Vorbemerkung
Mit dem Verhältnis zwischen Philosophie und psychodynamischer Psychotherapie verhält es sich ähnlich wie auf dem obigen Foto, das an der Westküste der Atlantik-Insel Madeira aufgenommen wurde: Es existiert der Bereich der Kultur, versinnbildlicht durch den Küstenstreifen, auf dem Früchte angebaut werden, was recht gut zur ursprünglichen Bedeutung des Substantivs „Kultur“ passt. Denn das Lateinische „cultura“ geht auf „colere“ zurück, das „pflegen, bebauen“ bedeutet, womit zunächst einmal der Landbau gemeint ist. Hart daran angrenzend befindet sich indes der Ozean, der traditionell ein Symbol fürs Unbewusste mit seinem ambivalenten Charakter des Zerstörerischen und gleichzeitig Nährenden und Tragenden ist, wobei seine Tiefen kaum auszuloten sind. Als wir, meine Frau und ich, dort unten waren, wollte ich eigentlich ein Bad nehmen, um mich zu erfrischen, doch dann bin ich auf ein Schild gestoßen, auf dem ausdrücklich wegen der immensen Strömungen davor gewarnt wurde. In solch einem Fall ist es gut, nicht den momentanen Impulsen nachzugeben, sondern Abstand zu gewinnen. Dem ist auch die Philosophie dienlich, die das Geschehen mit einer gewissen Distanz betrachtet, auf dem Foto symbolisiert durch den Blick von oben.
1. Historischer Aspekt: Mäeutik
Berührungspunkte zwischen Philosophie und Psychotherapie existieren in mannigfacher Hinsicht, sowohl in historischer Betrachtung als auch gegenwärtig. Dennoch handelt es sich um zwei unterschiedliche Zugänge zum Verständnis des Menschen, wie bereits das Beispiel der Mäeutik deutlich macht. So legt Platon in seinem Dialog Theaitetos Sokrates die folgenden Worte in den Mund:
„Von meiner Hebammenkunst nun gilt im Übrigen alles was von der ihrigen [= Hebammen]; sie unterscheidet sich aber dadurch, dass sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen und dass sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt und nicht für Leiber. Das größte aber an unserer Kunst ist dieses, dass sie imstande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings ein Trugbild und Falschheit zu gebären im Begriff ist oder Fruchtbares und Echtes. Ja, auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen: Ich gebäre nichts von der Weisheit“ (Platon 1981, 150b–c)
– er ist nur Geburtshelfer derselben.
Wenn es zu Beginn des Zitats heißt, „Von meiner Hebammenkunst nun gilt im Übrigen alles was von der ihrigen [= Hebammen]“, dann ist damit eine geistige Geburtshilfe gemeint. Dadurch wird das im nachfolgenden Satz angesprochene Paradoxon verständlich, dass sich diese auf Männer und nicht auf Frauen beziehe und ferner nicht auf den Körper, sondern auf die Seele. Denn wir befinden uns in der patriarchalischen Welt der griechischen Antike, in der die Philosophie Männern vorbehalten ist. Die größte Gemeinsamkeit zwischen der realen und der philosophischen Hebammenkunst bestehe nach Sokrates nun darin, nicht selber zu gebären, sondern nur als Geburtshelfer tätig zu sein.
Mit anderen Worten: Durch geeignete Fragen vermag man jemandem zu höherer Erkenntnis zu verhelfen, indem man ihn veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbsttätig aufzuspüren und dergestalt Einsicht zu „gebären“. An diesem Punkt existieren Gemeinsamkeiten mit dem psychotherapeutischen Prozess, sofern er sich nicht direktiv gestaltet, sondern den Patienten durch geeignete Fragestellungen einem Wissen näherkommen lässt, das in ihm bereits enthalten ist. Einem anderen Aspekt kann allerdings, wenn man ihn auf die Psychotherapie überträgt, nur zum Teil zugestimmt werden, nämlich dass die Mäeutik imstande sei zu prüfen, „ob die Seele des Jünglings ein Trugbild und Falschheit zu gebären im Begriff ist oder Fruchtbares und Echtes“. Denn jeder Psychotherapeut kennt Abwege und Irrwege im Prozessverlauf, und nicht wenige Therapien enden mit nur bedingtem Erfolg oder werden gar abgebrochen. Auf der anderen Seite werden Patienten aber bei guter Entwicklung dafür sensibilisiert, vermehrt auf eigene Bedürfnisse zu achten, und sie gewinnen an Autonomie, sodass sie dann durchaus bis zu einem gewissen Grad imstande sind zu prüfen, ob das Ganze für sie plausibel ist oder nicht.
