Die Kunst der Kompromissfindung

    I.

    Wenn es so etwas wie ein grundlegendes Theorem der Politischen Philosophie gibt, dann wird es mit der Aussage erfasst, dass soziale Kooperation die Aussicht auf einen Mehrwert in Gestalt eines wechselseitigen Vorteils bietet. Freilich schien bislang die eigentliche Arbeit mit dieser Erkenntnis erst zu beginnen, wie die Geschichte der Gerechtigkeitstheorien seit Platons Tagen anschaulich belegt. Denn besagte Aussicht auf einen Mehrwert zieht unmittelbar die Fragen nach sich, wer zu dessen Gelingen welchen Beitrag zu leisten hat und wer welchen Anteil beanspruchen darf.

    Doch wenn nicht alle Anzeichen trügen, dann findet derzeit auf der politischen Bühne weniger die grundlegende Einsicht in die Vorteile von Kooperation allseitige Anerkennung als vielmehr Schillers klassisches Wort, dass der Starke am mächtigsten immer noch allein ist. Auf internationaler Ebene jedenfalls sind es eher Konkurrenz und nationaler Wettbewerb, die das politische Handelns zu bestimmen scheinen, auch wenn in Anbetracht der Aufgaben, die global als dringlich gelten müssen, die Stärke der vermeintlich Mächtigen sich rasch als die gefühlte von gestärkten Oberhemden herausstellen dürfte. Angesichts des Klimawandels, einer weltweiten Migration, der Herausforderungen für eine global public health oder auch nur der Stabilisierung von Kapitalmärkten steht aber nicht zur Debatte, ob es internationale Kooperation braucht, sondern allenfalls, welche Form der Kooperation und wie sie zu organisieren wäre.

    Nun handeln aber Regierungen unter demokratischen Gegebenheiten gleichsam im Auftrag ihrer souveränen Wählerschaften. Insofern können die Bürgerinnen und Bürger westlicher Demokratien, was das internationale Versagen, über konfligierende nationale Interessen hinweg die für Kooperation erforderlichen Kompromisse zu finden, nicht gänzlich aus der Verantwortung entlassen werden. Polarisierte politische Verhältnisse, wie sie Großbritannien oder die USA derzeit kennzeichnen, sind da nur die sichtbare Spitze des Eisbergs der Kompromissunfähigkeit, der gegen alle Klimatrends rasant zu wachsen scheint. Wenn Politik aber nicht nur von Ressentiments getrieben wird, sondern diese selbst noch befeuert, müssen das Vertrauen auf Rousseaus niemals irrende volonté générale, die den wohlverstandenen individuellen Vorteil mit dem Gemeinwohl harmonisch zur Deckung bringt, ebenso wie John Rawls‘ Idee einer ‚wohlgeordneten Gesellschaft‘, die von einer kollektiv anerkannten Vorstellung von Gerechtigkeit ausgeht, allzu optimistisch erscheinen.

    Doch vielleicht hilft gegen den behaupteten Missstand eine Herangehensweise, die sich eher an den praktischen Notwendigkeiten der Kompromissfindung orientiert. Für James Madison jedenfalls war die Unausweichlichkeit von Interessenskonflikten in freiheitlichen Gesellschaften eine ausgemachte Sache. Die Errichtung dauerhafter demokratischer oder, wie Madison gesagt hätte, republikanischer Verhältnisse erforderte für ihn zwingend die Verhinderung monopolistischer Machtstrukturen, die demokratisch legitimiert nur einer Tyrannei der Mehrheit gleichkämen. Madisons bleibende Einsicht ist, dass es nicht ausreicht, an bürgerliche Tugenden zu appellieren, auf die guten Absichten der Regierenden zu vertrauen oder gar einen allseits geteilten Gemeinwillen im Sinne Rousseaus zu postulieren. Entscheidend sind vielmehr prozedurale Vorkehrungen, die eine beständige Möglichkeit demokratisch kontrollierter Machtwechsel gewährleisten. Regierungsgewalt musste für Madison in ein dynamisches Gebilde rollierender Koalitionen eingebettet werden, mit denen jederzeit veränderte Mehrheitsverhältnisse entstehen können.i

    Madisons liberale Variante des Republikanismus wird mitunter als das Gegenmodell zu einem Populismus im Geiste Rousseaus verstanden, die ohne die heikle Annahme eines ‚Willens des Volkes‘ auskommt.ii Die darin mitschwingende Skepsis hinsichtlich demokratischer Teilhabe, die für Madison, recht verstanden, vor allem eine negative, verbunden mit der Möglichkeit der Abwahl der Regierenden, sein musste, könnte sich angesichts der gegenwärtigen Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen in vielen westlichen Demokratien bestärkt sehen. Madisons System von checks and balances mochte über mehr als zwei Jahrhunderte verlässlich seinen Zweck erfüllen und die schlimmsten Auswüchse gesellschaftlicher Spaltung mit einer violence of factions unterbinden. Heute jedoch besteht Anlass, neu über Verfahren der demokratischen Willensbildung nachdenken, wenn eine freiheitliche Gesellschaftsordnung vertrauten Zuschnitts bewahrt werden soll, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sich die demokratische Herrschaftsform als alternativlos etabliert hat.iii Wie aber lässt sich angesichts ausgeweiteter Möglichkeiten der Partizipation eine souveräne Wählerschaft vor ihrem eigenen Überschwang und so ein dauerhafter demokratischer Interessensausgleich bewahren?



