Ist das Alte immer besser?

    Zentrale Frage: Welchen Wert haben Veränderungen? Welchen Wert haben Dinge, die so bleiben, wie sie sind? Wie sollen wir einen Kompromiss zwischen Altem und Neuem finden?

     

    Hintergrund: Wenn alles schlimm ist, braucht es Veränderung. Wenn alles gut läuft, sollte man lieber alles beim Alten lassen. Es ist schwer, diese beiden einfachen Lebensweisheiten zu bestreiten. Schwieriger ist ihre Anwendung. Es ist eben nur selten ‘alles schlimm’, und noch seltener ‘alles gut’ – und zwar egal, ob wir über Politik, Kultur, Gesellschaft oder unser Privatleben sprechen. Bezeichnend ist allerdings, dass sich spezifische Einstellungen dem Neuen gegenüber oft aus einer dieser beiden Überzeugungen speisen: Nach Veränderungen rufen oft all jene, für die das Leben immer weniger Gutes hat – all die Unterdrückten, Marginalisierten und Diskriminierten unserer Welt. Umgekehrt richten sich diejenigen, denen es besonders gut im Leben geht, gerne in einem behaglichen Konservatismus ein. Geht es um einen angemessenen Umgang mit Veränderungen oder ‘dem Neuen’, brauchen wir eine subtilere Betrachtungsweise. Es muss gefragt werden: Für wen läuft es gerade gut? Und warum läuft es für andere schlechter? Die entscheidende Folgefrage ist dann, ob das Ganze zwingend ein Nullsummenspiel ist. Möglicherweise gibt es ja Veränderungen, die allen zugute kommen. Andererseits erleben wir heutzutage aber auch Veränderungen, von denen nicht klar ist, ob sie überhaupt jemanden nutzen. Ist es besser mit dem E-Bike als mit einem normalen Velo zu fahren? Ist es toll, dass wir keine Telefonnummern mehr auswendig lernen müssen? Hier stellt sich die Doppelfrage, ob es möglicherweise ein Anrecht darauf gibt, dass bestimmte Dinge so bleiben, wie sie sind, oder ob Veränderungen immer etwas Gutes haben, solange sie niemandem aktiv schaden. Auch hier scheint es letzten Endes um einen Kompromiss zu gehen: Wer nichts verändert, lebt zu sehr in der Vergangenheit. Wer alles umkrempeln möchte, verliert sich in der Zukunft. Die entscheidende Frage lautet also: Was heisst es, in der Gegenwart zu leben?

     

    Das Gedankenexperiment:

    Die Beschäftigung mit dieser Frage ist insofern nicht leicht, als wir alle ja nicht anders können, als in der Gegenwart zu leben. Analog könnte man auch sagen, dass wir alle verschiedene Arten von Kompromissen zwischen Veränderung und Stillstand, zwischen Fortschritt und Tradition eingehen. Das erschwert den Blick dafür, was jeweils wertvoll ist an beiden Perspektiven. Das folgende Gedankexperiment könnte dabei helfen, den Blick für diese Frage zu schärfen. Die Stadtplaner:innen von B. haben festgestellt, dass die Bewohner:innen von B. sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Die einen mögen es eher traditionell, die anderen wollen immer neue Sachen ausprobieren. So wie die Stadt sich entwickelt, sind alle immer unzufrieden, weil sich Altes mit Neuem vermischt: Neben ein Haus aus dem 19. Jahrhundert wird ein modernes Gebäude mit verspiegelten Fenstern gebaut, im alten Schlosspark werden moderne Laternen installiert, etc. Deshalb fassen die Stadtplaner:innen von B. einen radikalen Entschluss: Die Stadt wird ab sofort aufgeteilt. Es gibt die „Altstadt“ und die „Neustadt“. Bis auf die unerlässlichsten Dinge wie Wasser-, Strom und Kommunikationsleitungen wird alles in der Altstadt auf den Zustand von 1950 zurückentwickelt. Die Läden, die Häuser, die Strassen, alles soll möglichst so wie damals aussehen, und es darf nichts mehr verändert werden. Nach Möglichkeit sollen sich die Bewohner:innen der Altstadt auch auf eine ‘traditionelle’ Weise kleiden und benehmen. In der Neustadt dagegen wird erneuert, was erneuert werden kann. Alles soll supermodern und auf dem neusten Stand der Technik sein. Gebäude bleiben kaum ein halbes Jahr im selben Zustand erhalten, es werden alle zwei, drei Monate die Anzeigen an Tramhaltestellen gegen neue, bessere ausgetauscht. Überall kommt künstliche Intelligenz zum Einsatz, inklusive selbstfahrender Autos und Läden, in denen man automatisch Produkte angeboten bekommt, die den eigenen Präferenzen entsprechen. Nehmen wir an, dass sie die Vision von der Altstadt und der Neustadt realisieren liesse. Wo würden Sie gerne leben, wenn Sie sich entscheiden müssten? Was würde Ihnen dabei fehlen?

     

    Worauf das hinauslaufen könnte: Die vermutete Reaktion auf das Gedankenexperiment ist, dass man das Leben in der Altstadt als bedrückend und das Leben in der Neustadt als kalt empfinden würde. Diese Metaphern müssten weiter ausbuchstabiert werden. Das Betrückende am Leben in der Altstadt könnte etwa darin bestehen, dass wir gerne auch mal überrascht werden oder eine alternative Perspektive auf das Leben präsentiert bekommen. Das geht nicht, wenn alles immer nur so bleibt, wie es ist. Das Kalte am Leben in der Neustadt kann dagegen seinen Ursprung darin haben, dass wir unsere Identität nicht nur als personale Identität verstehen: Wer wir sind, hat auch etwas mit der Umgebung zu tun, in der wir leben, und wenn diese Umgebung sich permanent ändert, gibt es keinen Sinn mehr, in dem man sagen könnte: Dieses Quartier, diese Strasse gehört zu mir.