Die für Psychoanalytiker naheliegende Frage, ob das „Gebären“ von Wissen, das bisher nicht bewusst ist, als „unbewusstes Wissen“ bezeichnet werden kann, soll hier nur kurz gestreift werden. Gottfried Fischer, der sich um die philosophischen Grundlagen der Psychotherapie als einer unabhängigen Wissenschaft große Verdienste erworben hat, beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“ (Fischer 2008, S. 106; Fischer 2011, S. 20). Wir stehen dieser Auffassung indes ein wenig skeptischer gegenüber (Rieken 2015a, S. 31f.), weil man bedenken sollte, dass der Begriff des Unbewussten der Antike gänzlich fremd war und er auch nur dann auf die Seele angewendet werden könnte, wenn für die Autoren jener Zeit Unterscheidungen in verschiedene Bereiche vorhanden gewesen wären, die zumindest Analogien zum Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten bzw. zum Es, Ich und Über-Ich zuließen. Das ist aber nicht der Fall. Unabhängig davon sollte bedacht werden, dass es in der Mäeutik weniger um emotionale Prozesse geht als um die Mehrung des Wissens. Eine Psychotherapie bedeutet demgegenüber weitaus mehr als ein philosophisches Gespräch, weil zwar ebenso neues Wissen – über sich und andere – generiert wird, es aber auch um neue Beziehungserfahrungen und die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse bzw. Defizite geht. Die Gemeinsamkeit zwischen Mäeutik und Psychotherapie besteht indes darin, ein Wissen ans Licht zu heben, das in einem selber potentiell, aber noch nicht real vorhanden ist, durch geschicktes Fragen jedoch hervorgeholt werden kann. Insofern kann der Philosophie mit ihrer spezifischen Technik der Mäeutik ein würdiger Platz in der Vorgeschichte der Psychotherapie eingeräumt werden. Entsprechendes gilt allerdings auch für Schamanismus, Volksheilkunde sowie Beichte in der institutionalisierten Kirche (Rieken 2015a, S. 24–30).
2. Bezug zu philosophischen Grunddisziplinen
Anhand ausgewählter Beispiele aus den Bereichen Ethik, Anthropologie und Erkenntnistheorie soll im Folgenden auf Berührungspunkte zwischen Philosophie und Psychotherapie aufmerksam gemacht werden
2.1 Ethik
2.1.1 Was ist „gut“?
Wer am Anfang seiner Karriere als Psychotherapeut steht und begonnen hat, in Ausbildung unter Supervision mit Patienten zu arbeiten, tendiert mitunter zu einem gewissen moralischen Rigorismus. Das ist verständlich, man ist noch unsicher und benötigt daher strikte Vorgaben, um in einem Bereich, der schwierig zu erlernen ist, Orientierung zu erlangen. So fragen sich Ausbildungskandidaten immer wieder, ob es moralisch statthaft sei, wenn sie selber von ihren Patienten „profitieren“, statt ausschließlich um deren Seelenheil bemüht zu sein. Gewiss sollte man Patienten nicht funktionalisieren und sie für eigene Zwecke missbrauchen, indem man zum Beispiel von eigenen Problemen erzählt, die mit denen des Patienten kaum etwas zu tun haben. Doch ob man sein Wissen über Behandlungstechnik oder das Innenleben des Anderen mithilfe des Patienten nicht doch vermehren darf, steht auf einem anderen Blatt. Mit solchen Überlegungen befinden wir uns mitten im Bereich der Ethik, denn es geht um nichts Geringeres als die Frage, ob unser berufliches Handeln sittlich verantwortlich ist oder nicht.
Ich pflege derartigen Skrupeln mit Kant zu beantworten, der einmal sinngemäß meinte, es gebe nichts Gutes außer dem guten, noch nicht verwirklichten Willen.[1] Wenn ich an einem Kanal spazieren gehe und sehe, dass ein Kind hineingefallen ist und zu ertrinken droht, ist mein erster Impuls möglicherweise, ins Wasser zu springen – das ist der gute, noch nicht verwirklichte Wille. Wenn ich aber nun ins Wasser springe, zu dem Kind schwimme, es ergreife, an Land ziehe und die erleichterten Eltern und sonstigen Zuseher Dankbarkeit zeigen, kommen eigene Bedürfnisse ins Spiel, indem ich mich auf einmal als „guter Mensch“ präsentiere. Insofern profitiere ich selber davon, und das ist auch beim Psychotherapeuten der Fall, wenn er glücklich darüber ist, dass der Patient Fortschritte macht oder dieser ihm dabei behilflich ist, sein Wissen über die eigene Klientel zu vermehren. Das ist indes in moralischer Hinsicht kein Problem, wenn der „altruistische“ Anteil gegenüber dem „egoistischen“ überwiegt, der Prozentsatz gewissermaßen 70:30 oder 60:40 beträgt. Alles andere würde den Menschen überfordern, denn „allgütig“ ist in unserer Vorstellung allein Gott, die „Sterblichen“ sind gebrechlichere Wesen.
