Die vierte Feminismuswelle, in der sich die Gesellschaft zurzeit befindet, hat ein grosses Anliegen, welches die Meinungen der Menschen spaltet: Das Abschaffen der Geschlechterkategorien. Die einen, die sich nie zu einer der binären Kategorien von «Mann» und «Frau» zugehörig fühlten, jubeln und blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Endlich werden sie gesehen und von der Gesellschaft so akzeptiert, wie sie sind, statt dass sie sich mit Müh’ und Not in stereotypische Schubladen hineinzwängen müssen. Die anderen, die sich schon immer in denselben Kategorien wohl und bestätigt fühlten, verstehen die Welt nicht mehr: «Wir waren doch schon immer Männer und Frauen! Das Geschlecht, das wir seit der Geburt haben, ist eine unveränderbare Tatsache! Männer und Frauen sind einfach anders – auf so vielen Ebenen! Was meinen die denn, wenn sie sagen, sie sind non-binär und fühlen sich zu keinem Geschlecht zugehörig? Die wollen doch nur rebellieren!»
Erstaunt wären sie, wenn sie wüssten, dass nur eine ihrer Aussagen wahr ist: Nein, es gab nicht schon immer Männer und Frauen. Die dualistische Geschlechterunterteilung ist historisch relativ jung: Erst mit der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts wurde ein Zwei-Geschlechter-Modell verfolgt, welches ein Frausein in den Unterleib verordnet oder die Menstruation als ein Kennzeichen von Frauen anerkannt. Zuvor galt das Ein-Geschlechter-Modell, welches den Mann als die Norm betrachtete und die Frau als eine Art des Mannes: Es wurde geglaubt, dass die Geschlechtsteile gleichförmig beschaffen sind - die männlichen Geschlechtsteile sind nach aussen gestülpt und die der Frauen nach innen. Erst mit dem 18. Jahrhundert bestand ein politisches Interesse, biologisch distinkte Geschlechter zu schaffen. Auch dass das Geschlecht, mit dem wir auf die Welt kommen, eine unveränderbare Tatsache ist, stimmt nicht. Dank der fortgeschrittenen Medizin haben viele Menschen die Möglichkeit, ihr biologisches Geschlecht zu ändern. Und dass Männer und Frauen anders sind, muss nicht unbedingt auf allen Ebenen der Wahrheit entsprechen: Viele Eigenschaften, die als männlich oder weiblich betrachtet werden, sind nur anerzogen und nicht von Natur so bestimmt. Frauen und Männer sind anders, weil sie anders behandelt wurden und somit andere Erfahrungen machen. Das gilt auch für die körperliche Verfassung: Wären Frauen dazumal als die Jägerinnen erklärt worden, wäre ihr Körper genauso trainiert und dadurch stärker geworden, wie es bei den Männern dank der Evolution noch heute der Fall ist. (Frauen wurden nicht zu Jägerinnen, weil sie mit dem Gebären und Stillen der Kinder beschäftigt waren und nicht, weil sie schwächer waren.) Die Geschlechter sind somit historischem und kulturellem Werden ausgesetzt – sie sind stets im Wandel. Wahr ist jedoch folgende Aussage: Die non-binären Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, wollen rebellieren. Ja, das wollen sie. Sie rebellieren gegen die veralteten Stereotypen der Geschlechter; gegen die heteronormative Gesellschaft; gegen die starre Rollenverteilung und vor allem gegen die Ausgrenzung von Menschen, die nicht in dieses System passen.
