Wo liegen die Gemeinsamkeiten von Philosophie und meiner textilen Arbeit, werde ich oft gefragt. Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich erscheinen, doch beim näheren Betrachten lassen sich viele spannende Schnittstellen beider Gebiete entdecken. Das Ziel dieses Artikels ist es, diese Schnittstellen aufzuzeigen, sowie den Grundgedanken meiner Arbeit näher zu erläutern.
Bereits als Kind habe ich überaus gerne mit Stoff, Fäden und Wolle gespielt. In der ehem. Tschechoslowakei, wo ich aufgewachsen bin, waren schöne Textilien und Garne eine Kostbarkeit, mit denen sorgfältig und sparsam umgegangen wurde. Mein Spiel entfaltete sich vor diesem Hintergrund, wobei aufmerksames Beobachten und Mithelfen (etwa beim Zuschneiden der Stoffmuster) zu meinen Lieblingstätigkeiten gehörten. Später, nach meinem Umzug in die Schweiz habe ich mich gänzlich auf meine Ausbildungen fokussiert und die Handarbeit so gut wie vergessen. Erst gegen das Ende meines Philosophiestudiums führte eine Reihe von Zufällen dazu, dass ich wieder zurück zum textilen Handwerk gefunden habe. Es war buchstäblich ein kleiner Wollknäuel, dessen zarte Form und leuchtende Farbe mich verzauberten. Der wollige Faden, der meine Hände beschäftigte, wollte kein Ende nehmen; unzählige weitere Garne folgten ihm und meine neu erwachte Neugier führe mich vom Stricken zum Weben, über Häkeln bis hin zum Sticken und dem Färben mit Pflanzen.
Es dauerte nicht lange und das ruhige, koordinierte Beschäftigen der Hände machte sich auch woanders bemerkbar: meine Konzentration und Aufnahmefähigkeit sind gestiegen, das Aufarbeiten der Inhalte wurde klarer und effizienter. Als ob sich die Ordnung des Maschengewebes, das in meinen Händen wuchs, über meinen Geist legte und meine Gedanken klären würde. Übrigens bin ich mit dieser Beobachtung nicht allein. In der 10. Regel seiner Regulae (Rules for the Direction of the Mind [um 1619]) empfiehlt uns René Descartes eine Beschäftigung mit „Techniken, […] in denen Ordnung die Hauptrolle spielt. Das sind z.B. die Techniken der Leinen- oder Teppichweber, oder von Frauen, die mit einer Nadel sticken oder Fäden auf unendlich vielfältige Weisen zu einem Gewebe verbinden können.“ Der Erfolg stellt sich laut Descartes jedoch nur unter einer Bedingung ein: „Vorausgesetzt, wir machen diese Entdeckung selbst und schauen sie nicht bei anderen Leuten ab“ (ebd.). Die Beschäftigung mit dem Faden soll dem Autor zufolge die analytischen Fähigkeiten schärfen, sowie den Verstand für die Aufarbeitung komplexer Inhalte vorbereiten. Leider lässt es sich anhand des Textes nicht eruieren, ob Descartes selber gestickt oder sich sonst mit Textilien und Faden beschäftigt hatte.
In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass die etymologische Wurzel von dt. 'Text' zurück auf das Lateinische textus, dt. Gewebe, geht. Das Wort Textil leitet sich ebenfalls vom lat. textilis, dt. gewoben ab. Seinen Ursprung hat der lateinische Begriff im Sanskrit als takman (das Kind) und taksh (machen, formen). Interessanterweise handelt es sich hier offensichtlich um menschliches Gewebe, beziehungsweise das „Herstellen“ von diesem. Die Spuren der Sprache und ihre Veränderungen über Zeit und Raum offenbaren uns das frühere Denken der Menschen. Die Erweiterung der Bedeutung eines Begriffs hat ihre Ursache in der Veränderung der Lebensweise. Nicht nur ist der Begriff 'Text' aus dem 'Textil(en)' abgeleitet, sondern dieser hat seinen Ursprung im 'Machen von Menschen' und somit dem menschlichen Gewebe. Aus Fleisch und Blut gemacht, kleidet der Mensch sich in ein und dasselbe Wort und seine (auf Textilien oder Pergament?) geschriebenen Laute tragen wieder denselben Namen. Der Mensch scheint nicht besonders einfallsreich zu sein, gar von Begriffsfaulheit könnte die Rede sein. Übrigens war Descartes nicht allein, der gerne Bezug auf Textilien nahm. In der Philosophie scheinen textile Metaphern sehr beliebt zu sein, wir finden sie in unzähligen Texten. In der Vita Activa vergleicht Hannah Arendt den Eintritt ins Leben mit einem Lebensfaden, der in das Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten geschlagen wird, und der andere Fäden, die mit ihm in Berührung kommen, auf einmalige Weise affiziert. „Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar“ (Vita Activa, S. 226).
