Vom Vorteil des Nach-Denkens

Philosophie als Reflexion

    Haben Sie schon einmal über das Nachdenken nachgedacht?1 „Nachdenken“ soll hier heißen, den Blick zurückzuwenden (lat. reflectere) auf die Voraussetzungen eines Sachverhalts, die Bedingungen einer Sache. Reflexives Denken unterscheidet sich von nicht-reflexivem Denken ziemlich drastisch. Den Unterschied können wir uns am Umgang mit Problemen klarer machen. Lösen wir ein Problem, haben wir die Voraussetzungen der Problem-Stellung immer schon akzeptiert. Zum Beispiel, dass die Rahmenbedingungen gelten und dass es sich überhaupt um ein echtes Problem handelt. Ein solcher Zugang zu Problemen wird uns früh beigebracht und später als „lösungsorientiertes Denken“ weiter schmackhaft gemacht. Mit dem Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) können wir dies sogar als tierisches Erbe sehen: Auf Reiz (Problemstellung) folgt ohne Zögern Reaktion (Lösungsversuch).

    Stattdessen könnten wir aber auch innehalten und das Problem selbst problematisieren. Ich kann etwa fragen, ob die Problemstellung überhaupt sinnvoll oder anderweitig akzeptabel ist: Reflexion statt Reflex. Es könnte ja sein, dass das Problem nur unter bestimmten Bedingungen wirklich problematisch ist. Wenn sich bei solchen Rückfragen die Problemstellung selbst als unsinnig oder widersprüchlich erweist, dann löse ich das Problem dadurch nicht, sondern ich löse es auf. Wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen, kann nur dann ein Problem für mich sein, wenn ich etwa davon ausgehe, dass es Engel gibt. Wenn ich diese Annahme nicht gelten lasse, löst sich das Problem einfach auf.

    Ein Problem aufzulösen ist aber nur möglich, wenn ich den Blick von der Aussicht auf eine mögliche Lösung zurückwende auf seine Voraussetzungen. Damit denke ich nicht mehr voraus, sondern ich denke nach, denn ich hole das ein, was schon da ist, nämlich die Problemstellung, die mir angeboten oder sogar aufgedrängt wird.

    Es ist diese Bewegung, den Blick zurück zu wenden, die viele Autorinnen und Autoren der philosophischen Tradition als Kern der Philosophie ansehen. Dabei gibt es viele Varianten der Reflexion und viele Möglichkeiten, diese Reflexionen zu beschreiben. Ich kann zum Beispiel meine Aufmerksamkeit darauf richten, mit welchen Vorurteilen wir in die Welt schauen; welche Annahmen wir immer schon für gültig halten, ohne je darüber nachgedacht zu haben; wie uns die Dinge eigentlich genau erscheinen – im Gegensatz dazu, was wir glauben, immer schon über die Dinge zu wissen; welche Begriffe wir verwenden, ohne sie erklären zu können etc. Solche Blickwendungen können also unsere eigene Perspektive als eine mögliche Perspektive neben vielen anderen sichtbar machen.

    Die eigene Perspektive, die eigenen Setzungen im Blick zu haben, ist nicht nur für Philosophinnen und Philosophen wichtig. Es ist z.B. für die demokratische Verfassung einer Gesellschaft nicht weniger entscheidend2 als für die Streitkultur in einer Liebesbeziehung. Denn im Reflektieren auf meine eigenen Voraussetzungen kann ich übergriffige oder widersprüchliche Ansprüche erkennen und zurücknehmen. Und indem ich die Voraussetzungen anderer prüfe, kann ich ebensolche Ansprüche zurückweisen.

    Reflexion ist dabei keine „Kritik“ im Sinne einer Bewertung oder eines Angriffs auf bestehende Normen. Ich kann ja in meinem Nachdenken über ein Problem auch zu dem Schluss kommen, dass es sich um ein echtes Problem handelt, dessen Lösung ich – nunmehr reflektiert – angehen will oder muss.

    Reflexion ist selbst auch kein Argument und Argumentieren nicht Reflektieren. Ein elegantes Argument kann hervorragend verdecken, dass hier die eigene Position und Perspektive gar nicht mitbedacht oder gar infrage gestellt wird. Kritisieren und Argumentieren kann ich auf gänzlich unreflektierte Weise. Im selben Zug sollten wir auch Klugheit, Bildung und Expertise klar von Reflektiertheit trennen. Reflektiert ist, wer auf (eigene wie fremde) Voraussetzungen aller Art achtet. Das kann man langsam oder schnell tun, wortgewaltig oder in sehr einfachen Worten.

    Diese nachdenkliche Art, Situationen zu betrachten, ist nicht besonders weit verbreitet. Lösungsorientiertes, praktisches Denken wird gerne gesehen und gefördert: Lieber vertritt man eine starke Meinung als gemeinsam darüber nachzudenken, ob die Debatte selbst vielleicht schief geführt wird. Für jede Meinung auch noch Begründungen zu geben, ist anstrengend und zeitraubend. Begriffe zu klären ist ohnehin langweilig, man muss auch einfach mal streiten können. Wer zu viel nachdenkt, den überholt schließlich das Leben. Stattdessen einfach mal machen!

