Der Sprachphilosoph John L. Austin vertrat die Ansicht, dass Entschuldigungen uns etwas über Moral verraten. Soweit, so gut.
Tatsächlich ist seine Analyse alltäglicher Situationen, in denen wir „Entschuldige“ oder „Excuse me“ sagen, noch genauso treffend wie 1950, als er seinen Plea for Excuses vortrug. Ob ich zu spät zu einer Verabredung komme oder auf ein Insekt trete – ihm zufolge gibt es auf die darauf folgende empörte Reaktion bzw. Beschuldigung zwei typische Antworten: eine Entschuldigung (excuse) oder eine Rechtfertigung (justification).
Wenn ich mich entschuldige, gestehe ich ein, dass meine Handlung falsch war, lehne aber die (volle) Verantwortung dafür ab. Zum Beispiel weil es ein Versehen war:
„Entschuldige bitte, aber…
… der Bus kam zu spät!“
… ich habe den Käfer gar nicht gesehen!“
Wenn ich mich rechtfertige, übernehme ich die Verantwortung für die Handlung, bestreite aber, dass sie falsch war: „Entschuldige, aber…
… es sind doch nur 5 Minuten und du bist doch selbst immer zu spät!“
… es ist doch nur ein blöder Käfer!“
Das ABER scheint in beiden Fällen essentiell. Denken wir einmal kurz an die letzte derartige Situation in unserem Leben. Sehr wahrscheinlich sah die Reaktion genau so aus. Aber wer von uns kann sich daran erinnern, das letzte Mal stattdessen die Worte vernommen zu haben: „Es tut mir leid! Dafür gibt es keine Entschuldigung.“
Bei mir war das 2017. Obwohl… genaugenommen waren es nicht diese Worte, sondern „ssumimassen“. Denn ich befand mich in Japan. Auf den ersten Blick beziehungsweise den ersten Hörer scheint es so, als würden die Menschen sich dort viel häufiger entschuldigen. Austin sagt, dass wir durch ein geschärftes Bewusstsein der Wörter auch unsere Wahrnehmung der Phänomene schärfen. Das ist ein guter Ansatz, finde ich. Aber etwas fehlt bei ihm. Nämlich der Blick über den eigenen Tellerrand.
Eine interkulturelle Erweiterung von Austins Ansatz ist hier vielversprechend. Der Austausch mit anderen Kulturen kann nicht nur den eigenen persönlichen Horizont erweitern, sondern auch die eigene Theoriebildung. Denn auch wenn Wissenschaft objektiv zu sein scheint und ihre Erkenntnisse universal anmuten – nicht zuletzt die feministische Philosophie oder die Post Colonial Studies haben uns da eigentlich eines Besseren belehrt. Wenn „der Mensch“ unreflektiert vom männlichen Standpunkt aus beschrieben wird, fallen weibliche Leib- und Welterfahrungen, wie sie zum Beispiel von der Phänomenologin Ute Gahlings thematisiert werden, aus dem Beschreibungsmuster „Mensch“ heraus. Und das Überhören anderer Standpunkte und Stimmen führt nicht nur zu Ungerechtigkeit. Es nimmt uns auch die Möglichkeit, von diesen Standpunkten zu profitieren. Die Philosophin Miranda Fricker hat dies als „epistemische Ungerechtigkeit“ bezeichnet.
Hören wir also einmal genauer hin!
Austin schreibt, „the study of excuses may throw light on ethics”. Das müssen wir wörtlich nehmen und in Frage stellen. Wörtlich nehmen müssen wir „excuses“, die nicht identisch sind mit 申し訳 [mōschiwake]. Denn wenn ich zu einer Britin „excuse me“ sage, ist das nicht dasselbe, wie wenn ich „mōschiwake arimassen“ zu einer Japanerin sage. Und in Frage stellen müssen wir den Satz genau deshalb – weil er eben jene Universalität suggeriert, die nicht gerechtfertigt ist. Die Untersuchung von „excuses“ kann Licht darauf werfen, wie Moral sich in sozialen Praktiken im englischen Sprach- und Kulturraum manifestiert. Gerade durch die Unterschiede zum japanischen Sprach- und Kulturraum können wir dann aber wieder, wie Austin sagt, die Wahrnehmung der Phänomene schärfen. Denn gerade das Unübersetzbare verweist auf den einzigartigen Blickwinkel aus der jeweiligen Sprache und Kultur.
Wenn wir im Wörterbuch nachschlagen, finden wir viele Übersetzungen für: „Entschuldigung!“ Darunter die im Alltag vielleicht am häufigsten gebrauchte: 済みません [ssumimassen]. Ssumimassen wird zum Beispiel benutzt, wenn ich eine Person in irgendeiner Form gestört oder versehentlich belästigt habe oder wenn ich sie bitte mich vorbeizulassen. Die Formel 申し訳ありません [mōschiwake arimassen] dagegen ist ein typischer Bestandteil in offiziellen E-Mails. Zum Beispiel als Entschuldigung dafür, die Zeit der angeschriebenen Person zu beanspruchen. Es gibt noch viele weitere Formeln, die häufiger als im Deutschen genutzt werden. Und auch in Situationen, in denen wir uns im Deutschen gar nicht entschuldigen. Die Unterschiede werden noch deutlicher, wenn wir die sprechakttheoretische Ebene betrachten.
