Egoistische Frauen und falsche Fürsorge

    Von einer Frau, vor allem einer jungen Frau, wird erwartet, sich klein zu machen. Sie darf keine eigene Meinung haben. Sie darf nicht für sich selbst einstehen. Sie darf keine Komplimente annehmen, ohne zugleich welche zurückzugeben. Sie darf nicht sagen «Ich kann das!» und am allerwenigsten darf sie sagen, «Ich war die Beste!». Eine junge Frau darf nicht wissen, wer sie ist und was sie kann, und sie darf vor allem nicht selbstbewusst sein, sonst ist sie arrogant oder von sich eingenommen. Unsere Gesellschaft fühlt sich wohler, wenn man sich selbst hasst, als wenn man sich selbst liebt. Eine junge Frau, die sich selbst liebt, ist einschüchternd. Sie verlangt danach, Platz am Tisch zu bekommen. Ihr ist egal, was andere Menschen von ihr denken, da ihr nur wichtig ist, was sie über sich selbst denkt. Sie gibt sich nicht zufrieden mit dem Minimum, denn sie will, was ihr zusteht. Sie schaut zuerst dafür, dass es ihr gut geht, bevor sie sich um die Bedürfnisse anderer kümmert. Eine junge, selbstbewusste Frau wirkt bedrohlich für alle Menschen, die nicht selbstbewusst sind, denn sie fragen sich: Was sieht sie in sich selbst und weshalb sehe ich dasselbe nicht in mir?

     

    Franziska Schutzbach erwähnt in ihrem Buch Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit, dass von Frauen erwartet wird, dass sie sich stets um alle anderen kümmern müssen. Fürsorge ist ein Attribut, welches weiblich sei und somit in der Natur der Frau liegen sollte. Die Frauen sollten zuerst dafür sorgen, dass es allen anderen gut geht, bevor sie sich um sich selbst kümmern dürfen. Da alle anderen immer irgendwelche Bedürfnisse haben, die zu stillen sind, haben die Frauen schlussendlich gar keine Zeit oder Energie mehr, zu sich selbst zu schauen. Das führt dazu, dass die Frauen sich selbst vernachlässigen. Sie lernten nie, sagen zu dürfen: «Nein, jetzt geht es zuerst um mich.» Immer mussten sie zurückstecken, klein bleiben, für andere da sein. Sie durften nicht für sich einstehen, nein sagen, etwas aus sich selbst machen. Die Frauen litten still und heimlich über ihren Selbstverlust und das konstante Für-Andere-Da-Sein, das stets als selbstverständlich betrachtet wurde und nie Anerkennung bekam. Gerne würden sie damit aufhören und ein Leben leben, bei dem es in erster Linie um sie selbst geht und das, was sie wollen, statt um das, was andere von ihnen wollen. Doch sie trauten sich nicht, aus diesem Gefängnis der Fürsorge auszubrechen. Die Töchter dieser Frauen jedoch trauten sich dies. Sie sahen lange genug zu, wie ihre selbstlosen Mütter litten und entschieden sich, ihr Leben anders zu führen. Sie würden zuerst schauen, dass ihr Glas halb voll ist, bevor sie sich um das Glas anderer Leute kümmerten. 


    Doch statt, dass sich die Gesellschaft darüber freute, dass die Frauen endlich lernten, zuerst zu sich selbst zu schauen und erkannten, dass ihre Bedürfnisse auch wichtig sind, wurden sie dafür geächtet. Egoistisch seien sie. Nein, sogar narzisstisch, meinten andere. (Hierbei wird völlig ausser Acht gelassen, dass Narzissmus eine Persönlichkeitsstörung ist, die sich durch eine Vielzahl an Symptomen äussert, von Apathie über Manipulation und Grandiosität.) Frauen dürfen nicht nach ihren Bedürfnissen handeln, sie dürfen sich nicht zu wichtig nehmen. Frauen seien da, um Fürsorge zu praktizieren. Alles andere sei falsch. Die Männer hingegen dürfen für sich selbst schauen, die müssen sich nicht um andere kümmern. Fürsorge ist schliesslich kein männliches Attribut. Ein Mann ist es wert, dass er etwas aus seinem Leben machen darf, ungeachtet der Bedürfnisse anderer. Eine Frau nicht. «Wenn ich mich nicht um das Wohlbefinden anderer kümmere, wird mir das als kaltherzig und unweiblich ausgelegt», meinten erfolgreiche Frauen.[1] Denn nur wenige Frauen erkannten, dass Fürsorge nicht ihre Aufgabe sein muss, und trauen sich, sich gegen dieses angeblich weibliche Attribut zu wehren. 