Außerdem ist man zufriedener, wenn man selber etwas von dem hat, was man tut, und das kommt wiederum den Patienten zu Gute. Denn was wäre die Alternative? Selbstlosigkeit? Sie ist problematisch, denn wer selbstlos ist, ist sein Selbst los, und ob man sich zu so jemandem, der für sich in Anspruch nimmt, ausschließlich gut zu sein, in Therapie begeben möchte, sei zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Wesentlich ist demgegenüber, um es noch einmal auf den Punkt zu bringen, dass die „prozentuale“ Verteilung zwischen „gut“ und „böse“ einigermaßen austariert ist.
2.1.2 Sünde und Schuldgefühl
Das kann für eine gewisse Entspannung sorgen, was mit Blick auf ethische Fragen in den westlichen Gesellschaften besonders wichtig ist, weil wir, wie Ethnologen zu sagen pflegen, im sogenannten Schuldkulturen leben, während im asiatischen Raum Schamkulturen überwiegen (Benedict 2006; Creighton 1990). Die Dominanz der Schuld in unseren Breiten hat zu tun mit der christlichen Philosophie bzw. mit der Vormacht religiöser Vorstellungen im Mittelalter. Es hat nämlich keine andere Epoche gegeben, die so sehr mit dem Göttlichen verbunden war, dass nahezu alle Lebensbereiche davon betroffen waren (Melville 2010, S. 388). Der Alltag war ohne die Riten des Volksglaubens und die Vorschriften der Kirche undenkbar:
„Wollte man einen Vertrag abschließen, rief man zuerst die Trinität an; nahm man ein Geldstück in die Hand, sah man ein religiöses Symbol oder einen Heiligen, schlug man ein Kochbuch auf, war die Garzeit nach der Dauer von Vater-unser-Gebeten angegeben usw.“ (Dinzelbacher 1993, S. 120f.).
Der Grund für das Verlangen, alle Lebensbereiche mit christlichen Inhalten zu erfüllen, bestand in der Angst davor, dem Herrn allzu fern zu sein – und das ist bedingt durch den Sündenfall (1. Mose 3). Die ursprüngliche Gottesnähe im Garten Eden hat sich dadurch in Gottesferne verwandelt, weswegen die Menschen große Angst davor hatten, der Sündhaftigkeit zu verfallen und in die Hölle zu kommen, wobei die schwersten Sünden die sieben Todsünden waren, nämlich Hochmut, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Völlerei, Zorn und Trägheit. Das hat sich zwar durch die Säkularisierung geändert, wir reden heute nicht mehr von den Todsünden, doch heißt das nicht, dass sie keine Rolle mehr spielen würden. Sie tun es zwar nicht in der Öffentlichkeit, doch durch die Individualisierungsprozesse der Neuzeit sind sie ins Privatleben verschoben worden, wodurch auch die „Sünde“ individualisiert wurde und in Gestalt des Schuldgefühls weiterlebt (das Folgende nach Rieken 2020, S. 79f.).
Anders formuliert: Die Infragestellung der Religion ist zunächst ein Prozess, der im Bewussten abläuft, weil er eng mit der kritischen Vernunft als Frucht der Aufklärungsphilosophie verknüpft ist. Habituell im Sinne eines Gleichgültig-Werdens wird der christliche Glaube erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, als sich die Kirchen mehr und mehr zu leeren beginnen und ihre Rolle als moralische Instanz abnimmt. Gleichzeitig aber, beginnend etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, psychologisiert sich, folgt man Richard Sennett (2004), das Verständnis von Individuum und Gesellschaft, indem der Einzelne sich nicht mehr so sehr über soziale Rollen definiert, sondern über den Charakter bzw. die Individualität, womit sich Schuld und Scham im Kern der Persönlichkeit ansiedeln. Zuvor waren private und öffentliche Sphäre voneinander getrennt.
Die Individualisierung der Schuld schlägt sich auch in den psychologischen Wissenschaften nieder. Blättert man zum Beispiel im ICD-10, der psychiatrischen Diagnostik, so wird man eine Fülle an Phänomenen antreffen, die Analogien zu den sieben Todsünden aufweisen (vgl. Bucher 2012). Ähnlichkeiten zur „Völlerei“ findet man in den Essstörungen wieder, zum „Hochmut“ in der narzisstischen Persönlichkeit, zur „Unkeuschheit“ in den sexuellen Störungen, zum „Zorn“ in der emotional instabilen und dissozialen Persönlichkeit, zur „Trägheit“ in der Depression oder bei der Prokrastination, dem pathologischen Aufschieben.
