Paolo Veronese - die Erschaffung Evas

Schlafes Kinder – Die Anthropologie des Jakob Böhme

Jakob Böhmes dialektische Anthropologie inspirierte Hegel und ist bis heute außergewöhnlich: nicht die verbotene Frucht, sondern der Schlaf vertreibt den Menschen aus dem paradiesischen Urzustand.

    Der Görlitzer Schustermeister und Philosoph Jakob Böhme (1575 bis 1624) fand nicht über ein akademisches Studium, sondern über Erleuchtung zu tieferer Einsicht in das, was er „Mysterium Magnum“, das große Geheimnis der Welt, nannte. Dass alle seine Anschauungen durch und durch christlich fundiert waren, schützte ihn nicht vor ernsten Konflikten mit der lutherischen Geistlichkeit in seiner Stadt. Mit seiner Mischung aus Mystik und Philosophie prägte er die Theosophie seiner Zeit und rüttelte mit guten Argumenten an Dogmen der Kirche. Dazu gehörten seine Vorstellung vom Wesen Gottes und der Menschen. Bei ihm ist es nämlich nicht der Verzehr der verbotenen Frucht, wodurch der Mensch sein paradiesisches Wesen verliert und zu Selbstbewusstsein und Erkenntnis gelangt. Vielmehr ist es der Moment, als Gott ihn einschlafen lässt, um mit der Erschaffung Evas seine gottgleiche Einheit in zwei Geschlechter zu teilen.

    Am Anfang war der Wille

    Bei Böhme war am Anfang von allem der Ungrund. Dieser „ist das Nichts und das Alles und ist ein einiger Wille“ (GW I,3). Der Ungrund ist der absolute Gott, ein „reiner Geist ohne alles Wesen“ (AB S. 30). Hier gibt es noch keine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Liebe und Zorn. Der Ungrund ist das Mysterium Magnum und heißt bei Böhme ewiger Vater oder Gott.

    Dieser Ungrund hat zwar noch kein Wesen. Aber er hat einen Willen. Man könnte sogar sagen: der Ungrund ist der Wille (LF 46). Es ist der Wille, sich zu offenbaren und „das Nichts in etwas einzuführen“ (DS II,7). Die Wesensnotwendigkeit der Welt ist für Böhme „der Wille zum Etwas“ (GW VII,27). Wenn der Ungrund aber bereits alles ist, gibt es nichts außerhalb von ihm, worauf dieser Wille abzielen könnte (GB I,17). Er muss also sich selbst begehren und zugleich etwas anderes als sich selbst. Deswegen kommt es bei Böhme zu einer „innergöttlichen Differenzierung“ (HB S. 56), die eine beeindruckende Dialektik bietet.

    Die Geburt der Begierde oder göttliche Dialektik

    Das Etwas ist etwas, welches sich vom Allem und Nichts abhebt. Der Wille des Ungrunds zielt also darauf ab, sich positiv zu differenzieren. Dieses positive Prinzip der Differenzierung nennt Böhme entsprechend den Pfeilern der christlichen Theologie den Sohn. Die Kraft, mit der diese Differenzierung vorgenommen wird, heißt bei ihm Geist (GW I,6). Wenn es aber etwas Positives gibt, dann braucht es bei Böhme auch etwas Negatives. Andernfalls wäre eine Unterscheidung, eine Offenbarung gar nicht möglich: „der ausgeflossene Wille will die Ungleichheit, auf daß er von der Gleichheit unterschieden und sein eigen Etwas sei“ (TS III,5). Er kann sich nur „dadurch zum Wesen gebären, dass er in sich selbst einen ewigen Gegensatz zweier Prinzipien setzt“ (AB S. 33).

    Im Moment der Offenbarung Gottes, durch die überhaupt die Welt erst als solche geschaffen werden kann, muss sich Gott innerlich differenzieren: „in das dunkle Prinzip Gott Vaters als des Zornes, das lichte Prinzip Gott des Sohnes als des absolut Guten, und das Prinzip des heiligen Geistes als das Ineinander beider in der ringenden realen Welt“ (AB S. 35). These, Antithese, Synthese. Das Ringen von Gut und Böse ist schlichtweg die notwendige Bedingung für die Existenz des offenbarten Gottes, der Welt und auch des Menschen, da „doch die Geburt alles Lebens in solchem Contrarium stehet“ (AS 53).

    Es gibt also keinesfalls einen Dualismus zwischen Gut und Böse als unabhängige Kräfte, sondern beide sind in Gott, in der Welt und in den Menschen enthalten. Das Böse wird immer freigesetzt, sobald die Einheit – auch zum Guten hin – durch Unterscheidung und Differenzierung aufgelöst wird. Das Leben braucht Differenzierung, das Leben braucht also das Böse. Oder wie Feuerbach Böhme zusammenfasst: „Der Ursprung des Lebens ist der Ursprung des Bösen“ (LF 52).

    Der Sündenfall

    Damit kommen wir zum Menschen. Am Anfang, vor der Offenbarung der Welt durch die Schöpfung, war der Urmensch nicht irdisch, sondern makellos, engels- und gottgleich, ein Abbild des Ungrunds. Und damit war der Mensch geschlechtslos, wie Gott und die Engel es sind: „Adam war ein Mann und auch ein Weib. Er hatte die Tinkturen vom Feuer und Lichte in sich, in welcher Konjunktion die eigene Liebe als das jungfräuliche Zentrum stund“ (MM 18,2). Er hatte „auch keine Zähne, keinen Magen, keine Gedärme, folglich auch natürlich keinen Podex“, wie Feuerbach bemerkt (52).