Und sie rebellieren mit Recht: Wieso wurde aufgrund der biologischen Unterscheidung von «Mann» und «Frau» eine binäre Geschlechtertrennung erschaffen, wenn es doch schon von Natur auch intergeschlechtliche Menschen gibt? Es wird geschätzt, dass bis zu 1.7% der Menschen, sprich 132 Millionen Menschen, intergeschlechtlich auf die Welt kamen und nie in das binäre System gepasst haben. Zusätzlich sind die Bilder von «männlich» und «weiblich» praktisch willkürlich: Wieso genau sollte die Farbe Pink für weiblich und Blau für männlich stehen? Wieso dürfen Männer Haare an ihrem Körper haben und Frauen müssen rasiert sein? Wieso sollen Frauen fürsorglich sein und Männer dominant? Wieso sollen Männer in die Politik und die Wirtschaft gehören und Frauen in die Kindererziehungsarbeit und die Pflegebereiche? So viele Fragen können gestellt werden, doch die wichtigste ist folgende: Wer hat all diese Normen aufgestellt und was war ihre Begründung? Logisch scheint sie nicht zu sein, wohl eher zufällig. Kein Wunder erkennen die Menschen diese Absurdität und verlangen nach einer Veränderung dieser Rollenbilder oder sogar nach einer Abschaffung der Geschlechterunterscheidung allgemein. Denn praktisch niemand passt in diese «männlichen» oder «weiblichen» Zuschreibungen. Was ist, wenn eine muskulöse Frau kurze Haare hat, unrasiert ist, Pink hasst, keine Kinder will und Politikerin ist? Ist sie dann noch eine «weibliche» Frau? Was ist, wenn ein Mann untrainiert und klein ist, sich zu schminken liebt, Röcke trägt und in der Pflege arbeitet? Ist er dann noch ein «männlicher» Mann? Wer passt denn überhaupt in diese Kategorien? Klar, könnte man die Definition von Frausein und Mannsein auch erweitern – doch, wenn die Definition so willkürlich ist und so viele Menschen ausgeschlossen werden, wieso sollte man nicht einfach die Geschlechterunterscheidungen abschaffen?
Der Feminismus steht grundsätzlich für die gleichberechtigte Behandlung der Geschlechter in allen Bereichen. Die vierte Feminismuswelle ist der Überzeugung, dass die Geschlechter durch die Geschlechterunterscheidung nicht gleichberechtigt behandelt werden können und verlangt danach, diese abzuschaffen. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung ist nicht die Lösung und kreiert zusätzlich noch mehr Probleme, als sie löst.
Menschen brauchen Orientierung. Wir kategorisieren Menschen, um Ordnung und Sicherheit zu schaffen. Wenn wir keine Kategorisierungen machen würden, wären wir hoffnungslos verloren. Wir könnten uns in der Welt nicht zurechtfinden. Eine für die Menschen wichtigste Kategorisierung ist diejenige der Geschlechter. Sie müssen nicht nur über sich selbst wissen, in welche Gruppe sie gehören, sondern auch andere Menschen einordnen können: Ich bin eine Frau, sie ist eine Frau, wir sind Frauen. Gruppen, die auf Gemeinsamkeiten aufbauen, sind fundamental. Menschen werden gesehen, fühlen sich verstanden und in ihrer Identität gestärkt durch das Gemeinsam-Sein, das Gleich-Sein. In ihrer Erfahrung sind sie nie allein, denn es gibt Menschen, die sind wie sie und die dasselbe tun, wie sie. Das Gefühl, das diese Erkenntnis gibt, ist stark und aufgrund dessen so notwendig. Es verstärkt die Gemeinschaft und das Miteinander Sein anstelle vom Gegeneinander Sein. Kategorisierungen sorgen für diese Gemeinsamkeit. Es wäre verheerend, den Menschen diese Erfahrung zu nehmen, denn das Geschlecht verbindet und diese Verbindung würde wegfallen.