Auch mit der Tiefenpsychologie bestehen Ähnlichkeiten, denn diese versteht sich primär als „psychodynamisch“, was bedeutet, dass im unbewussten Seelenleben eine Bewegung („Dynamik“) von Kräften vorhanden ist, die gegeneinander gerichtet sind und daher Konflikte hervorrufen, bei Sigmund Freud zwischen Es und Über-Ich, bei Alfred Adler zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Konflikte aber rufen Schuldgefühle hervor, weswegen eine Ähnlichkeit im phänomenologischen Sinn zwischen der mittelalterlichen Sündenlehre und der psychoanalytischen Konflikttheorie existiert: Weil die christlichen Kulturen primär Schuldkulturen sind, wirkt die Sündenlehre als „Struktur von langer Dauer“ im Untergrund weiter und mutiert im Zeitalter der Säkularisierung und Individualisierung allmählich zum „Schuldgefühl“. Der Unterschied zwischen Sünde und Schuldgefühl besteht zwar im Fehlen des moralischen Zeigefingers, die Gemeinsamkeit ist indes, Normen tatsächlich oder vermeintlich zu übertreten und deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Das ist den Menschen nicht unbedingt bewusst, denn Schuldgefühle sind unangenehm, weil belastend, und werden daher oftmals verdrängt – doch Mentalitätsgeschichte befasst sich auch mit diesem „kollektiven Unbewussten“, genauer, um es mit Philippe Ariés zu formulieren, mit dem „kollektive[n] Nichtbewußte[n]. Kollektiv, weil es zu einem bestimmten Zeitpunkt Gemeingut der gesamten Gesellschaft ist. Nichtbewußt, weil es selbstverständlich scheint, so wie die Gemeinplätze, die Codes der Moral, die Konformismen oder die Verbote, die auferlegten oder verpönten Ausdrucksformen von Gefühlen oder Phantasmen“ (Ariés 1990, S. 162).
2.1.3 Sünde, Schuldgefühl und Klimawandel
Den Übergang von der Sündhaftigkeit im christlichen Kontext zum Schuldgefühl in den individualistischen Kulturen der Gegenwart lässt sich auch gut zeigen an der Frage nach der Ursache von Katastrophen und des Klimawandels unter historischer Perspektive. Durch die Jahrhunderte zieht sich die Auffassung, eine Katastrophe sei eine Strafe Gottes. Diese Vorstellung ebbt nach Meinung der Historiker erst gegen Mitte oder Ende des 18. Jahrhunderts ab, doch gilt das nur für den Elitendiskurs. Volkskundliche Quellen machen demgegenüber deutlich, dass sich die traditionelle Auffassung bis weit ins 19. Jahrhundert gehalten hat und in traditionellen Kulturen immer noch vorhanden ist. Dennoch: In den westlichen Ländern sieht man Katastrophen heutzutage als natürliche Phänomene an. Das ist ein Produkt der Aufklärung und der Entwicklung der Naturwissenschaften. Es wird eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt vorgenommen: Katastrophen entstehen unabhängig vom Menschen, sie haben rein natürliche Kausalursachen.
Mit der Diskussion um den anthropogenen Klimawandel ist aber alles anders geworden. Das bedarf der Erläuterung: Zunächst gilt es zu unterscheiden zwischen Wirkkausalität und Zielkausalität (Aristoteles 1995, 194b). Wirkkausalität ist die klassische Ursache, sie fragt nach dem Woher, während Zielkausalität nach dem Wozu und dem Zweck fragt. Die wirkkausale Erklärung für den Klimawandel steht in Zusammenhang mit dem Anstieg des Kohlendioxidgehalts durch die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl oder Erdgas. Die daraus resultierende Erderwärmung wird verantwortlich gemacht für Klimaanomalien und eine Zunahme von Naturkatastrophen. Demgegenüber wird in der populären Diskussion, die für Ethnologen in der Regel interessanter ist, oftmals zielkausal argumentiert, indem die Natur anthropomorphisiert und zur Rächerin für das wird, was man ihr antut. So lautet etwa ein Sachbuchtitel: „Die Erde schlägt zurück. Wie der Klimawandel unser Leben verändert“ (Hutter und Goris 2009). Und Schlagzeilen in Zeitungen lauten z.B.: „Die Rache der Natur“ (Schlötzer 2018) oder „Die Natur schlägt zurück“ (Taz 2017). Katastrophen sind in dieser Lesart zwar keine Strafe Gottes mehr für sündiges Verhalten, aber eine „Strafe“ der Natur für „sündiges“ Umweltverhalten, d.h. für einen allzu großen ökologischen Fußabdruck. Das ist gewissermaßen die „Sünde“ des modernen, in den Industriegesellschaften lebenden Menschen. Gleichzeitig sollen indes auffällige Klimaanomalien und Katastrophen den Menschen dazu auffordern, fortan ein verantwortungsbewussteres Leben zu führen. Das ist das zielkausale Anliegen. Wirkkausal und zielkausal betrachtet handelt es sich also um die gleiche Argumentationsstruktur wie in früherer Zeit: Die Menschen sündigen, sie werden dafür bestraft, indem sie – in früherer Zeit – unter Naturkatastrophen als einer Strafe Gottes bzw. – in der heutigen Diskussion – unter verschlechterten Klimabedingungen oder Desastern leiden, die jedoch gleichzeitig dafür sorgen sollen, dass sie künftig ein verträglicheres Leben im Einklang mit den göttlichen Geboten bzw. der Natur führen (vgl. Rieken 2015b).
