Traurig oder Trauriger

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    Ich bin nicht depressiv. Dennoch begleitet mich immer ein schweres Gefühl. Es zieht mich nach unten oder in die Ferne, weit weg von allem was ich kenne und doch zu einem Ort, der mir vertraut ist. Ein Ort, den keiner kennt, aber den ich überall finden kann. Ich kann das Warum für dieses Gefühl nicht definieren und doch steht es bisweilen so klar vor mir, bevor es wieder im Nebel verschwindet und ich alles wieder vergessen habe. Was geht da in mir überhaupt vor?

    Freud schreibt in seinem Essay Mourning And Melancholia, dass man zwischen Trauer und Melancholie nur in ihrer Auswirkung auf unser inneres Ich - unser Ego - unterscheiden kann. Der Auslöser für beides liegt meist in dem Verlust von einem gewissen Etwas begründet. Dies kann der Verlust einer nahestehenden Person durch Tod oder Trennung sein oder aber auch etwas abstraktes, wie das eigene Land. Wenn ein Mensch nun trauert, so kann er den Auslöser klar definieren. Was heisst, er kann das wer oder was benennen, aber auch welche Gefühle und Werte er an dem Verlorenen geschätzt hat. Zudem fällt es einer trauernden Person relativ leicht, sich aus jenem Zustand wieder zu befreien. Eine melancholische Person wiederum kann das wer oder was nur vage definieren und über deren Auswirkung auf einen selbst nur nachdenken, aber selten zu einem konkreten Schluss gelangen. Beide versuchen, das Verlorene zu verinnerlichen und mit Gedanken sowie Phantasien am Leben zu erhalten. Der Melancholiker jedoch dreht dann meist die Ausrichtung von Schmerz im Bezug auf den Verlust um und richtet ihn auf sich selbst aus. Dieser nun anhaltende physische Schmerz bleibt laut Freud so lange bestehen, bis die betreffende Person das Objekt sowie deren Auswirkungen klar definieren kann.

    Früher. Nun, das ist etwas übertrieben, wenn man mein Alter kennt. Sagen wir also vor mehreren Jahren, als ich in eine neue Schule kam, veränderte sich viel für mich. Ein grosser Teil meiner alten Freunde wechselte zwar mit mir auf jene neue Schule, jedoch wurde ich - nun man muss es wohl so sagen - ein Einzelgänger. Ich hatte - aus mir unbekannten Gründen - kaum noch Kontakt zu meinen ehemaligen Freunden. Obwohl sie mit mir in derselben Klasse und wenn nicht immerhin im selben Jahrgang waren. Aus dieser Distanz und dem typischen Gruppenverhalten von Kindern, kam zu der Abgrenzung auch noch Mobbing hinzu. Es war kurzum eine meiner schwierigsten Zeiten.

    In dieser Zeit lernte ich aber zum Glück oder durch reinen Zufall einige polnische sowie russische Jugendliche kennen, welche meist am Abend vor dem Schulhaus herum lungerten. An einem Abend wusste ich, aufgrund eines gewissen Ereignisses nicht mehr, wo vorne oder hinten war. So turmelte ich also auf die Gruppe zu. Warum, weis ich bis heute nicht. Sie nahmen mich kurz darauf in ihre Gruppe auf und gaben mir eine Zigarette. Sie redeten über alltägliche Dinge und ich sass halb benommen durch das Nikotin daneben.

    Nun lange Rede kurzer Sinn, an jenem Abend ging ich mit ihnen mit. Wir kamen nach einiger Zeit zu einem verlassenen Industriegebäude am Rande der Stadt. Nachdem wir die Absperrungen überwunden hatten, setzten sich alle in einem Raum zusammen, Alkohol wurde herumgereicht und jemand spielte Musik von seinem Handy ab. Diese Musik werde ich nie vergessen. Die Melodie der Lieder, die Traurigkeit in den Worten, die ich nicht einmal verstand und die dazu passende Umgebung, das alles brannte sich in meinem Kopf ein. Dies sollte sich dann noch mehrere Male wiederholen. Wir brachen in verlassene Gebäude ein, kletterten auf verfallenen Dächern umher und nicht selten spielte jene melancholischen Musik im Hintergrund. Diese Gruppe war für mich wie eine zweite Familie geworden. Sie linderten zwar nicht die Schmerzen, die ich während der Schulzeit erlitt, doch es gab mir immerhin das Gefühl, dass jemand - irgendjemand - in meiner Nähe war und auf seine Art freundlich zu mir war.

    Nach einem Jahr wechselte ich dann erneut die Schule und verlor nun auch den Kontakt zu meinen neuen “Freunden”.

    Mir ging es zwar besser, doch die Gefühle von Hilflosigkeit, Verlorenheit und Traurigkeit kamen immer wieder hoch in mir. Natürlich gibt es Situationen wo das vollkommen normal und verständlich ist, jedoch gibt es so viele Tage, an denen ich mich grundlos ebenso fühle. An solchen Tagen höre ich dann meist ähnliche Lieder wie damals mit den polnischen und russischen Jungs. Heute wie damals ist es zwar eher nur eine Art Veräusserung meiner inneren Gefühle, doch irgendwie hilft das schon ein klein wenig.