    II.

    Für die besorgniserregenden Entwicklungen, die sich in den uns vertrauten Demokratien, bei allen Unterschieden im Detail, in den letzten Jahren vollzogen haben, gibt es eine Reihe von Ursachen.iv Eher wenig Beachtung fand in diesem Zusammenhang bislang jedoch die Rolle demokratischer Verfahren selbst, und hier insbesondere von Wahlverfahren. Deren Unzulänglichkeiten sind freilich bekannt spätestens seit John Stuart Mill in seinen „Considerations on Representative Government“ (1861) beanstandet hat, dass durch das Mehrheitswahlsystem, bei dem Mandate mit relativer Mehrheit errungen werden, Beschlüsse demokratisch, weil durch Mehrheitsentscheid, legitimiert werden könnten, die doch lediglich die Interessen einer marginalen Minderheit spiegeln. Eine als Duvergers Gesetz geläufige Beobachtung besagt zudem, dass das Mehrheitswahlsystem tendenziell zu einem Zwei-Parteien-System führt, dem allenfalls, wie in Kanada, besondere historische oder kulturelle Umstände entgegenstehen können. Weil Wahlen aber vor allem „in der Mitte“ gewonnen werden, werden sich die politischen Kontrahenten in einem Zwei-Parteien-System inhaltlich zwar immer ähnlicher, betonen dafür jedoch rhetorisch umso lauter ihre Differenzen. Der von Chantal Mouffe erhobene Vorwurf, dass liberale Demokratien in der Nivellierung der Alternativen das Ende echter politischer Auseinandersetzung bedeuten, mag insofern seine Berechtigung haben.v Nur ist es nicht, wie Mouffe in kritischer Gefolgschaft von Carl Schmitt behauptet, ein ungesund konsensorientierter Liberalismus, der hierfür verantwortlich ist, sondern das für eine demokratische Entscheidungsfindung untaugliche Verfahren der Mehrheitswahl, dessen Schwächen auch bei direktdemokratischen Umsetzung nicht behoben werden können. Madisons Verdacht, dass eine direkte Demokratie, gerade unter den Bedingungen, die sie anwendbar erscheinen ließen, in eine Tyrannei der Mehrheit mündet, ist jedenfalls nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.

    Doch auch wer auf faire Repräsentation durch ein Verhältniswahlsystem setzt, könnte sich enttäuscht sehen. Dies weniger wegen der oft langwierigen und im Ergebnis schwer vorhersehbaren Regierungsbildung über Koalitionen, sondern vor allem deshalb, weil selbst eine traditionell ausgeprägte Neigung zu Konsens, wie sie für die Niederlande, aber auch für die Schweiz gegeben ist, polarisierende Tendenzen nicht zuverlässig verhindern kann. Die in der Sozialwahltheorie formal leicht nachweisbaren Schwächen der Verhältniswahl werden anschaulich im unguten Einfluss rechtspopulistischer Gruppierungen in unterschiedlichen Ländern, die doch ihr demokratisches Heil alle in der Verhältniswahl suchen.

    Eine Konsequenz, die sich aus der durch den Druck sozialer Medien verstärkten Belastungsprobe für die westlichen Demokratien daraus ergibt, wird sein, die Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung auf ihre künftige Tauglichkeit zu überprüfen. Wenn die Wahlen der letzten Jahre immer wieder eines nahegelegt haben, dann die Einsicht, dass mitunter eine Wählerschaft vor ihren eigenen demokratischen Entscheidungen geschützt werden muss. Dies nicht durch paternalistische Vorgaben seitens sich überlegen wähnender ‚Eliten‘, und also auch nicht durch epistokratische Umschichtungen politischer Macht, wie sie John Stuart Mill vorschwebten, sondern durch die mäßigenden Effekte klug entworfener Verfahren.vi Deren Anliegen wäre nicht nur, die Gefahr politischer Übertreibungen zu bannen, sondern vor allem Wege für Kompromisse zu öffnen, die zum Wesenskern der demokratischen Regierungsform (oder Lebensform?) gehören.

    Solche Verfahren zu skizzieren, sollte der Politischen Philosophie, gerne in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, eine vornehme Aufgabe sein.



    III.