2.2 Anthropologie
Die Frage, was den Menschen auszeichnet, wurde bereits in Kapitel 2.1.1 gestreift, als die Auffassung formuliert wurde, dass man von ihm in moralischer Hinsicht weniger erwarten könne als von einem Gott. In der Philosophie der europäischen Neuzeit ist die Bandbreite hinsichtlich der Frage, was den Menschen ausmache, groß, und ähnlich verhält es sich auch mit den unterschiedlichen Psychotherapieschulen, die in ähnlicher Weise eher dem Optimismus oder eher dem Pessimismus zuneigen.
Die Aufklärungsphilosophie – und in weiterer Folge auch der Marxismus – geht von der „Machbarkeit“ der Verhältnisse und einem optimistischen Fortschrittsglauben aus. Es ist nicht der Mensch, der „von Natur aus“ schlecht ist, es sind die Verhältnisse, die ihn dazu machen. Also gilt es diese zu humanisieren. Das ist keinesfalls unberechtigt, denn die Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit oder das Diskriminierungsverbot haben in den Grundrechtskatalogen aller westlichen Gesellschaften ihren Niederschlag gefunden, sei es die Europäische Menschenrechtskonvention, das deutsche Grundgesetz oder das österreichische Staatsgrundgesetz. Doch stößt der Glaube an die Vernunft dann an seine Grenzen, wenn Emotionen und Affekte das Geschehen zu dominieren beginnen. Bekanntlich versucht ja Nathan der Weise auf vernünftige Weise darzulegen, dass alle drei monotheistischen Religionen – Christentum, Judentum, Islam – gleich wertvoll sind, indem er mithilfe der Ringparabel darlegt, wieso sie allzumal in Gott gründen: Ein Vater hat drei Söhne, aber nur einen Ring, weswegen er zwei identische Duplikate anfertigt und es belanglos ist, wer das Original erhält. Vielmehr sei es bedeutsamer, was der Träger des Ringes daraus mache (Lessing 1979, S. 276–280). Das klingt logisch und ist rational nachvollziehbar, doch religiös motivierte Auseinandersetzungen in Vergangenheit und Gegenwart zeigen deutlich, dass in diesem Bereich die Rolle der Vernunft zugunsten der Affekte und Emotionen oftmals zurückgedrängt ist.
Oder man denke an das „Leben der schwedischen Gräfin von G***“ aus der Feder Christian Fürchtegott Gellerts, einer der bedeutendsten Romane im Umkreis der Aufklärung. Der Ehemann der Titelfigur geht nach Russland, bleibt dort verschollen, und es keimt das Gerücht auf, er wäre in russischer Kriegsgefangenschaft umgekommen. Aus Vernunftgründen heiratet die Gräfin daraufhin den besten Freund der Familie, doch als der ehemalige Gatte wider Erwarten aus Russland zurückkehrt, überlässt jener ihm selbstverständlich und ganz tugendhaft den Vortritt, und ist nun wieder das, was er vorher war: der beste Freund des Paares (Gellert 1975). Das ist schlicht und einfach naiv gedacht, denn die Bedeutung des Trieb- und Gefühlslebens wird schlichtweg unberücksichtigt gelassen.
Es braucht daher nicht zu überraschen, dass im weiteren Verlauf der europäischen Kulturgeschichte romantische Strömungen als Gegenbewegung aufgetreten sind, die den Anspruch der Aufklärung relativieren, indem sie einerseits auf die positiven Aspekte des Emotionalen hinweisen, wie es etwa in Novalis‘ programmatischem Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ zum Ausdruck kommt,[2] aber auch auf die negativen in Gestalt der Schauerromantik, die das Destruktive im Menschen, das „Böse“ und Triebhafte, zum Gegenstand hat, denken wir etwa an die Romane „Frankenstein“ und „Dracula“ oder an „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A. Hoffmann.
In der Philosophie im engeren Sinn schlägt sich das etwa bei Schopenhauer nieder, der die Auffassung vertritt, alles Leben sei Leiden,[3] aber auch in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts, wenn zum Beispiel Arnold Gehlen den Menschen als ein „Mängelwesen“ umschreibt (Gehlen 1997).