Aber zurück zum Thema meines Artikels. Der Faden aus meinem ersten Wollknäuel führte mich nach dem Abschluss meines Philosophiestudiums schliesslich zur Idee, meine eigene Firma zu gründen. Meine Faszination für Bild, Fotografie und Kunst, sowie meine Begeisterung für Handwerk haben ihren Weg in textile Arbeit gefunden. Da der Fokus auf HandArbeit liegt, kam mir fast schon beiläufig der Name Arbeit an der Masche in den Sinn. Der deutsche Begriff ‚Masche‘ bezieht sich zwar eher auf die gestrickte Masche als auf einen gestickten Stich, doch damit muss ich vorläufig leben. Im Englischen kommt die schöne Doppeldeutigkeit vom ’stitch’ (dt. für Masche und Stich) besser zum Ausdruck. Und woher kommt der Begriff Arbeit? Dieser soll eine Art gründliches Erkunden, Erforschen, Ausprobieren, Weiterdenken und Machen / Herstellen zum Ausdruck bringen. Auch gehört die (textile) Arbeit nach Arendt zu einem Pflichtrepertoir des Menschen; die Arbeit sichert uns das Überleben, ohne sie würden wir verhungern, erfrieren und viel dergleichen (ebd.). In diesem Sinne soll also meine "Arbeit an der Masche" einerseits das menschliche Handwerk und den Erfindergeist zelebrieren, anderseits soll uns der Name daran erinnern, dass (textile) Arbeit nach wie vor notwendig für unser Überleben ist. Darüber hinaus finden sich in der Geschichte des Handwerks, der Kunst und Philosophie viele Bezüge zu Textilien. Beginnend bei der historischen Entwicklung vom Handwerk, welches in der Regel eng an die jeweiligen Lebensumstände gekoppelt war, über die Geschichte der Menschen und insbesondre von Frauen und ihrer Unterdrückung, bis hin zu Kunst- und Frauenbewegungen rund um die Welt – hier überall hat die Handarbeit eine wichtige Rolle gespielt. Folgen wir dem Beispiel Mahatma Gandhis, der überall gerne sein Spinnrad mitgenommen hat, erkennen wir, dass das fleissige Beschäftigen der Hände uns keineswegs am Denken hindert – im Gegenteil. Gandhi seinerseits liess sich zum Spinnen von den Frauen seiner Umgebung inspirieren.
Betrachten wir die Handarbeit aus dieser Perspektive, kommen wir der Philosophie schon ein Stück näher. Letztlich haben alle philosophischen und ethischen Fragen ihren Ursprung wenn nicht schon im Erkunden des Lebens an sich, so doch im zwischenmenschlichen Handeln. Genau an diesem Punkt setzen meine Kurse und Workshops an, denn hier versuche ich Körper und Geist zu verbinden. Aus der fleissigen Beschäftigung der Hände geht eine Fülle an Objekten und Ideen hervor. Diese sind mehr als ihre äussere Form, denn sie enthalten unsere persönliche Spur und tragen vielleicht etwas zu unserem (Er)Leben bei und regen zum Denken an. Hinzu kommt noch die Interaktion zwischen den Teilnehmenden; hier werden oft neue Fäden gesponnen oder alte aufgenommen, aus scheinbar zufälligen Gesprächsthemen entsteht ein lebhafter philosophischer Dialog, der einen demokratischen Raum für Spiel, Arbeit und Interaktion bietet. Nicht zuletzt lehrt uns das textile Handwerk auch etwas über uns selbst, unsere Geschichte und unser Leben im Allgemeinen. Der amerikanische Soziologe und Philosoph Richard Sennett erforscht in seinem Buch Handwerk die Geschichte des Handwerks und kommt zu dem Schluss, dass es gerade das gemeinsame Herstellen (oder Handwerken) ist, welches uns sensibler, offener, intelligenter und sorgfältiger in Bezug auf das Zusammenleben macht.
In diesem Sinne ist Philosophie für mich nicht nur Arbeit am Gedanken, sondern auch Arbeit an der Lebensgemeinschaft selbst. Die handwerkliche (hier textile) Praxis kann und soll uns bei diesem Prozess unterstützen und uns helfen, sowohl das eigene, als auch das Leben anderer besser zu verstehen.
Bildlegende:
Kaschmirhandtuch (100 x 100 cm), mit pflanzlichen Abdrücken gefärbt und bestickt. Als Stickmotive dienten mir die Handabdrücke meiner Freundinnen und Freunde. Mehr dazu auf https://www.arbeitandermasche.ch/2019-handgeschichten