    Der Preis für solchen naiven Pragmatismus kann immens hoch sein; wer nie nachdenkt, ob die Richtung, in die man rennt, überhaupt stimmt, rennt auch mal in eine Sackgasse. Sofern man sich damit nur selbst verrennt, mag das angehen, aber sobald Andere an der eigenen Unreflektiertheit leiden, z.B. am rücksichtslosen Ausleben eigener Bedürfnisse, wird es ethisch entsprechend bedenklich. Um nur ein konkretes Beispiel zu nennen, dürften viele Talkshows (und dadurch eventuell der öffentliche Diskurs) immens davon profitieren, würden die allabendlich diskutierten Problemstellungen entweder vor oder sogar während der Sendung reflektiert, um falsche Dichotomien oder sinnlose Streitereien zu vermeiden, die wiederum eher den Populisten als den Vernünftigen zugute kommen.3

    Mindestens verschafft uns das Nachdenken, wie Blumenberg sagt, eine Pause zum Atemholen. Im besten Fall erlaubt es uns, selbstgemachte Sackgassen zu erkennen, was wiederum erstaunlich produktiv sein kann. Für die Freundinnen und Freunde der neuen Wirtschaft können wir noch hinzufügen: auch disruptiv wird es genau dort, wo Selbstverständlichkeiten infrage gestellt werden. Genau deshalb haben alle autoritären Herrschaftssysteme die ja eher harmlos wirkende Nachdenklichkeit der Philosophie immer mit Argwohn betrachtet, denn autoritäre Herrschaft beruht schließlich gerade auf der Gedankenlosigkeit der Beherrschten: Eichmann hat brav versucht, alle Probleme zu lösen, die ihm vorgesetzt wurden. Problematisiert hat er diese Probleme nicht.4

    Kann die Philosophie da helfen? Jein. 'Die' Philosophie als akademischer Betrieb ist selbst ständig in der Gefahr, der Gedankenlosigkeit zu erliegen. Dann verfällt sie in 'Debatten', die in ganz bestimmten Jargon zu ganz bestimmten, nämlich vermeintlich philosophischen Themen und in ganz bestimmten Grenzen zu führen sind; wer mitspielen will, muss an diese Debatten mehr oder weniger unreflektiert anschließen. Prüfte man immer wieder alle Voraussetzungen, würde ja die ganze schöne „Forschung“ zusammenbrechen. Das ist allerdings nur ein Problem, wenn man davon ausgeht, dass Philosophie im selben Sinne Forschung ist oder sein soll wie andere Wissenschaften.5

    Sobald wir diese Voraussetzung aufheben und Philosophie eher als die Tätigkeit des Reflektierens oder Haltung der Reflektiertheit verstehen, können wir mit der Philosophie dem naiven Pragmatismus durchaus zu Leibe rücken. Denn Reflexion ist eine Frage der Übung und wie jede andere Haltung lässt sich auch Reflektiertheit trainieren. Das kann im philosophischen Dialog geschehen, in der stillen, aufmerksamen Lektüre (z.B. auch von guten Philosophie-Blogs) oder in Seminaren. Aus meiner eigenen Erfahrung, die von der Gefängnisschule bis zum europäischen Leadership-Programm reicht, kann ich sagen: Reflexion ist für die meisten Menschen offenbar fremdartig, naiver Pragmatismus eingefleischt. Aber: bei erstaunlich Vielen springt der Funke erstaunlich schnell über.

    Inzwischen sehe auch ich es daher als eine mögliche Aufgabe für uns Philosophinnen und Philosophen an, in Form einer Public Philosophy das Nachdenken-Üben anzubieten. Denn eine reflektierte Haltung entsteht nicht einfach durch den Konsum von Philotainment oder das passive Erleben von „Bildung“, sondern nur durch Arbeit an den Sachen und an sich; durch Übung des Aufschubs, durch ein Zögern im Zweckverfolg. Das wäre ein vernünftiger Pragmatismus: Nachdenken – einfach mal machen.


    1 Hans Blumenbergs Dankesrede für den Sigmund-Freud-Preis 1980, auf die ich im Folgenden immer wieder anspiele, ist meines Erachtens eines der besten Beispiele für solches Denken; siehe: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede. Vgl. dazu Sonja Feger, Tobias Keiling, „Am Rand der Lebenswelt. Hans Blumenbergs Phänomenologie der Theorie“, in: Thomas Jürgasch, Tobias Keiling (Hg.), Anthropologie der Theorie, Tübingen 2017, 323-341.

    2 Daniel-Pascal Zorn, Logik für Demokraten, Stuttgart 2017.

    3 Oliver Weber, Talkshows hassen, Stuttgart 2019.

    4 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Zürich 2011.

    5 Vgl. zum Unterschied von Philosophie und Mathematik schon Platon, Der Staat, 510c ff. Mathematisches Denken geht nach Platon immer von bestimmten Voraussetzungen (heute: Axiomen) aus, die nicht weiter hinterfragt werden – zumindest nicht innerhalb der mathematischen Beweisführung selbst. Die Philosophie dagegen soll sich den Voraussetzungen selbst zuwenden und sie hinterfragen. Diese Konzeption von Philosophie hält sich von Platon bis in die Phänomenologie (und weiter) durch; vgl. dazu Thomas Arnold, Phänomenologie als Platonismus, Berlin/Boston 2017, §§ 3-6.