Eine ähnliche Bandbreite finden wir auch in der Psychotherapie, und das nicht ohne Grund, da sie ihre Wurzeln unter anderem in Aufklärung und Romantik haben. „Lösungsorientierte“ Schulen wie die Systemische Familientherapie oder die Verhaltenstherapie sind aufs Hier und Jetzt zentriert, sind optimistisch und glauben an die „Machbarkeit“ bzw. an eine weitgehende „Veränderbarkeit“ des Menschen. Ein anschauliches Beispiel bieten etwa Veröffentlichungen aus dem Carl Auer Verlag, dem „Hausverlag“ für Systemische Therapie. Auf dessen Webseite[4] finden sich Titel wie „Die Kraft des Miteinander“, „Gerechtigkeit in nahen Beziehungen“ oder „Paartherapie – Bewegende Interventionen. Tools für Therapeuten und Berater“. In der Beschreibung zu diesem Buch heißt es: „Zu den wesentlichen Themen der Paartherapie werden kreative Übungen, Interventionen oder Fragenkataloge vorgestellt und kenntnisreich und praxisnah beschrieben“.[5]
Einen ähnlichen Akzent auf Veränderbarkeit legen die humanistischen Schulen. Allerdings liegen ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln nicht nur in der Aufklärung, sondern auch davor, nämlich in der Philosophie der Frühen Neuzeit mit der Betonung auf der Entfaltung der Persönlichkeit und einer optimistischen Einschätzung derselben in der Tradition des Renaissance-Humanismus. Wesentlich für menschliches Streben seien Selbstverwirklichung, Wachstum, Ressourcen-Entwicklung, Autonomie und Authentizität. Letztere sei besonders wichtig, da es nach Carl Rogers „dem Klienten in einer Beziehung nur möglich ist zu wachsen, wenn ihm der Therapeut so gegenübertritt, wie er wirklich ist. Das heißt, er ist in dieser Beziehung, in diesem Moment selbst auch Mensch, kann also auch über seine Gefühle und Einstellungen offen reden“.[6]
In der Praxis der psychodynamischen, sprich tiefenpsychologischen Verfahren legt man demgegenüber eher Wert auf die Abstinenz und Anonymität des Analytikers, wiewohl es auch dort Stimmen gibt, die sich für Authentizität und gelegentliche Gegenübertragungsmitteilungen stark machen, das heißt solche, bei denen der Therapeut Auskunft darüber gibt, wie der Patient auf ihn wirkt. Das ist allerdings umstritten, das psychoanalytische „Zentralmassiv“ (Gysling 2009) ist diesbezüglich ganz im Sinne Freuds (Freud 1912e/1996) eher orthodox gestimmt, und das hängt auch mit dem Menschenbild zusammen – genauer mit dem ambivalenten Menschenbild der psychodynamischen Verfahren, also der Schulen Freuds, Adlers und Jungs. Es fußt einerseits in der Aufklärung, wenn es etwa bei Freud heißt: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit wie die Trockenlegung der Zuydersee“ (Freud 1933a/1996, S. 86). Dabei spielt die aufklärerische Lichtmetapher eine große Rolle, denn auf die dunklen Seiten der Psyche soll Licht geworfen, um sie damit im kulturellen Sinn fruchtbar zu machen, ähnlich wie der dunkle Meeresboden der Zuiderzee (heute: Ijsselmeer) in fruchtbares Ackerland verwandelt werden soll. Und dazu bedarf es der Förderung der Autonomie, was bedeutet, dass der Analytiker sich zurücknimmt, den Patienten im Sinne des Nicht-Direktiven nicht beeinflusst und darauf wartet, dass dieser initiativ wird. Daher muss der Therapeut weitgehend anonym bleiben, zumindest in traditioneller Sicht. Das ist eine Vorstellung, die gleichzeitig in der Romantik wurzelt: Man muss die Dinge sich selbst überlassen, dann wird es schon gut werden.
Andererseits hat die gegenüber den humanistischen und verhaltensorientierten Therapieschulen reduzierte Aktivität des Analytikers auch zu tun mit der anderen Seite des psychodynamischen Menschenbildes, das stark im Pessimismus wurzelt: Man darf nicht die Bedürfnisse des Patienten befriedigen, denn das führt in eine Schleife des Immer-mehr-Wollens, weil er – ähnlich wie in der Schauerromantik – stark von seinen Trieben und Affekten dominiert wird. Dahinter steht die Auffassung, dass das Unbewusste auf akzentuierte Weise in das bewusste Erleben eingreift. Zugrunde liegen psychische Vorgänge, die als ein Spiel antagonistischer Kräfte betrachtet werden (Psychodynamik), vor allem Konflikte zwischen Trieb und Moral, Autonomie und Bindung, Liebe und Hass, Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben. Gelangen die Antagonismen nicht zum Ausgleich, können psychische Krankheiten auftreten. Für die tiefenpsychologischen Schulen Freuds, Adlers und Jungs sind demnach Konflikte das zentrale Element, wodurch ihr Menschenbild ein skeptisches, teilweise pessimistisches Antlitz erhält. Wie bereits angedeutet, stehen sie mentalitätsgeschichtlich betrachtet damit auch in der Tradition einer nicht-bewussten kollektiven Struktur von langer Dauer, die von der mittelalterlichen Sündenlehre bis zur zeitgenössischen Konflikttheorie mit ihrem Fokus auf Schuldgefühlen reicht (Rieken 2020) – auch wenn das für areligiöse Analytiker in der Regel eine unangenehme Perspektive ist.