    Modellhafte Überlegungen zu Verfahren, die als konsensorientiert gelten können, gibt es seit längerem. Den heute beinahe schon klassisch zu nennenden Vorschlag liefert die Kemeny-Young-Regel, die ein Abstimmungsergebnis aus der Aggregation individueller Präferenzen durch Minimierung der ‚Abstände‘ in einem Präferenzprofil errechnet.vii Die Idee hierbei ist, dass bei einstimmig getroffener Wahl, die aus identischen Präferenzanordnungen der Individuen resultiert, kein Abstand über dem Präferenzprofil besteht und umgekehrt die Entfernung von einem Konsens zunimmt, je unterschiedlicher die Präferenzen der einzelnen Akteure verlaufen. Die Distanz zwischen zwei Präferenzordnungen entspricht dann der Anzahl der Vertauschungen von gegenläufigen Reihungen xPiy : yPjx, für Individuen i, j, die erforderlich wäre, um Deckungsgleichheit herzustellen. Als maximal konsensuales Abstimmungsergebnis für ein gegebenes Präferenzprofil zeichnet sich dann jene Anordnung aus, die in der Summe die Abstände zu den individuellen Präferenzen minimiert.

    Doch natürlich ist in einem politischen Zusammenhang längst nicht ausgemacht, was politisch sinnvoll als Konsens gelten kann. Ein anders gearteter Vorschlag, der eher auf den integrativen Aspekt dessen, was einen Konsens ausmacht, abzielt, misst die von einzelnen Kandidaten oder Alternativen in einer Abstimmung erreichte relative Zustimmungsrate über ein (verallgemeinertes) Borda-Punktscore-Verfahren. Aus dem Verhältnis zwischen dem maximal möglichen Score und dem in der Abstimmung erreichten Borda-Punktwert errechnet sich die relative Zustimmung für eine Option, so dass die hinreichende Zustimmungsfähigkeit einer Kandidatin oder eines Kandidaten an einem geeigneten Schwellenwert orientiert werden kann, um einen Kompromiss zu identifizieren.viii Und in wieder anderer Form kann auch das Verfahren der single transferable vote (STV), John Stuart Mills Hare-Verfahren, als Vorschlag verstanden werden, Gemeinsamkeiten auszuloten.

    Ohne uns in Einzelheiten verlieren zu wollen, darf festgehalten werden, dass bereits diese Beispiele zeigen, dass ‚klügere‘ Wahlverfahren existieren, die die vorherrschenden Verfahren der Mehrheitswahl bzw. der Verhältniswahl zum Wohle des demokratischen Gedankens ersetzen könnten. Natürlich bleiben Fragen der praktischen Implementierung, weil die Anwendung mathematisch konzipierter Verfahren beispielsweise auf der Ebene nationaler Wahlen keine triviale Übung ist. Für die Politische Philosophie bleibt aber die Frage vorrangig, welche prozeduralen Vorkehrungen eine geeignete Fortentwicklung der demokratischen Idee für veränderte gesellschaftliche Verhältnisse darstellen und wie sich Politik als ein gedeihliches Miteinander anstelle eines Rückfalls in ein Raubrittertum unter kapitalistischen Vorzeichen organisieren lässt. Die Tatsache, dass es zur demokratischen Lebensform keine ernsthafte Alternative gibt, sollte uns einige Anstrengungen im Geistes Madisons wert sein.


    i Einschlägig ist hier insbesondere Madisons Federalist Paper No. 10.

    ii So etwa in William H. Riker: Liberalism against Populism. A Confrontation between the Theory of Democracy and the Theory of Social Choice; Long Grove (Ill.), Waveland Press, 1988.

    iii So lautet jedenfalls der Befund in einer erhellenden Analyse von Philip Manow, siehe Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay; Berlin, Suhrkamp, 2020.

    iv Eine vereinheitlichende Beschreibung dieser Entwicklungen unternimmt Yasha Mounk, während Philip Manow in Politische Ökonomie des Populismus eher eine differentielle Diagnose vorschlägt, siehe Mounk, Yascha: The People vs. Democracy. Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It; Cambridge (Mass.)/London, Harvard University Press, 2018, sowie Philip Manow: Die politische Ökonomie des Populismus; Berlin, Suhrkamp, 2018.

    v Siehe z.B. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion; Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2007.

    vi Philip Manow würde diese These allerdings als Beleg für die exkludierenden Tendenzen repräsentativer Verfahren nehmen gegenüber denen populistische Strömungen eher als Demokratisierungstendenzen erscheinen; siehe Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay; Berlin, Suhrkamp, 2020. Die Idee einer Epistokratie hat unlängst einen eloquenten Fürsprecher gefunden in Jason Brennan: Against Democracy; Princeton (New Jersey)/Oxford, Princeton University Press, 2017.

    vii Siehe John G. Kemeny: Mathematics without Numbers; in: Daedalus 88 (1959), No. 4, 577-591, sowie Peyton H. Young: Optimal Voting Rules; in: Journal of Economic Perspectives 9 (1995), 51-64.

    viii Näheres hierzu findet sich bei Peter Emerson: The Will of the People. A Critique of (Simple or Weighted) Majority Voting; in: Open Journal of Political Science 7 (2017), 311-325.