch das scheint unplausibel. Auch wenn Donald keine Pflicht hatte, seine Meinung zu reflektieren, verdient er dennoch kein Vertrauen (vgl. Brown 2020, Kauppinen 2018). Wir können seinen Worten nur selten Glauben schenken, weil wir wissen, dass er es mit der Wahrheit nicht so ernst nimmt. Wir können mit ihm keine gewinnbringenden Diskussionen führen. Und wir wären vorsichtig, wovon wir ihm erzählen – denn wir wissen nicht, wie er es später dreht und wendet, nur um anderen zu gefallen.

     

    Unser Misstrauen unterscheidet sich von der Art von Misstrauen, das wir gegenüber einem Tier zeigen. Wenn wir einem Hund nicht trauen, dann kritisieren wir dadurch nicht den Hund. Aber wir kritisieren Donald, wenn wir ihm nichts glauben, mit ihm nicht diskutieren wollen und ihm unsere eigene Meinung nicht mitteilen. Denn wir schließen ihn dadurch zurecht aus unserer Wissensgemeinschaft aus.

     

    Nur Gründetheorien können erklären, warum wir Donald derart behandeln, auch wenn er seine Meinungen nicht aktiv reflektieren konnte. Aber Kontrolltheorien sind in der Lage, zu erklären, warum wir Donald gegenüber dennoch Nachsicht walten lassen sollten. Wenn wir die Umstände wissen, unter denen er zu einem derart gestörten Verhältnis zur Wahrheit gelangt ist, dann müssen wir anerkennen, dass es unangemessen ist, aufgrund seiner Meinungen wütend auf Donald zu sein oder uns über seine Meinungen zu empören. Derart moralische Kritik scheint – im Gegensatz zu intellektuellem Misstrauen – tatsächlich vorauszusetzen, dass die Person Kontrolle über ihre Meinungen hatte. (vgl. Schmidt 2020)

     

    Letzteres zu sehen kann etwas Befreiendes haben. Das Anerkennen der beschränkten Möglichkeiten einer Person sollte zu Nachsicht und Verständnis führen. Ihrer eigenen Seelenruhe zuliebe können Sie sich diese Beschränkungen einer Person beim nächsten Mal vor Augen führen, wenn Sie sich über deren Meinung aufregen. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass es dennoch möglich ist, dass diese Person die intellektuellen Erwartungen nicht erfüllt, die wir vernünftigerweise an sie stellen. Denn nur so können wir sichergehen, dass wir unser Vertrauen genau den Menschen schenken, die es wirklich verdienen – dass wir vertrauen, wem wir sollen, wann wir sollen, und wie wir sollen. Wäre uns besser bewusst, wer wann welches Vertrauen verdient, so würden viele Personen, deren intellektueller Charakter offensichtlich unzulänglich ist, gar nicht erst zu Machtpositionen kommen.


    Literatur

     

    1. Tipps

    Jaster, Romy und David Lanius (2019): Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart: Reclam.

    Schmidt, Sebastian (2016): Können wir uns entscheiden, etwas zu glauben? Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit eines doxastischen Willens, Grazer Philosophischen Studien 93 (2016), 571-582. Rohfassung lesbar unter https://www.academia.edu/28860973/Konnen_wir_uns_entscheiden_etwas_zu_glauben

    Schmidt, Sebastian und Gerhard Ernst (2020): The Ethics of Belief and Beyond. Understanding Mental Normativity, Abingdon, New York: Routledge. https://www.routledge.com/The-Ethics-of-Belief-and-Beyond-Understanding-Mental-Normativity/Schmidt-Ernst/p/book/9780367245504

     

    1. Zitierte Literatur

    Basu, Rima (2019): What we epistemically owe to each other, Philosophical Studies 176, 915-931.

    Brown, Jessica (2020): What Is Epistemic Blame?, Noûs 54 (2020), 389-407.

    Hieronymi, Pamela (2008): Responsibility for believing, Synthese 161, 357-373.

    Antti Kauppinen (2018): Epistemic Norms and Epistemic Accountability, Philosopher’s Imprint 18.

    McHugh, Conor (2013): Epistemic Responsibility and Doxastic Agency, Philosophical Issues 23, 132-156.

    Meylan, Anne (2013): Foundations of an Ethics of Belief, Frankfurt: ontos.

    Owens, David J. (2000): Reason without Freedom. The problem of epistemic normativity, London, New York: Routledge.

    Peels, Rik (2017): Responsible Belief, New York, Oxford: Oxford University Press.

    Schmidt, Sebastian (2020): Responsibility for Attitudes, Object-Given Reasons, and Blame, in: Schmidt/Ernst 2020 (vgl. Eintrag unter “Tipps”), 149-175.

    Smith, Angela M. (2005): Responsibility for Attitudes: Activity and Passivity in Mental Life, Ethics 115, 236-271.