2.3 Erkenntnistheorie
Wenn es unter anderem zur Aufgabe der Philosophie und Psychotherapie zählt, das Wissen über sich und Andere sowie über die Welt zu vermehren und gleichzeitig differenzierter zu betrachten, dann hat das auch mit Erkenntniszuwachs zu tun. Das wiederum wirft die Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnis auf. Diese kann naiv oder vielschichtig strukturiert sein, es existieren demnach Reflexionsebenen unterschiedlichen Niveaus. „Als alltäglich handelnde und erkennende Lebewesen“ setzen wir die uns umgebende Welt als „selbstverständlich und unhinterfragt“ voraus, und in diesem Sinne sind wir „empirische Realisten“ (Engels 1990, S. 30). Das, was wir erkennen oder zu erkennen glauben, halten wir in der Regel für objektiv richtig, doch die Frage dabei ist, auf welchem erkenntnistheoretischen Strukturniveau sich das abspielt.
Das „volkstümliche“ Denken lässt sich gern „von dem ersten Eindruck bestechen oder von Einzelerfahrungen undÄußerlichkeiten“ (Bach 1960, S. 476). Das kann durchaus auch für Akademiker gelten, etwa Ärzte oder Psychotherapeuten, die nicht selten einzelne Fälle heranziehen, um damit eine Grundannahme oder gar Theorie zu „belegen“ – ohne jedoch zu problematisieren, ob und inwieweit im Besonderen etwas Allgemeines durchschimmert, um Goethes Symbolbegriff zu paraphrasieren (Goethe 1994, S. 471), ganz zu schweigen von der Zuhilfenahme quantitativer Daten, durch die man Auskunft auf die Frage erhält, ob und inwieweit der Einzelfall repräsentativ sein kann.
Dem „volkstümlichen“ Denken fehlt darüber hinaus „der Sinn für feinere Unterschiede. Für Rabe und Krähe oder Fichte und Tanne haben viele Mundarten nur eine einzige Bezeichnung. Einer ist schön oder häßlich, gut oder böse, arm oder reich. Mitteldinge und Schattierungen gibt es hier nicht. In der Art dieser Schwarz-Weiß-Malerei geht es im Märchen und dem für die breiten Massen geschriebenen modernen Detektivroman zu“ (Bach 1960, S. 476).
Ferner neigt diese Form des Denkens bei Charakterschilderungen zu Typisierungen, statt „aus vielen Einzelzügen ein einheitlich wirkendes Seelengemälde zu entwerfen“, weswegen „der Märchenheld […] ein König [ist], ein Königssohn, die Heldin eine Königstochter, nicht die und die bestimmten Persönlichkeiten, und auch der Müller, der Fischer, der Räuber, der Soldat, der Holzhacker und der Förster, die uns entgegentreten, sind Typen“ (ebd., S. 476f.).
Ähnliches weiß die außereuropäische Ethnologie zu berichten, wenn etwa in bestimmten traditionalistischen Gesellschaften eine scharfe Trennung zwischen Einheimischen und Fremden vorgenommen wird: „Alles ‚Fremde‘, Menschen wie Sachgüter, Ideen und Wörter, soll nach Möglichkeit ausgeschieden (wenn nicht ‚ausgemerzt‘) werden. Entsprechend sind – vor allem exogene – Neuerungen verpönt“ (Müller 1987, 271), das „Ideal bleibt eben die Unverbrüchlichkeit der Tradition“ (ebd., S. 274).
Eine in entsprechender Weise naive Form des Denkens ist mitunter auch für das kindliche Weltbild typisch, wenn es etwa in einem Manual zur Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie heißt, „häufige kognitive Verzerrungen bei Kindern und Jugendlichen“ seien unter anderem „polarisiertes Denken (Schwarz-Weiß-Denken)“ sowie „Übergeneralisierung (ist immer so, alle sind so)“ (Nestler und Weninger 2020, S. 102), wovon bereits kurz zuvor die Rede war in Bezug auf die Verallgemeinerung von Einzelfällen in der ärztlichen oder psychotherapeutischen Praxis.
