Zeit als Kosten- und Knotenpunkt

Theorien der Verteilungsgerechtigkeit betrachten die Verteilung von subjektivem Lebensglück oder objektiven Chancen oder Ressourcen. Vielleicht ist aber eine andere Kategorie entscheidend: die Zeit

    Die Auswahl der richtigen „Währung“ der Verteilung ist ein altbekanntes Problem. Subjektive Ansätze berufen sich auf das individuelle Glücksempfinden. Sie achten zwar die Autonomie des Individuums, sind aber gesellschaftlich nicht überzeugend: Was ist, wenn jemand täglich teuren Champagner oder das Leid anderer braucht, um glücklich zu sein? Wie vergleiche ich das individuelle Glück? Praktikabler sind objektive Ansätze, die die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Güter einerseits oder Chancen und Befähigungen andererseits im Blick haben. Denn diese hindern uns daran oder befähigen uns dazu, den eigenen Lebensentwurfes zu verfolgen und in Würde zu leben. Vielleicht aber ist dasjenige, was unserem Leben und unseren Wünschen die eigentlichen Grenzen setzt, die Zeit. Was nützen mir die Chancen oder Güter, wenn ich keine Zeit (mehr) habe? Man könnte sie zwar einfach als eine Ressource oder eine Bedingung für Chancen und Glück sehen. Aber auch die gegensätzliche Perspektive lohnt sich: Ressourcen, Chancen und Glück sind ein Aspekt der Zeit.

    Hans Blumenberg bemerkt, dass die grundlegende und letztendliche Begrenzung des Lebens nicht durch Güter, Glück oder Möglichkeiten definiert ist, sondern durch die Zeit. Der Mensch lebt „in einer Welt, die keine Grenzen des ihm Möglichen vorzuzeichnen scheint, ausgenommen die eine, dass [er] sterben muss“ (71-72). Unser eigenes Lebensende wird mit Sicherheit eintreten, egal was wir an Chancen, Gütern oder Glück anhäufen. Selbst für den reichsten und schlausten Menschen der Welt rinnt seine Zeit hinfort. Kurz gesagt: „Die Welt kostet Zeit“ (73).

    Zeit als moralisch relevante „Währung“ fragt aber nicht nur nach der reinen Lebensspanne, sondern wie und unter welchen Bedingungen sie verwendet werden kann. Denn wir wünschen uns nicht nur ein langes Leben, sondern immer auch eine bestimmte Qualität. Blumenberg unterteilt diese zweckgebundene Lebenszeit in Musszeit und Kannzeit. Die Musszeit benennt die Zeitfüllung, also den „Aufwand an Zeit, der das Leben allererst möglich macht; und nicht nur das nackste (sic) der bloßen Selbsterhaltung“ (291). Die Kannzeit hingegen ist die Erfüllungszeit, ein „Kulturpflegespielraum“ oder Raum zur Selbstverwirklichung (292). Sie ist ein quasi-objektiver Gradmesser für den Aufwand, den ein Mensch leistet. Dabei wird zwischen dem Aufwand des Notwendigen (Musszeit) und dem Aufwand des Darüberhinausgehenden (Kannzeit) unterschieden.

    Zeit im Blumenbergschen Sinn ist ein Indikator für die Autonomie des Individuums. Die Musszeit bietet keine, während die Kannzeit voll von ihr ist. In der Kannzeit kommen die Befähigungen, Ressourcen und Güter mit der notwendigen Zeit zusammen. Sie kann genutzt werden, muss aber nicht. Wer reich an Chancen ist, aber keine Kannzeit zu ihrer Nutzung hat, hat keine Chancen in einem substanziellen Sinne. Wer reich an frei verfügbarer Zeit, also Freizeit, ist, aber keine Mittel hat, um sie als Erfüllungszeit zu realisieren, verharrt dennoch in der Musszeit. Das Ziel einer Gesellschaft könnte folglich darin liegen, die Musszeit ihrer Mitglieder auf ein erträgliches Maß zu drücken und die Kannzeit zu mehren sowie gerecht zu verteilen. Anstatt also die Einkommensverteilung oder die Chancengleichheit zu betrachten, könnte man sich das Verhältnis von Musszeit zu Kannzeit oder deren absolutes Vorkommen anschauen.