Zusätzlich unterscheiden sich die beiden Geschlechter noch immer grundlegend voneinander, vor allem anatomisch. Eine biologische Frau unterscheidet sich auf mehreren Ebenen vom biologischen Mann: Von der Grösse, der Stärke bis zu den Hormonen. Die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung würde diese Andersartigkeiten verschleiern, statt spezifisch darauf zu achten. Leider wird sogar heute noch zu selten auf diese Unterschiede geachtet, obwohl sie wichtig oder manchmal sogar lebensnotwendig sind. Das zeigt sich daran, dass viele Herzinfarkte bei Frauen nicht erkannt werden, da sie sich bei den Symptomen von männlichen Herzinfarkten unterscheiden. Sogar die Dosis der Medikamente wird nicht auf die Frauen abgestimmt; die Dosis ist berechnet für den Körper eines durchschnittlichen Mannes. Diese Diskriminierung der Frauen findet nicht nur im medizinischen Bereich statt. Auch die Airbags in den Fahrzeugen sind für den Körper eines durchschnittlichen Mannes berechnet. Diese körperlichen Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen müssen in gewissen Bereichen mit einbezogen und spezifisch darauf geachtet werden, damit keine Benachteiligung stattfindet. Dies passiert beispielsweise im kompetitiven Sport, wo Männer und Frauen getrennt werden, da ihre körperlichen Resultate nicht miteinander zu vergleichen sind.
Wenn die Geschlechterunterscheidung abgeschafft wird, hilft das dem Feminismus wenig – im Gegenteil, die feministischen Probleme und die Diskriminierung der Frauen aufgrund vom Frausein werden umso weniger fassbar und seltener thematisiert. Frauen werden schlechter bezahlt, weil sie Frauen sind. Die Care-Arbeit ist unbezahlt, weil sie von Frauen gemacht wird. Frauen werden von Männern nicht nur sexualisiert, sondern erleben sexualisierte Gewalt und Missbrauch, weil sie Frauen sind. Frauen werden diskriminiert und sie erleben Misogynie – aufgrund ihres Geschlechts. Wenn die Geschlechterunterscheidung abgeschafft wird, lösen sich die Probleme nicht in Luft auf. Sie bestehen weiter, diesmal einfach ohne Namen. Es darf nicht passieren, dass Frauen sich fühlen, als gäbe es keine Probleme, die durch die Geschlechter verursacht werden. Das Geschlecht führt zu Problemen, doch es aufgrund dessen abzuschaffen, ist, als würde man einen Teppich über das Loch im Boden legen: Es bleibt ein Loch im Boden. Zusätzlich entstehen durch die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung wieder die Probleme, welche mit einer Geschlechterunterscheidung gelöst wurden. Geschlechtergetrennte Toiletten wurden beispielsweise gemacht, um einen Safe-Space für Frauen zu kreieren und sie vor sexuellen Angriffen zu schützen. Die Toiletten wieder Unisex zu machen, bedeutet nur, dass die Frauen wieder mehr exponiert sind, da die Männer in der Zwischenzeit nicht aufgehört haben, Frauen zu belästigen – im Gegenteil, die Zahl der Angriffe auf Frauen ist in den letzten Jahren gestiegen.[2]
Das Ziel einer feministischen Gesellschaft wäre, dass die Geschlechter keine Rolle mehr spielen und wir sie abschaffen können, weil sie so irrelevant sind. Die Vorstellung, dass wir alle im Grunde gleich sind, ist gut und richtig. Jedoch befinden wir uns zurzeit nicht in einer feministischen Gesellschaft. Männer und Frauen sind weiterhin keine gleichberechtigten Wesen. Frauen leiden auf vielen Ebenen noch immer darunter, dass sie Frauen sind. Jetzt so zu tun, als wären wir gleich und einander zu behandeln, als sind wir gleich, verstärkt die Ungleichheit, die zurzeit in der Gesellschaft besteht. Die Gleichheitsidee sorgt damit für die Perpetuierung von Strukturen der Ungleichheit. Die geschlechtlichen Probleme, welche Frauen beschäftigen, müssen zuerst mehr Gehör finden und von der Gesellschaft als Ganzes gelöst werden. Erst dann, wenn Frauen und Männer gleichberechtigt leben können und das Geschlecht keinen Einfluss auf irgendeinen Bereich mehr hat, kann die Geschlechterunterscheidung mit gutem Gewissen abgeschafft werden. Bis dahin bleibt es eine Utopie.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Intersexualit%C3%A4t, Stand: 14.4.23
[2] https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/71245.pdf, Stand: 14.4.23