Formen weniger entwickelten Denkens finden wir demnach im „volkstümlichen“ Bereich Europas genauso wie in traditionellen außereuropäischen Kulturen und im Weltbild des Kindes, darüber hinaus aber auch im Bereich der Psychopathologie, weil dort das Erkenntnisvermögen durch starke Emotionen und Affekte beeinträchtigt wird. Typisch seien, so Alfred Adler, Formen „der gegensätzlichen Apperzeptionsweise“ beim Neurotiker (Adler 1912a/2008, S. 88), also dualistische Wahrnehmungsmuster, welche eine klare Trennung in gut und böse, oben und unten, schwarz und weiß vornehmen. Derartige Einteilungen bieten im Wirrwarr der Eindrücke eine gewisse Sicherheit und Orientierung; sie dienen auch dazu, den eigenen Selbstwert zu erhöhen. Deutlich zeigt sich das am Beispiel des Narzissten, der peinlich darauf bedacht ist, etwas Besonderes oder gar Vollkommenes zu sein, und dem Perfektionismus verpflichtet ist, um unkritisch bewundert zu werden. Erhält er die erwünschte Zuwendung, gehören die Anderen zu den „Guten“, doch mutieren sie rasch zu den „Bösen“, wenn die Bewunderung ausbleibt oder nicht den eigenen Erwartungen entspricht, weil unverhältnismäßige Ärger- und Neidgefühle auftreten. Auch hier findet sich demnach eine Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken, mitunter auch in Bezug auf die eigene Person, weil auffällige Stimmungswechsel zwischen Euphorie und Depression kennzeichnend sind.
Doch es bedarf gar nicht eines solchen Extrem-Beispiels, auch das alltägliche Erkenntnisvermögen „normaler“ Bürger ist von psychischen Faktoren mitbeeinflusst. Das wusste bereits der österreichische Dichter Heimito von Doderer, der seinen Roman „Ein Mord, den jeder begeht“ mit den folgenden Worten beginnen lässt: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will“ (Doderer 1986, S. 5). So erzählte mir kürzlich ein Bekannter, dass es in seiner Ehe zu einer krisenhaften Zuspitzung gekommen sei, als seine Frau nächtens von einem Treffen mit Freundinnen volltrunken zurückgekommen sei. Er habe sich die ganze Zeit um die kränkelnden Kinder kümmern müssen, und das auch noch am Folgetag, weil seine Frau dazu noch nicht in der Lage gewesen sei. Das habe eine veritable Ehekrise ausgelöst, der Mann begann an der Tragfähigkeit der Beziehung zu zweifeln, obwohl die Frau ansonsten ein normales Leben führt und die Ehe im Großen und Ganzen in Ordnung ist. Einerseits kann man seinen Zorn verstehen, doch ob es andererseits notwendig ist, sogleich die Beziehung zur Gänze infrage zu stellen, steht auf einem anderen Blatt, lässt sich jedoch damit erklären, dass er in seiner Kindheit oftmals von den Eltern im Stich gelassen wurde. Das hat zwar keine Diagnose-würdigen Spuren hinterlassen, aber doch eine gewisse Akzentuierung der Persönlichkeit, die sich auch in seinem Weltbild und somit in seinem Erkenntnisvermögen niedergeschlagen hat. Denn er reagiert besonders sensibel in Situationen, in denen er das Gefühl hat, vernachlässigt bzw. nicht recht gewürdigt zu werden, sodass er ein besonderes Augenmerk auf solche Situationen lenkt und ihnen eine größere Wertigkeit zubilligt, als es normalerweise der Fall wäre.
Summa summarum lässt sich festhalten: Differenziertere Formen des Denkens und der Erkenntnis sind demnach sowohl ein Anliegen der Psychotherapie als auch der Philosophie. Man kann die Dinge dieser Welt nicht in einfache Entweder-oder-Kategorien einteilen, es bedarf eines Blicks auf das weite Land zwischen „Schwarz“ und „Weiß“ – und das sind nicht unbedingt Grautöne, sondern bunte Farben.
[1] „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (Kant 2005, S. 18 [BA 1]).
[2]
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt vor Einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort“ (Novalis 1974, S. 166).
[3] „Wir wollen dieserwegen im menschlichen Daseyn das innere und wesentliche Schicksal des Willens betrachten. Jeder wird leicht im Leben des Thieres das Nämliche, nur schwächer, in verschiedenen Graden ausgedrückt wiederfinden und zur Genüge auch an der leidenden Thierheit sich überzeugen können, wie wesentlich alles Leben Leiden ist“ (Schopenhauer 1890, S. 403 [§ 56]).
[4] https://www.carl-auer.de/programm/familientherapie-und-familienforschung (18.02.2023).
[5] https://www.carl-auer.de/paartherapie-bewegende-interventionen (18.02.2023).
[6] https://www.carlrogers.de/grundhaltungen-personenzentrierte-gespraechstherapie.html (18.02.2023).
Literatur
Adler, Alfred 1912a/2008: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 2. Hg. von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Ariès, Philippe 1990: Die Geschichte der Mentalitäten. In: Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revek (Hg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 137–165.
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