Herbstsemester 2021

Zwischen Transzendenz und Immanenz, Metaphysik und Metapher

Seminararbeit, Universität Luzern

    Einleitung

    Warum machen wir Menschen uns so viele Gedanken über unsere eigene Existenz? Nicht weil uns das Leben auf einer intellektuellen Ebene als abstrakt gefasstes Phänomen grundsätzlich zum Denken anregt, sondern weil wir der Welt gegenüberstehen wie Odysseus, der im dichten Nebel über das vom Sturm erregte Meer getrieben wird. Ohne zu wissen warum, spüren wir die mächtigen Wellen, die immer wieder an unserem kleinen Schiff brechen und alles was wir wünschen, ist, dass endlich „[...] ein Lichtstrahl fiele auf das Dunkel unseres Daseins und irgendein Aufschluss uns würde über diese rätselhafte Existenz, an der nichts klar ist als ihr Elend und ihre Nichtigkeit" (WWV2: 211).

    Dies ist die Perspektive, von der aus der junge Schopenhauer nun zu philosophieren beginnt. So hat er sich mit seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" [WWV] vorgenommen, eben diese Dunkelheit unserer Welt zu beleuchten. Konkret heisst das für ihn, die Welt, wie wir sie über unsere Gefühle unmittelbar erfahren, in abstrakte – für unseren Verstand brauchbare – Erkenntnis zu übersetzten.

    „Die Philosophie kann nirgends mehr tun als das Vorhandene deuten und erklären, das Wesen der Welt, welches in Concreto, d.h. als Gefühl, jedem verständlich sich ausspricht, zur deutlichen, abstrakten Erkenntnis der Vernunft bringen, dieses aber in jeder möglichen Beziehung und von jedem Gesichtspunkt aus" (WWV1: 376).

    Die wesentliche Erkenntnis, den einen Gedanken, den er mit seinem Werk dabei vermitteln will1, verrät er bereits mit dem Titel seines Buches: Nämlich dass die Welt zwar einerseits unsere Vorstellung ist, aber andererseits – und dies ist die zentrale Neuerung, die Schopenhauer mit seinem Werk zur Geschichte (nicht nur der Philosophie) beigetragen hat2 – auch Wille.

    Was diese Erkenntnis genau beinhaltet, wird mit der folgenden Arbeit nun zur Diskussion gestellt. 

    So werde ich in einem ersten Schritt die wichtigsten Gedanken darstellen, die Schopenhauer in den ersten zwei Teilen der Welt als Wille und Vorstellung entwickelt. Es soll dabei ersichtlich werden, was Schopenhauer meint, wenn er davon spricht, dass uns die Welt einerseits als Vorstellung und andererseits als Wille gegeben ist. Anschliessend werde ich darstellen, wie er diesen Gedanken der Welt als Wille und Vorstellung – den er auf verschiedenen Ebenen diskutiert – wieder zurück ins Leben überträgt und ihn in den zwei zentralen Momenten der „Bejahung-" und "Verneinung des Willens zum Leben" münden lässt.

    In einem zweiten Schritt werde ich diesen Prozess reflektieren. Ich werde also die grundlegende Frage diskutieren, wie Schopenhauers 'Welt als Wille und Vorstellung' gelesen werden muss: Ist sein Konzept des Willens trotz des von ihm selbst vorgebrachten Anspruchs der Immanenz im Kontext der klassischen Metaphysik3 zu verorten? Oder lässt sich der Begriff des "Willens" noch auf eine andere Art lesen?

    Entlang dieser Frage werde ich – über John Dewey vermittelt – eine spezifische Lesart entwickeln, mit der sich Schopenhauer vom Vorwurf des Selbstwiderspruchs retten lässt und die mich schliesslich dazu führt die Erfahrung, die Schopenhauer zum Philosophieren angetrieben hat, wieder zurück in meine eigene Erfahrung zu übersetzten, um damit zu veranschaulichen, wie die vorgeschlagene Lesart zu verstehen ist.  


    1 So schreibt Schopenhauer in der Vorrede zur ersten Auflage der WWV: „Was durch dasselbe [sic. sein Buch] mittgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. Dennoch konnte ich, aller Bemühungen ungeachtet, keinen kürzeren Weg, ihn mitzuteilen, finden als dieses ganze Buch" (WWV1: 7).

    Vgl. Weimer, Wolfgang (2014): Schopenhauers Nachwirkung. In: Hallich, Oliver / Koßler, Matthias (Hrsg.): Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung – Reihe Klassiker Auslegen, Bd. 42. Berlin: Akademie Verlag.

    3 Unter "klassischer Metaphysik" verstehe ich diejenigen metaphysischen Systemen, die einen Anspruch auf Erkenntnis ausserhalb der Grenze des Erfahrbaren erheben.