    So finde ich mich auch heute noch in alten Gemäuern mit Kopfhörern im Ohr und Liedern wie Kindheit und я люблю тебя давно (Ich liebe dich schon lange) von Rauf und Faik. Es ist das melancholische, die romantisierte Vorstellung der Zeit damals, die sanfte Melodie, die “Schreie voller Emotionen”,...

    Meine Eltern trennten sich nach einiger Zeit. Mein Vater blieb in unserer Heimat und meine Mutter, Schwester und ich gingen in die Schweiz. Als ich also erneut die Schule gewechselt hatte, sah ich kaum noch meinen Vater. Nur ein oder zwei mal im Jahr fuhren wir zu ihm. Doch obwohl ich zuvor nie eine besonders gute Beziehung zu ihm hatte, schien es mir mehr und mehr mit jedem Besuch so, als würde er sich doch um mich sorgen. Nach zwei Jahren wollte meine Mutter verständlicherweise nicht mehr die volle Strecke auf sich nehmen. So kam es, dass mein Vater mich und meine Schwester in der Mitte des Weges abnahm und wir dann mit ihm in einem Fiat Polski zu ihm nach Hause fuhren. Es war nicht der schönste Oldtimer, doch er hatte seinen eigenen Scharm und jedes Mal hörten wir nach einiger Zeit auf der Autobahn die Lieder von Simon and Garfunkel. Meist war es dann auch schon spät, wenn wir wieder in die alte Heimat kamen. Die Sonne war dann immer dabei, hinter den Horizont zu kriechen und dabei die schönsten und sattesten Rot- und Orangetöne zu hinterlassen. Zum Abendessen nach der Fahrt gab es an solchen Tagen oft Wraps mit alkoholfreiem Bier und im Hinterkopf sangen bei mir immer noch Simon and Garfunkel Kathy’s Song.

    So kommt es wohl, dass ich auf Reisen zu ihren Liedern aus dem Fenster schaue und in “behüteten” Erinnerungen schwelge, die nie wirklich da waren. Doch es beruhigt, es nimmt den Stress des Reisens. Zu Kathy haben sich auch nun andere Lieder gesselt. Zum Beispiel die Themen Melodie von Tschick, welche zu der gefühllosen Autobahn passt und der Reise ins Ungewisse - in die “Walachei”. Genau so wie Tschick und Maik. Sie wollten von ihrem jetzigen Leben fliehen. Sie wollten beide weit weg sein an einem Ort, an dem sie keiner beurteilt, an dem sie machen könnten, was sie wöllten. Doch sie kahmen nie dort an, vor allem auch da die Walachei in Tschick nichts mit der Walachei zu tun hat, die man auf der Landkarte findet. Es ist in dem Roman ein theoretischer Ort, der nicht real existiert. Doch auf dem Weg dorthin fand Maik heraus, wer er eigentlich ist. Was dazu führte, dass sein Leben in neue und auch gute Bahnen weiter ging.

    Es gibt noch mehr von solchen, aber auch anderen Ereignissen, zu denen mir ein Lied einfällt, welches meine Gefühle ausdrückt. Alle diese Ereignisse haben aber etwas gemeinsam, sie sind das, was ich mir bisweilen wünsche. Der Ort, an dem ich sein will. Wenn ich aber dann dort bin oder mich genau an Vergangenes erinnere, so ist es nicht das was ich eigendlich suche. Es ist eine idealisierte, verschobene und idealisierte Abwandlung meiner Erinnerungen. Wenn ich wieder einmal in diesen schwebe, kann ich nicht genau formulieren, was ich fühle. Die Lieder tun das für mich. Es scheint mir, als lebe ich in meinen Gedanken in der Vergangenheit. Auch wenn Teile davon traurig waren, so sind die einzelnen schönen Momente doch so … stark und einfach - nun keine Ahnung. Ich weis nicht, wie ich es benennen soll.

    Neulich meinte ein guter Freund von mir - welcher, oh Wunder, auch Russe ist- ,dass russische Lieder entweder traurig oder trauriger sind. Und da kann ich ihm nur zustimmen. Ja, sie sind so, doch lieber weis ich durch sie einigermassen was ich fühle, als komplett orientierungslos im Nichts zu schweben.

    Mir scheint es heute, als wäre ich schon mal in der “Walachei” gewesen oder als hätte ich irgendwelche Ahnen dort, die auf ihre verschrobene Weise nach mir rufen. Vielleicht spricht aber auch mein Unterbewusstsein aus mir, eine Art vergangenes Leben a la Past Lives von sapientdream.

    Kurz, ich kann das wer oder was nicht genau bestimmen, was mich in solchen unwahren Erinnerungen schwelgen lässt. Ich kann nicht definieren, was es ist, was mich zu all dem verbindet. Ich bin ein Melancholiker und werde es so lange bleiben, bis ich mir über allem im Klaren bin. Bis ich weis was das alles überhaupt für mich bedeutet bleibe ich wohl so wie ich gerade bin. Es ist nichts Schlechtes, es ist nur so … schwer.

    Allein all dies hier aufzuschreiben hilft jedoch schon viel. Es klärt nicht viel auf, doch es zeichnet für mich ein klareres Bild.