Erscheint das Bemühen um mittelalterliche Philosophie nicht auf den ersten Blick als antiquiert?Gerade in der Epoche der neuzeitliche Moderne, welche durchstimmt ist von dem Ereignis des Todes Gottes, dem Niedergang des christlichen Glaubens als Quellgrund des Denkens sowie dem Selbstverständnis der Gemeinschaft erscheint die Rückwendung des Blickes hin zur mittelalterlichen Philosophie als eine nostaligsch-antiquierte Sehnsucht, als ein sehnsüchtiges Zurückwollen zu der Sicherheit eines längsten vergangenen Denkens, eine Sicherheit die unserer Epoche zur Gänze verlustig gegangen ist. So duldet die Epoche der neuzeitlichen Moderne keinen sehnsüchtigen Rückblick unentwegt richtet sich ihr Blick nach vorne, der unumstößliche Primat des Zukünftigen ist ihr Leitstern.
Doch was wenn dieser Schein trügt und die neuzeitliche Moderne, wesentlich von den Problemstellungen sowie dem Denken der mittelalterlichen Scholastik durchzogen ist? Was wenn das Bemühen um ein Verständnis der Epoche der neuzeitlichen Moderne aus ihrer innersten Verfasstheit heraus den Denkenden an die mittelalterliche Scholastik verweisen würde?
Zwei Fragen, welche den radikalen Bruch mit der Tradition, den die Moderne so gern in Hinblick auf die Selbst-Vergewisserung ihres Selbst-Verständnisses beschwört, in Frage stellen. So offenbart uns bereits ein kurzer Blick auf die III. Meditation der Meditationen des Rene Descartes, dem Gründungstext neuzeitlich-moderner Subjektphilosophie die Tiefe der Problemstellung in die wir mit diesen Fragen geraten sind.
„Nun darf ich nicht etwas meinen, ich erfaßte das Unendliche nicht durch eine wahre Idee, sondern lediglich durch die Negation des Endlichen, so wie die Ruhe und den Schatten durch die Negation der Bewegung und des Lichtes erfasse; denn im Gegenteil sehe ich ganz offenkundig ein, daß in der unendlichen Substanz mehr Realität als in der endlichen ist, und daß demnach die Erfassung des Unendlichen gewissermaßen früher in mir ist als die des Endlichen, das heißt: die Erfassung Gottes früher als die meiner selbst. Im Rückgriff auf welchen Erkenntnisgrund nämlich würde ich einsehen, daß ich zweifle, daß ich ein Verlangen habe, das heißt: daß mir irgendetwas fehlt und daß ich nicht völlig vollkommen bin, wäre nicht die Idee eines vollkommeneren Seienden in mir, im Verlgleich mit der ich meinen Mangel erkennen würde?“[1]
In diesen wenigen Zeilen aus der III. Meditation der Meditationen von Rene Descartes bricht wesentliches für unsere Eingangs gestellten Fragen auf. Wir sind unverzüglich durch diese Zeilen in den spannungsgeladenen Widerstreit von Endlichkeit und Unendlichkeit geraten und der Frage nach deren Begründungszusammenhang in Hinblick auf die Ermöglichung endlicher Erkenntnis. Das Erwachen des neuzeitlich-modernen Subjekts wird auf dem Grunde der Frage nach der Ursprünglichkeit von Unendlichkeit und Endlichkeit errungen. Diese fundamentale Frage ist ein wesentlicher Kampfplatz auf dem bereits das mittelalterliche Denken gerungen hat.
Stürzen wir uns also mutig in den aufgebrochenen Widerstreit von Endlichkeit und Unendlichkeit in der Hoffnung die innere Verbundenheit der Epoche der neuzeitlichen-Moderne mit der Epoche des Mittelalters offen zu lege . So wagen wir den Sprung in die Widerstreitenden.
Folgen wir zunächst der Annahme die Idee der Unendlichkeit würde durch die Negation der Endlichkeit erkannt werden d.h. die Endlichkeit wäre der Erkenntnisgrund der Unendlichkeit.
Um das Verständnis dieser Annahme zu entfalten verweist uns Rene Descartes auf einen analogen Erfassungsprozess. Nach Rene Descartes erfassen wir die Ruhe aufgrund der Negation der Bewegung und den Schatten aufgrund der Negation des Lichts. Umgekehrt erfassen wir die Bewegung aufgrund der Negation der Ruhe und das Licht aufgrund der Negation des Schatten. Die Negation wird in beiden Fällen als die Ermöglichung der Erfassung verstanden und die Erfassung des Einen ist hierdurch abhängig von der Negation des Anderen und umgekehrt. Der Erfassungsakt durch die Negation offenbart eine fundamentale wechselseitige-Abhängigkeit. Die Erfassung eines Seienden durch die Negation eines anderen Seienden offenbart den Erfassungsakt in seiner Endlichkeit, d.h. in seiner bedürftigen Angewiesenheit auf ein Anderes. Das endliche Erfassen eines Etwas durch die Negation ist bedürftig-angewiesen auf ein anderes Etwas.