     

    Denn die meisten Frauen lernten schon als kleine Mädchen, dass sie die emotionalen Zustände und Launen anderer erspüren und deren Bedürfnisse stillen sollen. Am Schritt des Vaters, der die Treppe hochstieg, erkannten sie, ob er einen guten oder schlechten Tag hatte und was sie tun sollten, um seine Laune zu verbessern. Für diese Beziehungsarbeit kriegen sie Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ein Mädchen, das dafür sorgt, dass es anderen gut geht, ist ein braves Mädchen. Diese Aufopferung für andere gibt den Frauen eine Identität und Selbstwert. «Ich bin fürsorglich, nett und grosszügig. Ich bin immer für andere da», erzählen sie, wenn man sie fragt, welche Eigenschaften sie an sich selbst schätzen. Es ist nichts verkehrt daran, diese Eigenschaften zu haben. Nächstenliebe ist nicht ohne Grund eines der zehn Gebote im Christentum. Ohne Fürsorge und Nächstenliebe wäre unsere Gesellschaft nicht da, wo sie heute ist. Diese Attribute sind ein wichtiges Fundament des Menschseins. Darin besteht keine Frage.

     

    Doch weshalb legen Frauen so viel Wert darauf, fürsorglich zu sein? Sind die Frauen fürsorglich, weil sie tatsächlich gerne Menschen helfen, ohne etwas dafür zurückzubekommen oder weil sie dadurch die Anerkennung bekommen, die sie sich nicht selbst geben können? Mögen sie es, sich um andere zu kümmern oder wurde sie darauf trainiert, dies zu mögen? Das sind notwendige Fragen, die die Frauen sich stellen sollten. Denn viele Frauen haben nie gelernt, dass sie auch jemand sind, der Anerkennung verdient, ohne dass sie sich um das Wohlergehen anderer kümmern müssen. Sie wissen nicht, dass es um sie selbst gehen darf und muss. Sie fühlen sich unwohl, der Mittelpunkt in ihrem Leben zu sein, wenn sie doch seit Jahren lernten, dass es nicht so sei. Wenn Frauen also sagen, «Alles, was ich will, ist, anderen Menschen zu helfen!», dann gilt es zu hinterfragen, weshalb das so ist. Wollen sie anderen Menschen helfen, weil es sich für sie nicht lohnt, sich selbst zu helfen?


    Jede Frau soll zuerst sich selbst lieben lernen, denn nur so erkennt sie, was sie verdient und was sie wert ist. Sie soll zuerst zu sich selbst schauen dürfen und etwas aus ihrem Leben machen können. Denn es ist eine Schande, dass all diese Frauen ihr Leben nicht nach ihren Wünschen leben. Wie würde die Welt aussehen, wenn Frauen sich selbst lieben würden; wie grossartig könnten sie sein, wenn sie sich nicht den Bedürfnissen anderer untergliedern würden; was könnten sie erreichen, wenn man sie lassen würde. Klar und deutlich müsste überall stehen: Eine Frau, die erkennt, dass sie es wert ist, ihr eigenes Leben zu führen, ist nicht egoistisch. Stattdessen ist sie inspirierend, hat ein gutes Selbstwertgefühl und ist hoffentlich die Zukunft.

     

    [1] Schutzbach, Franziska: Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. S.215.