    Dass die ganze Welt diese Dialektik und damit auch das Böse in sich trägt, liegt in Böhme christlicher Ontologie an der eigentlichen Urkatastrophe. Diese ist nicht, auch das ist eine wichtige Abweichung von herrschenden Dogmen der Zeit, der Sündenfall durch den Verzehr der verbotenen Frucht. Der eigentliche Sündenfall ist derjenige Luzifers, der aus dem Himmel herabstürzt und die paradiesische Erde zu einem „Trauerhaus“ (AM 16,27) des Todes und der Finsternis macht. Der Mensch hatte nur das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein: „Der arme Mensch ist nicht aus seinem vorgesetzten Willen gefallen, sondern durch des Teufels infiziertes Gift“ (AM 16,29).

    Aufgewacht aus einem Traum

    Der entscheidende Entwicklungsschub des Menschen kommt nicht durch den Verzehr der verbotenen Frucht. Es ist vielmehr der Moment, als Gott ihn in den Schlaf schickt. Denn Engel müssen nicht schlafen und Gott auch nicht. „Mit dem Schlaf aber ward im Menschen die Zeit offenbar, denn er schlief ein der englischen Welt und wachte auf der äußern Welt“ (MM 19,4), schreibt Böhme. Er wird von den Schicksalsmächten, die Luzifer eingefädelt hat, überwältigt. Der Schlaf deutet den Tod an. Erst durch den Schlaf wird der Mensch zum Menschen. Die Erkenntnis von Gut und Böse hingegen, die sonst häufig an den Beginn des menschlichen Daseins gestellt wird, ist bei Böhme einfach nur ein Zeichen, dass Gott den Menschen mag.

    Die Menschwerdung im Schlaf ist sogar ganz plastisch: Adam wird eine Rippe entnommen um daraus Eva zu erschaffen. Er verliert seine Engelsgestalt, als er in zwei Geschlechter geteilt wurde. Diese Aufspaltung aktiviert im Menschen ein Begehren nach Vollkommenheit – ähnlich wie man es von Platons Kugelmenschen kennt. Da Gott den Menschen als Ebenbild erschafft, ist nur folgerichtig, dass auch der Mensch Gottes Dialektik von nun an in sich trägt. Er ist „eine kleine Welt aus der großen und hat der ganzen großen Welt Eigenschaft in sich“ (TS 22,7). Wie in Gottes Offenbarung treten auch beim Menschen durch die Differenzierung – den Verlust der Einheit – im Begehren das Gute und auch das Böse zu Tage.

    Vollkommenheit findet der Mensch also erst, wenn alle Unterschiede überwunden sind. Man könnte daraus ein politisches Programm formulieren. Bei Böhme ist diese Aussicht aber existenziell: „Am Ende wird die Jungfrau wieder wie Adam sein, ohne weibliche oder männliche Gestalt oder Glieder. Und nie wird mehr’s sein: du bist mein Mann, du bist mein Weib, sondern Brüder!“ (VF 30, 62).

    Fördern und Fordern

    Schon dass Böhme keine Anhaltspunkte für eine Überlegenheit des Mannes oder Urschuld der Frau sah und Zweigeschlechtlichkeit für ein zu überwindendes Übel hielt, musste Widerspruch provozieren, ganz abgesehen von Fragen der Theodizee und dem Bösen als Teil Gottes. Zur Angriffsfläche wurde er aber vor allem, weil er sich als einfacher Schuster erdreistete, eine eigene Interpretation christlicher Texte zu liefern. Aber, so fragte er, wieso muss ich erst studiert haben, um auf kluge Gedanken zu kommen? Innere Erkenntnis genügt (GW 106-108). Denn der Mensch „ist selber das Buch des Wesens aller Wesen, dieweilen er die Gleichheit der Gottheit ist, das große Arkanum lieget in ihme“ (TS 20,3).

    Er wurde nicht nur zu einem Impulsgeber von Dialektik und Idealismus, sondern auch und der moralischen Gleichheit aller Menschen und des universellen Individualismus. Diesen verstand er nicht nur als Privileg, sondern auch als Aufgabe: „Denn es kann sich kein Mensch entschuldigen seiner Unwissenheit, sintemal Gottes Wille ist in unser Gemüte geschrieben“ (DP 0,7). Böhme förderte das Denken Hegels, Feuerbachs und Marx‘ und fordert jeden von uns.

    Primärliteratur:

    GW: Von der Gnadenwahl.

    DS: De signatura rerum.

    GB: Von göttlicher Beschaulichkeit.

    TF: Theosophische Fragen.

    AS: Anti-Stiefelius.

    MM: Mysterium Magnum.

    AM: Aurora oder Morgenröte im Aufgang.

    VF: Vierzig Fragen von der Seele.

    DP: Die drei Prinzipien Göttlichen Wesens.

    Sekundärliteratur:

    AB: Bastian, Albert (1905): Der Gottesbegriff bei Jakob Böhme. Dissertation an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

    LF: Feuerbach, Ludwig (1833): Geschichte der neueren Philosophie.

    HB: Bornkamm, Heinrich (1925): Luther und Böhme.

    GW: Wehr, Gerhard (1985): Jakob Böhme. Rowohlt.