Das Licht auf den Schatten, der Schatten auf das Licht. Dies ist das Siegel unserer Endlichkeit. Diese Einsicht ermöglicht uns nun zu verstehen warum die Idee der Unendlichkeit unmöglich aus der Negation der Endlichkeit geschöpft sein kann.
Doch zuvor gilt es noch den zuerst eigenartig anmutenden Sachverhalt ins Gedächtnis zu rufen, dass Rene Descartes die Idee als Substanz denkt und die unendliche Idee als unendliche Substanz. Aus diesem Denken der Idee auf dem Grunde der Substanz erwächst der eigentümliche Vergleich, das die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz mehr-Sein-ist als die endliche Substanz.
Wie ist das zu verstehen?
Eigentlich Seiend ist in der abendländischen Tradition der Philosophie, das eigenständige, sich-selbst-tragende und gleichzeitig sich-selbst-erhaltende Seiende, also dasjenige Seiende das durch sich Selbst ist was es ist und wie es ist. Dieses So-Seiende wird als Substanz (lat. substantia, gr. hypokeimenon) bezeichnet und ist das wahrhaft-wirklich-eigentlich Seiende.
Somit folgt aus der Bestimmung des Begriffs der Substanz, dass diese ursprünglich-vorgängig ist, d.h. ihr geht kein Seiendes voran, die Substanz ist nicht durch ein anderes Seiendes begründet. Sie ist der Grund ihrer Selbst. Die Substanz ist Erst-Grund. Und nur dasjenige Seiende, das die Bestimmung der Substanz erfüllt ist im eigentliche Sinne wirklich-real.
Aus dieser kurzen Besinnung auf die Bestimmung der Substanz wird offensichtlich warum die Idee der Unendlichkeit als unendlich Substanz ein mehr-an-Sein, ein mehr-an-Wirklichkeit als die endlichen Substanz ist, denn nur die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz ist durch sich selbst was und wie sie ist und somit ist sie im eigentliche Sinne des Begriffs der Substanz wahrhaft-wirklich-seiend.
Verbinden wir nun unsere vorher errungene Einsicht mit dem Sachverhalt der Substanz, dann wird offenbar warum es eine Unmöglichkeit ist ausgehend von der endlichen Substanz und der Negation dieser die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz zu erfassen.
Die Unmöglichkeit die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz per Negation der Endlichkeit zu erfassen liegt darin begründet, dass die endliche Art des Erfassens per Negation einen Selbst-Widerspruch in der Idee der Unendlichkeit als unendlich Substanz erzeugen würde.
Wenn die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz aufgrund der Negation der Endlichkeit erfasst werden würde, wäre die Idee der Unendlichkeit als unendlich Substanz nicht mehr substanziell, da sie abhängig von einem anderen Seienden wäre. Die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz würde in diesem Fall zu einer substanzlosen Substanz verwesen. Die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz kann somit nicht von der negativ-privativen Erfassungsweise des Cogito-Subjekts abhängen.
Somit muss die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz vorgängig-ursprünglicher sein als das Cogito-Subjekt, respektive die endliche Substanz. Nicht ausgehend von der Endlichkeit und deren Negation wird die Unendlichkeit erfasst sondern umgekehrt ausgehend von der Unendlichkeit wird die Endlichkeit durch Negation erfasst. Die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz ist der Erkenntnis-Grund des Cogito-Subjekts als endliche Substanz.
Nur auf dem ursprünglich-vorgängigen Grunde der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz, d.h. Gott, erkennt sich die endliche Substanz als Cogito-Subjekt durch privative-Negation Selbst. Doch mit dieser Einsicht dürfen wir unsere Interpretation noch nicht abschließen. Es gilt abermals die Kräfte zu sammeln und einen letzte angestrengen Sprung zu wagen.
Die Idee der Unendlichkeit offenbarte sich uns als ursprünglich-vorgängiger Erkenntnisgrund, d.h. als Ermöglichung der Erkenntnis des Cogito-Subjekts per privativer-Negation. Von der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz hieß es bereits mehrmals, das diese in uns ist. Die Idee der Unendlichkeit ist irgendwie vorhanden, d.h. da-seiend in uns.