Was tue ich eigentlich, wenn ich „Entschuldige!“ sage? Oder ssumimassen?
„Entschuldige (mich)!“ und „Excuse me!“ können verschiedene Funktionen haben, von der aufrichtigen Schuldanerkennung im Sinne eines „Tut mir leid…“ bis hin zur empörten Schuldzuweisung: „Also, entschuldige mal!“ Grammatisch betrachtet handelt es sich allerdings immer um Imperative. Und damit um die Aufforderung, mich zu ent-schuldigen. In diesem semantischen Sinne werden sie im Deutschen wohl am häufigsten genutzt. Eigentlich ein bisschen dreist. Oder? Bringen wir mit der Entschuldigung tatsächlich ein Plädoyer, einen „plea“, für uns selbst vor? Zumindest beschreibt Austin genau so die beiden typischen Antworten auf eine Beschuldigung: die volle Verantwortung für eine falsche Handlung wird abgelehnt, und zwar
a) mit Betonung auf „falsche Handlung“ (Rechtfertigung): „Es war ja nur ein blöder Käfer!“
oder
b) mit Betonung auf „volle Verantwortung“ (Entschuldigung): „Ich habe den Käfer gar nicht gesehen!“
Die Entschuldigung ist somit, wie ich sagen würde, eine Art Kompromiss: ich erkenne den Schuldvorwurf an und mildere ihn zugleich ab.
Das wird noch deutlicher im Vergleich mit dem japanischen Sprechakt. Ssumi bedeutet „OK“ oder „erledigt“ und massen ist die Verneinung. Entsprechend sage ich im Japanischen, dass es nicht OK war, die andere Person versehentlich zu berühren, während ich im Deutschen oder Englischen mich im Sinne Austins damit ent-schuldige und herausrede, dass es ja nur aus Versehen war. Sogar dann, wenn ich der Person mit voller Wucht auf den Fuß getreten bin.
Erstaunlicherweise funktioniert das in den meisten Fällen.
Die japanischen „Entschuldigungsformeln“ sind dagegen bei genauer Betrachtung gerade keine Ent-schuldigungsformeln. Noch deutlicher wird dies bei mōschiwake arimassen. Mōschiwake bedeutet „Entschuldigung“, „Rechtfertigung“ oder „Ausrede“. Und arimassen ist wieder eine Verneinung. Mōschiwake arimassen bedeutet somit „Es gibt keine Entschuldigung“. Im Japanischen verneint die Sprecherin somit ihre eigene Unschuld, die dagegen in der englischen und deutschen Ent-Schuldigung postuliert oder eingefordert wird.
Der erste Eindruck, dass Menschen in Japan sich häufiger entschuldigen, ist unter einem strengen linguistisch-phänomenologischen Blick somit richtig und falsch. Sie sagen viel häufiger ssumimassen, aber ent-schuldigen tun sie sich damit gerade nicht. Mit dieser Beobachtung haben wir nicht nur eine Eigenheit der japanischen Kultur besser kennengelernt, sondern auch die unserer eigenen Kultur: wir reden uns immer ein Stück weit heraus. Auch in Austins Plea fehlt das aufrichtige: „Tut mir leid!“
Damit bereichert uns ein Ausflug in die japanische Kultur nicht nur mit fantastischem Essen, faszinierenden Kunstformen und entschleunigenden Praktiken, sondern zeigt uns einen Aspekt unserer eigenen Sprachpraxis, den wir sonst allzu leicht übersehen.
Mir zumindest ist es erst so richtig bewusst geworden, was ich tue, wenn ich mich ent-schuldige, nachdem ich aus Japan zurückgekehrt bin. Und das war zunächst gar nicht so angenehm. Ich hatte einen blinden Fleck verloren und die Fähigkeit, über bestimmte kulturelle Eigenheiten hinwegzusehen. Zum Beispiel war mir vorher nicht bewusst gewesen, wie laut die Menschen (mich eingeschlossen) in der Berliner U-Bahn sind. Und wie sehr wir alle (mich eingeschlossen) uns permanent aus allem herausreden. Die anderen sind ja auch nicht leiser, deshalb schreie ich!
Seither versuche ich öfter einfach mal zu sagen: Tut mir leid!
Literatur
Austin, John L.: A Plea for Excuses: The Presidential Address. Proceedings of the Aristotelian Society, New Series, Vol. 57, 1956, S. 1-30
Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen. Verlag Karl Alber 2016
Fricker, Miranda: Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing. Oxford University Press 2007