    Der Rückgriff auf Kannzeit und Musszeit kann ein mittlerer Weg zwischen rein subjektiver und rein objektiver Bestimmung des Lebensglücks oder der Autonomie des Menschen sein. Ressourcen und Befähigungen sind in vielerlei Hinsicht offen: Die Vielzahl an Ressourcen ist potenziell unendlich und in vielen Fällen die Menge, die man von ihnen besitzen kann, ebenso. Deswegen greift man zum Beispiel auf Expertengremien zurück, welche Grundgütern von Luxusgütern trennen, katalogisieren und in ihrer Menge bestimmen. Die Zeit hingegen ist von Natur aus begrenzt, niemand kann unendlich Kannzeit haben. Weiterhin ist Kannzeit das, was nach Abzug der Musszeit vom Tag oder Leben übrigbleibt. Kannzeit ist eher gut, Musszeit eher schlecht. Wenige Menschen wünschen sich ein Leben in der Musszeit, welche aus Pflichten, Terminen, Zwängen und Notwendigkeiten besteht – sei es durch Armut, Krankheit oder gesellschaftliche Verhältnisse. Das Schema ist also verhältnismäßig simpel. Dadurch ist es gegenüber Befähigungen und Ressourcen weniger dringlich eine künstliche Ordnung herzustellen. Eine subjektive Herangehensweise ist folglich vielversprechender.

    Man könnte die Menschen fragen: Wie viel Freizeit habt ihr, wie viel Zeit kostet euch das Notwendige? Zwar muss man damit leben, dass Menschen Dinge als notwendig einstufen, die andere als Freizeit betrachten – und natürlich auch umgekehrt. Manche Menschen betrachten beispielsweise Kinderbetreuung als Musszeit oder Zeitfüllung, andere als Kannzeit oder Erfüllungszeit. Wenn man diese Einteilung aber den Individuen überlässt, trägt man den persönlichen Lebensentwürfen Rechnung. Damit achtet und stärkt man die Autonomie. Doch man verlässt sich nicht ausschließlich auf subjektive Elemente, weil zumindest die Zeit selbst intersubjektiv messbar ist. Bewertet wird nur ihr Zweck oder ihr Potenzial. Auch für den reichsten Menschen hat der Tag nur vierundzwanzig Stunden. Auch diese Person ist unglücklich, wenn ihr Leben nur aus Musszeit besteht, also aus Pflichten und Zwängen. Ihr Unglück mag auf einem anderen Niveau stattfinden und vielleicht hat sie mehr Mittel, um aus diesem Unglück auszubrechen. Aber es bleibt ein Unglück. Sofern das Ziel nicht ist, dass Menschen ausschließlich Kannzeit besitzen, sondern über genügend verfügen, umgeht man auch einige unpraktikable Schlussfolgerungen. Man muss nicht jede Präferenz erfüllen, sondern kann sich auf gesellschaftlich wünschenswerte konzentrieren. Anstatt jemandem das lästige Zähneputzen abzunehmen, kann man Lösungen finden, damit die Person nicht mehr jeden Tag beim Pendeln im Stau steht. Wie sich die Kannzeit zusammensetzt, ist dann nicht mehr wichtig.

    Allerdings ist es nicht ganz überzeugend, die Qualität der Kann- und Musszeit außen vor zu lassen. Nicht jede Kannzeit ist gleich wertvoll, nicht jede Musszeit gleich schlimm. Nur weil ein Sklave Freizeit als Kannzeit erhält, ist seine Lage als unfreier Mensch lange noch nicht gut in einem moralischen Sinne. Für eine umfassende Theorie müsste man den Zeitansatz um weitere Bewertungsprinzipien ergänzen. Dennoch lohnt es sich, Ressourcen und Chancen von der Zeit her zu denken. Neben dem phänomenologischen Argument der Urerfahrung der eigenen und endlichen Zeitlichkeit spricht dafür auch unser Zeitgeist. Zeit scheint die bestimmende Währung unserer Epoche zu sein. Menschen kämpfen nicht nur für mehr Geld oder mehr Chancen, sondern zunehmend für mehr Zeit – für mehr Kannzeit, um genau zu sein. Außerdem bieten die Muss- und Kannzeit vielleicht einen praktikablen Kompromiss für die Theorien der Verteilungsgerechtigkeit, da man wenigstens die Zeit als objektive und begrenzte Konstante hat – während man sich in den anderen Ansätzen auf den Wert verschiedener und häufig unbegrenzter Ressourcen und Befähigungen noch einigen muss. Auch wenn die Zeit nicht alle Fragen beantwortet, bietet sie eine hilfreiche Orientierung.

    Man könnte denken, dass die Blumenbergsche Kannzeit nicht nur ein interessanter Blickwinkel auf, sondern einfach ein anderer Ausdruck für Autonomie ist. Dann wäre mit dem Begriff Autonomie bereits alles gesagt. Aber Blumenbergs Ansatz erlaubt eine besondere Würdigung des Einflusses, den die Zeit auf unser Leben und seine Struktur hat. Die Zeit gibt der Autonomie erst eine greifbare Form. Autonomie ist zwar nicht alles, doch ohne Autonomie ist das Leben sinnentleert. Ohne Zeit ist es nicht wahrnehmbar, vielleicht sogar verschwunden.


    Quellenangabe:

    Blumenberg, Hans (1986): Lebenszeit und Weltzeit. Erste Auflage 2001. Suhrkamp.