Was ist «intellektuelle Bescheidenheit»?

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    Am 12. Oktober 2020 philosophieren wir mit Dr. Tanja Rechnitzer

    Was ist «intellektuelle Bescheidenheit»?

    «Es ist ein Jammer, dass die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel», soll Bertrand Russel gesagt haben. Im Rahmen der Tugend-Erkenntnistheorie kann man das so interpretieren, dass die einen zu wenig intellektuelle Bescheidenheit haben—sie sind sich ihrer eigenen kognitiven Grenzen zu wenig bewusst und sind intellektuell arrogant, oder hochmütig. Den Klugen dagegen scheint es an intellektuellem Selbstvertrauen zu mangeln—sie sind zu zaghaft.

    Aber was genau bedeutet es, solche Tugenden zu haben, was sind sie genau, und wie können wir sie kultivieren? Der philosophische Tugenderkenntnistheorie zufolge sind intellektuelle Tugenden «kognitive Vortrefflichkeiten», die es erlauben, ein intellektuelles Gut – z.B. Wahrheit – zuverlässig zu erreichen. Jemand weiss etwas, wenn sie oder er eine wahre Überzeugung aufgrund ihrer intellektuellen Tugenden erworben hat. Wissen ist eine intellektuell verdienstvolle wahre Überzeugung, so der Philosoph John Greco. Wer sich selbst über- oder unterschätzt, hindert also seinen eigenen Wissensfortschritt.

    Wir wollen an diesem Abend zuerst einige Grundlagen der Tugenderkenntnistheorie und deren Plausibilität diskutieren, bevor wir zu konkreten Tugenden (oder Lastern!) und deren Rolle für uns und im öffentlichen Leben übergehen. Sind intellektuell tugendhafte Menschen schlauer oder gescheiter als andere? Welche intellektuellen Tugenden sind heute besonders wichtig – und welche Laster besonders verwerflich? Besonders bietet sich dafür die Tugend der intellektuellen Bescheidenheit an: Angesichts komplexer und globaler Krisen ist es wichtig, dass wir uns nicht zu sicher wähnen, sondern unsere Positionen immer wieder hinterfragen. Doch wann schlägt Bescheidenheit in zu grosse Zaghaftigkeit um—und wie gut verträgt sich diese Tugend damit, dass man manchmal auch unbequeme Wahrheiten verteidigen muss?


    Tanja Rechnitzer hat 2018 ihre Dissertation in Philosophie an der Universität Bern abgeschlossen. Davor studierte sie Europäische Kultur- und Ideengeschichte in Karlsruhe und verbrachte 2016 ein Gastsemester an der Harvard University. Derzeit beschäftigt sie sich mit den Unterschieden zwischen Wissen und Verstehen sowie den sozialen Komponenten dieser epistemischen Erfolgszustände.

     

    Rechnitzer tanja quer