Ein Beitrag von Volkhard Wels zu einem Gedankenexperiment zur Fantasie von Silvan Imhof

Was nützt Fantasie?

Volkhard Wels' Input zu einem Gedankenexperiment

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    Das Gedankenexperiment

    Filipo hat viel Phantasie.

    Er findet die Welt zwar nicht schlecht, kann sich aber doch vorstellen, dass viele Dinge besser sein könnten. Weil er gerne malt, hält er seine Vorstellungen in Bildern fest: Er zeichnet eine Welt, in der er jeden Tag sein Lieblingsessen bekommt, in der er die besten Spielsachen hat, in der er mit seinen Eltern und Freund*innen nie Streit hat, in der er nur gute Noten bekommt, in der es keine Waffen gibt, in der alle Menschen genug zu essen haben, in der es keine Umweltzerstörung gibt usw.

    Eines Tages begegnet ihm ein Magier: «Du hast eine tolle Phantasie. Deshalb schenke ich dir diesen Zauberpinsel. Alles, was du damit malst, wird Wirklichkeit.» Filipo ist zuerst ganz begeistert: Jetzt kann er alle seine phantastischen Träume wirklich machen!

    Dann wird er aber nachdenklich und fragt sich: «Ist es wirklich gut, wenn meine Phantasie wirklich wird? Will ich das überhaupt und darf ich das?»

     

     

    Zum Glück fragt Filipo sich das, denn das ist eine wirklich gute – und deshalb auch schwierige – Frage. Dass Phantasie nützlich ist, daran kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Ohne Phantasie gäbe es keine Kunst, keine Literatur, keine Malerei und keine Musik. Mehr noch: ohne Phantasie gäbe es auch keine Wissenschaft und damit keinen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Nur, weil die Menschen sich Dinge vorstellen können, die noch nicht existieren, können sie diese Dinge auch erschaffen. Hätte nicht irgendwann sich jemand vorgestellt, dass man mit einem Rad und einer Ladefläche einen Wagen konstruieren kann, dann gäbe es keinen Wagen. Nur, weil sich jemand vorgestellt hat, wie man einen Impfstoff erschaffen könnte, um Krankheiten zu verhindern, konnte jemand im Labor so lange forschen, bis er einen solchen Impfstoff entdeckt hatte.

    Phantasie ist das grundlegende Vermögen des Menschen, das Fortschritt möglich macht.

    Allerdings könnte man hier sofort etwas einwenden. Wenn sich nicht jemand vorgestellt hätte, dass man einen anderen Menschen mit einem Knüppel leichter umbringen kann als mit den eigenen Händen, dann hätte es auch diese Art von ‚Fortschritt‘ nicht gegeben. Und an diesem Beispiel sieht man auch gleich, dass die Phantasie eine höchst zwiespältige Sache ist.

    Früher, im Mittelalter, hat man geglaubt, dass es im Gehirn des Menschen drei verschiedene Vermögen gebe: das Gedächtnis, das Vorstellungsvermögen (die Phantasie) und die Vernunft. Diese Unterscheidung ist immer noch hilfreich, um zu verstehen, was in unserem Kopf passiert. Das Gedächtnis speichert alle Sinneseindrücke. Es merkt sich alles, was wir sehen und hören. Das Vorstellungsvermögen ist das eigentliche Vermögen des Sehens und Hörens, des Sich-Vorstellens von dem, was draußen außerhalb des Kopfes passiert oder passieren könnte. Es reproduziert die äußeren Sinneseindrücke im Inneren des Kopfes. Die Vernunft ist das Vermögen, diese Sinneseindrücke in Sprache umzusetzen und Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen. Die Vernunft tut damit das, was wir „denken“ nennen. Sie ist die Herrscherin im Kopf und kontrolliert die beiden anderen Vermögen. Sie entscheidet, an was wir uns erinnern und was wir uns vorstellen möchten. Sie entscheidet, was daraus für das eigene Tun und Handeln folgt. Die Vernunft allein sagt uns deshalb auch, dass wir einen anderen Menschen nicht mit einem Knüppel umbringen sollten, nur weil er etwas hat, das wir haben wollen. Die Vernunft allein hat die moralischen, ethischen Maßstäbe, diese Entscheidung zu treffen. Die Phantasie dagegen stellt sich vor, wie schön es wäre, wenn wir das hätten, was der andere hat. Und wie einfach es wäre, das zu bekommen, wenn wir einen Knüppel nehmen.

    Was aber passiert, wenn die Vernunft keine Kontrolle mehr über die Phantasie hat? Wenn die Vernunft zum Beispiel schläft oder betäubt ist? – Wenn die Vernunft schläft, dann ist die Phantasie frei. Die Bilder und Vorstellungen bekommen ein Eigenleben, weil sie nicht mehr kontrolliert werden. Wir träumen und phantasieren. Wir stellen uns Dinge vor, die es nicht gibt und die nicht möglich sind – zum Beispiel, dass wir in der Schule gute Noten bekommen, ohne etwas dafür getan zu haben. Nur die Vernunft sagt uns, dass das nicht möglich ist.

    Noch schlimmer: Wenn die Phantasie nicht von der Vernunft kontrolliert wird, dann kann sie auch das erzeugen, was wir gar nicht wollen: Ungeheuer und Monstren, wie wir sie aus Albträumen kennen. Es gibt ein Bild von dem spanischen Maler Francisco de Goya aus dem Jahr 1799.[1] Es zeigt einen Mann, der den Kopf auf den Tisch gelegt hat und schläft. Links unten steht der Titel des Bildes, der (scheinbar eindeutig)[2] auch sagt, was auf dem Bild zu sehen ist: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Aus dem Dunkel hinter dem schlafenden Mann kommen unheimliche Wesen: Fledermäuse, Eulen, eine Katze, ein Luchs. Es sind Tiere der Nacht und der Dunkelheit, die immer dann kommen, wenn das Licht der Aufklärung verblasst. Wenn die Vernunft nicht wachsam ist, dann übernimmt die Phantasie die Macht. Alle Menschen kennen das, weil alle schon einmal einen Albtraum hatten.

    Albträume werden wahr, wenn die Vernunft die Kontrolle verliert.

    Genau das aber würde passieren, wenn Filipo den Zauberpinsel annimmt. Deswegen sollte er diesen Zauberpinsel auch besser gar nicht annehmen. Filipo sollte den Zauberer lieber um eine wachsame Vernunft bitten – damit nicht seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden.



    [1] Hier gibt es eine Abbildung. 
    [2] Wer möchte, kann hier nachlesen oder hören, warum das Bild nicht ganz so eindeutig ist, wie es scheint: