„VIRTUAL REALITY - PHILOSOPHY COMPETITION” - so steht es auf dem Aushang, der auf den Essaywettbewerb hinweist, für den ich gerade diesen Text schreibe. Unter der Überschrift des Plakats ist dabei auf schöne und künstlerische Weise illustriert, was man sich unter dem Begriff virtuelle Realität vorstellen kann. Eine junge Person scheint durch die Macht einer VR-Brille in eine neue Realität einzutauchen. Sie überquert eine flüssige Grenze. Die Grenze zwischen Außenwelt und virtueller Realität. Vielleicht die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion. Was das Bild auch darstellt, ist der momentane Stand der Technik. Während Apple erst vor wenigen Wochen eine beindruckende VR-Brille vorstellte, deren Display eine derart außergewöhnliche Schärfe aufweist, dass das menschliche Auge nicht einmal die Pixel dieser künstlichen Welt zählen kann, tüfteln im Silicon Valley Personen wie Elon Musk bereits an der nächsten Generation virtueller Erfahrungswelten. Die Idee eines Brain-Computer-Interface (BCI) schwirrt durch die Labore der kalifornischen Firma Neuralink. Ein Gerät, das wir direkt an unser Gehirn anschließen sollen, um so mit unseren Mitmenschen nicht mehr nur durch Wörter, sondern durch direkte Gedankenübertragung kommunizieren zu können. Ein großer, letzter Schritt in der Geschichte der Informationstechnologie. Von der mündlichen Überlieferung und der Verwendung von Brieftauben und Postkutschen über die Einführung von Telegrafie und Telefon im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zur heutigen Ära des Internets und der digitalen Kommunikation hat sich die Geschwindigkeit, Reichweite und Effizienz des Informationsaustauschs stetig verbessert. Verschiedenste Informationen wurden mit Fortschritt der Technologie immer schneller wie auch präziser übertragen. So scheint es fast schon determiniert, dass wir irgendwann durch ein BCI nicht nur die eigenen Gedanken, sondern auch unsere ganzen Sinneseindrücke in Echtzeit in das Gehirn einer anderen Person übertragen können. Tim Urban beschreibt dieses Szenario in seinem Blog so anschaulich, dass man glauben könnte, er verfasse einen Werbebeitrag für ein BCI Unternehmen. Er schreibt: „You’re on a beautiful hike and you want to show your husband the view. No problem—just think out to him to request a brain connection. When he accepts, connect your retina feed to his visual cortex. Now his vision is filled with exactly what your eyes see, as if he’s there. He asks for the other senses to get the full picture, so you connect those too and now he hears the waterfall in the distance and feels the breeze and smells the trees and jumps when a bug lands on your arm.”[1]
Dass dieses erst einmal scheinbar tolle Szenario auch eine sehr negative Seite hat, ist spätestens durch die Netflix Serie Black Mirror in erschreckender Deutlichkeit dargestellt worden. In "Erlebnishunger" (Episode 2 der Staffel 3) wird ein junger Mann für Versuchszwecke an ein BCI angeschlossen. Nach anfänglicher Begeisterung über die technologische Machbarkeit, künstliche Objekte in seiner Wahrnehmung erscheinen zu lassen, schwindet die Begeisterung des Protagonisten schnell, sobald er in einem Horrorhaus aufwacht. Er ist in einer scheinbar unentrinnbaren künstlichen Welt gefangen. Die Möglichkeit, zwischen Realität und Illusion unterscheiden zu können, scheint ihm seit dem Einsetzen des BCI genommen.
Dass die Welt außerhalb von uns eine Illusion sein könnte, wurde auch in der Geschichte der Philosophie häufig diskutiert. Ein stichfester Beweis, warum die Welt, die wir gerade erfahren, nicht einer Halluzination entspringt, wurde dabei nie gefunden. Einer der berühmtesten Denker, der über dieses Problem der Außenwelt nachgedacht hat, war René Descartes. Descartes erklärt in seinem Werk ‘Meditationes de prima philosophia’, wie ungewiss es ist, dass es eine Außenwelt gibt, die mit unseren Erfahrungen und Sinneseindrücken korrespondiert. In seiner Verzweiflung scheint es Descartes nur durch den Beweis eines nicht täuschenden Gottes möglich, dieses erkenntnistheoretische Problem zu überwinden. Ein Beweis, der leider an vielen Stellen hinkt und so bleibt uns statt einer Lösung nur das Problem erhalten. Ein erkenntnistheoretisches Dilemma, dass Arthur Schopenhauer 177 Jahre nach René Descartes’ Meditationen direkt mit unserer Fähigkeit der Erkenntnis in Verbindung bringt. In dem ersten Satz seines Hauptwerks „Die Welt als Wille und Vorstellung” erklärt Schopenhauer mit einem Paukenschlag: „Die Welt ist meine Vorstellung: - dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten”[2] Schopenhauer macht mit dieser Feststellung deutlich, dass die Welt uns grundsätzlich erst einmal als Vorstellung begegnet, einen direkten Kontakt zu einer Außenwelt (sofern es sie gibt) scheint nicht möglich. Nur derjenige, der dies erkennt, hat, so Schopenhauer, einen wahren Blick auf die Welt.
Mit dieser Feststellung Schopenhauers wird das erkenntnistheoretische Problem auch zu einem anthropologischen. Denn es liegt nach Schopenhauer, in der Natur des Menschen, dass er als erkennendes Wesen keinen direkten nachweisbaren Zugang zu einer uns äußeren Welt hat. Diese anthropologische Perspektive des Außenweltproblems hat auf andere Weise auch Günther Anders in seinem Werk die „Die Weltfremdheit des Menschen” behandelt. Günther Anders fragt nach dem Verhältnis von Welt und Mensch. Der Mensch erfährt sich als ein eigenständiges Subjekt, so Anders, da er sich bis zu einem bestimmten Grad von der Welt entfremdet hat. Das Außenweltproblem muss nach Anders „als Symptom eines existenziellen Tatbestandes [...] eines Fremdseins, eines Abgeschnittenseins, eines Freiseins von dieser Welt ernst genommen werden.”[3]
Die Entfremdung des Menschen von der Welt erläutert Anders, indem er Mensch und Tier gegenüberstellt. Das Tier ist, so Anders, weit mehr als der Mensch in die Welt eingebettet, so weit, dass es relativ wenig auf Erfahrung und Erinnerung zurückgreifen muss und vielmehr als Instinktwesen agiert. Es muss durch seine Einbettung in die Welt meist nicht lernen, wie es sich in der Welt zu verhalten hat. Dies zeigt Anders an dem Beispiel eines Zugvogels. Der Zugvogel weiß instinktiv, wo Süden ist und wann er im Winter losfliegen muss. Das Tier weiß die Welt Material-apriorisch vorweg.[4] Anders erklärt: „Das Tier kommt nicht zur Welt, sondern seine Welt kommt mit ihn”.[5] Die Bedürfnisse des Tieres und seine materielle Form stimmen insoweit mit der Welt überein, dass laut Anders, eine sogenannte „Bedürfniskongruenz” vorhanden ist. Tier, Pflanze und Mensch sind für Anders damit Begriffe, die einen „bestimmten Einbettungskoeffizienten” in der Welt beschreiben.[6] „Sofern Seiendes einen bestimmten Grad, eine bestimmte Intimität der Dazugehörigkeit zum ganzen des Seienden und vice versa einen bestimmten Grad der Abgehobenheit, des >>Selbstseins<< der Freiheit von Welt hat, ist es Tier.”[7] Das Tier ist somit in der Welteinbettung graduell zwischen Pflanze und Menschen einzuordnen. Es hat durch seine Bewegungsfreiheit schon einen höheren Grad an individuellen Selbstsein als die Pflanze, ist aber insgesamt mehr eingebettet in der Welt ist als der Mensch. Ganz entsprungen ist der Mensch der Welt aber auch nicht. Er bleibt immer, auch wenn er als einzelner existiert, Teil der Welt. Günther Anders schreibt: “So ist der Mensch zwar in der Welt, ja, ist selbst Welt, andererseits ist er ihr in einer eigenartigen Weise enthoben”.[8] Weiter schreibt Anders: „er [der Mensch] muss sie [die Welt] nachträglich erfahren; er muss sie erst eigens Logos ansprechen; er antizipiert sie nicht materialiter; er verachtet ihre Tatsächlichkeit als kontingent, als nur Faktum, als nur empirisch, als >>diese Welt<<; er übertrifft die vorfindliche und treffbare Welt im Erfinden; er ist als Realisierender in einem solchen Grad unangewiesen auf ihre Realität.”[9]
Der Mensch befindet sich also mit seiner Weltenthobenheit in einer ausbalancierten Schwebe. Einerseits ist er Weltwesen, andererseits kann er sich dieser Weltverbundenheit, wie zu Beginn gezeigt, nicht wirklich sicher sein. Bisher hatte diese Unsicherheit keine praktischen Konsequenzen. Wir sind immer gut damit gefahren zu glauben, dass die Welt so wie wir sie in unserem Geist vorfinden, mit dem, was wir Außenwelt nennen, auf bestimmte Weise übereinstimmt. Trotz der Weltentfremdung scheint der Mensch damit noch gerade genug in der Welt eingebettet, um sicher in ihr leben zu können. Unsere Vorstellungskraft, die wie gezeigt direkt mit unserer Weltentfremdung verbunden ist, macht uns sogar zur dominanten Spezies. Mit der Möglichkeit eines BCI’s stellt sich die Frage, ob wir uns mit dieser Technologie nicht zu sehr von der Welt entfremden und unseren Bezug zur Realität und damit unsere Zukunft als Spezies verlieren könnten.
Endnoten
[1] Tim Urban (2017).
[2] Arthur Schopenhauer (1859) S. 3.
[3] Günther Anders (2018) S.15.
[4] Vgl. Günther Anders (2018) S.11f.
[5] Günther Anders (2018) S.12.
[6] Vgl. Günther Anders (2018) S. 14 f. 7 Günther Anders (2018) S.14.
[8] Günther Anders (2018) S.16.
[9] Günther Anders (2018) S.16.
Literatur
Anders, Günther: Die Weltfremdheit des Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie. Hrsg. Christian Dries. C. H. Beck, München 2018.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. 3. Auflage. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859.
Urban, Tim: Neuralink and the Brain’s Magical Future, https://waitbutwhy.com/2017/04/neuralink.html, 20.04.2017. Aufgerufen am 30.06.23.