Doch woher kommt die in uns vorhandene Idee der Unendlichkeit?
Aufgrund unserer Endlichkeit können wir diese Idee keineswegs hergestellt oder selber verursacht haben. Wir als endliche Substanz können nicht die Ursache der Vorhandenheit der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz in uns sein. Die Vorhandenheit der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz muss eine andere Ursache haben als das endliche Cogito-Subjekt. Gefragt wird also nach der Ursache der Vorhandenheit der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz in uns. In Frage steht der Seinsgrund dieser in uns vorhandenen Idee.
Aus dem bisher gesagten ist offensichtlich das die Vorhandenheit der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz nur durch diese Selbst verursacht sein kann. Mit Münchhausener Verwegenheit zieht sich die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz am Schopfe ihres eigenen Wesensgrundes (lat. essentia) in ihr da sein (lat. existentia). Die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz ist die was sie ist, wie sie ist und daß sie ist durch sich Selbst. Die Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz ist die Ursache ihrer Selbst, sie ist die causa sui.
„Denn wenn sie durch sich selbst ist, so ergibt sich aus dem zuvor Gesagten, daß sie selbst Gott ist, weil sie nämlich, da sie ja die Kraft hat, durch sich selbst zu existieren, zweifelsohne auch die Kraft hat, aktuell alle Vollkommenheiten zu besitzen, deren Idee sie in sich hat, will sagen: alles, von dem ich begreife, daß es in Gott ist.“[2]
Die substanzielle Erst-Ursache, die substanzielle causa sui, hat notwendigerweise die Kraft (lat. potentia, gr. dynamis) durch sich Selbst zu existieren. Zur Erinnerung, die substanzielle causa sui ist aufgrund ihrer Substanzialität unbedürftig und unangewiesen auf ein vorgängig sie Bewirkendes. Somit vermag sie die Ursache ihrer Selbst zu sein. Das sie es vermag die Ursache ihrer Selbst zu sein muss sie auch die Ursache ihrer selbst sein, sonst wäre sie nicht vollkommen da sie sonst eine Potentialität hätte, die nicht aktualisiert wäre.
Das heißt in der Idee eines unendlich-vollkommenen Wesens als unendlich-vollkommenene Substanz fallen Was-Sein (essentia) und Daß-sein (existentia) zusammen.
Somit verweist die Vorhandenheit der Idee der Unendlichkeit als unendliche Substanz in uns aus dem Grunde ihres Wesens auf die Existenz einer Ursache-ihrer-selbst, die causa sui, die ihre Vorhandenheit als Idee in uns selbstständig bewirkt.
„Dagegen folgt daraus, daß ich Gott nicht denken kann außer als Existierenden, daß die Existenz unabtrennbar von Gott ist, und er demnach tatsächlich existiert.“[3]
Die Besinnung auf die Idee der vollkommenen Unendlichkeit als unendlich vollkommene Substanz offenbart Gott als Erkenntnisgrund und Seinsgrund des endlichen Seienden und somit auch der endlichen Substanz des Cogito-Subjekts.
Im Denken von Rene Descartes an der Schwelle von Mittelalter zur Neuzeit fand einer der letzten großen Versuche das Daß-sein Gottes aus seinem Was-sein heraus zu beweisen. Dieser Versuch wäre undenkbar ohne den zweiten und dritten Weg zu Gott von Thomas von Aquin sowie den Gottesbeweis von Anselm von Cantebury. (Ganz zu schweigen von Aristoteles.)
Schließlich ist Gott der Grund auf dem das neuzeitlich-moderne Subjekt zum ersten mal erwacht. Und nur in diesem Horizont wird der unfassbare Schrecken des Ereignisses vom Tode Gottes ahnbar. Ein Ereignis dessen Nachbeben die gesamte Post-Moderne durchschüttert und das bis heute das Denken in Atem hält und dessen Folgen immer-noch unabsehbar sind.
„Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wander, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Dies That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie diesselbe gethan!“ [4]
Literaturverzeichnis:
• Descartes, Rene (2009): Meditationen, hrsg. Wohlers Christian, Hamburg: Felix Meiner Verlag
• Nietzsche, Friedrich (2018): Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, 10. Auflage der kritischen Studienausgabe hrsg. Giorgio Colli & Mazzino Montinari, München: dtv-Verlag
[1] Descartes 2009, S. 50
[2] Descartes 2009, S. 54
[3] Descartes 2009, S. 72
[4] Nietzsche 2018, S. 481