«Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin ein Egoist» singt Pop-Ikone Falco auf seinem Lied «Egoist» im Jahr 1998. «Ich gebe meinem Ego täglich die spezielle Kur, nur meisten geb ich mir gleich alles und am liebsten pur, Sure.» heisst es in selbstgefälliger Manier in der zweiten Strophe weiter. Falco scheint es zu gefallen, «ganz oben auf der Liste» zu stehen und nur sich selbst im Blick zu haben. Mit seiner charismatischen Lässigkeit bringt er unmissverständlich zum Ausdruck, auf die Meinungen seiner Mitmenschen zu pfeifen und nur jemand ganz besonderem Bewunderung zu zollen: sich selbst.
Falco charakterisiert in seinem Lied einen Menschentypus, den man eigentlich nicht mögen darf: einen asozialen, selbstsüchtigen und grenzenlosen Egoisten. Übersetzt in die heutige Zeit: Vielleicht jemand, der während der Corona-Pandemie alle WC-Packungen im Supermarkt geleert hat. Oder jemand, der sich am Apérobuffet gierig die besten und grössten Portionen auf den eigenen Teller häuft - ohne Rücksicht auf die anderen Gäste. Offenbar gibt es eine Seite des Egoismus, die von vielen als unanständig angesehen wird und für rücksichtsloses Verhalten steht. Falco verkörpert in seinem Lied «Egoist» dieses Merkmal der Charaktereigenschaft Egoismus hervorragend.
Doch mir stellt sich die Frage: Müssen wir nicht alle einmal im Leben egoistisch sein, um für uns selbst zu sorgen? Selfcareübungen sind im Trend, und in unserer pluralistischen Gesellschaft in der Schweiz wird die individuelle Selbstverwirklichung propagiert. Und viel grundsätzlicher: Alle sollten doch die Freiheit haben, ihr Leben nach der eigenen Façon zu gestalten, ohne dass andere sich einmischen. Denn schon allein aus Überlebensgründen müssen wir uns selbst genügend Aufmerksamkeit schenken, um in der Lage zu sein, das Leben in vollen Zügen geniessen zu können. Es braucht folglich eine gewisse «Ichbezogenheit» eines jeden, um im Leben vorwärtszukommen.
Allerdings gibt es für uns alle auch Momente, in denen wir uns uneigennützig verhalten. Wir geben im China-Restaurant Trinkgeld, auch wenn wir vielleicht nie wiederkommen. Wenn in Haiti Naturgewalten Zerstörung und Leid angerichtet haben, spenden wir Geld für die Soforthilfe. Es sind altruistische Handlungen, die nicht einzig dem persönlichen Zweck dienen. Mir drängt sich die Frage auf: Besteht nicht ein Spannungsfeld zwischen egoistischen und altruistischen Handlungen? Welche ethischen Grundprinzipien sollten zwischen diesen beiden Charaktereigenschaften gelten?
Deshalb begann ich meine Suche nach Denkerinnen und Denkern, die mir bei der Lösung dieses Konflikts behilflich sein könnten.
Eine spannende Erklärung für dieses Spannungsfeld lieferte Robert Trivers im Jahr 1971 mit dem Konzept des «Reziproken Altruismus». Dabei handelt es sich um eine Variante des Altruismus, bei der Menschen bereit sind, anderen zu helfen, in der Erwartung, dass die Hilfe oder der Gefallen zu einem späteren Zeitpunkt erwidert wird. Das Konzept basiert also auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und setzt auf die menschliche Kooperation, die in uns allen evolutionär angelegt ist. Beispielsweise helfe ich meiner Kommilitonin bei ihrer Hausarbeit über Falco in der Hoffnung, dass sie sich später an meine Hilfe erinnert und mir in einer schwierigen Situation hilft.
Bei weiteren Nachforschungen bin ich ausserdem auf die russisch-amerikanische Philosophin Ayn Rand gestossen, die mit ihrer Weltanschauung ethische Handlungsmaximen aufstellt. Rand entwarf Mitte des 20. Jahrhunderts eine Philosophie des rationalen Eigennutzes, den sogenannten «Objektivismus». Ihre Philosophie lässt sich gut mit einem Zitat von ihr umschreiben: «Um sagen zu können: ‹Ich liebe Dich›, muss man zunächst sagen können: ‹Ich›.»
Ich versuche nun, Ayn Rands Philosophie des Objektivismus, die in Europa praktisch unbekannt ist, in groben Zügen zu skizzieren. Sie besagt, dass «der Handelnde immer der Nutzniesser seiner Handlung sein muss und dass der Mensch nach seinem rationalen Eigeninteresse handeln muss» [1]. Sie setzt Selbstachtung mit Egoismus gleich und erklärt, dass das individuelle Wohl und die Verfolgung eigener Interessen von höchster Bedeutung sind. Sie argumentiert, dass es ethisch vertretbar ist, seine eigenen Interessen zu verfolgen, solange dies auf rationale und verantwortungsvolle Weise geschieht.
Rands Botschaft wird vielleicht am deutlichsten durch ein extremes Beispiel. Ein Mann, der bei einem Hausbrand Leib und Leben riskiert, um seine Frau aus den Flammen zu retten, muss dies nicht aus altruistischen Motiven tun, sondern kann auch egoistisch handeln. Wahrscheinlich wusste der Mann instinktiv, dass er sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen könnte. Sein Leben wäre für ihn also aus rationalen Gründen nicht mehr lebenswert gewesen, weshalb er sich zu dieser drastischen Tat entschliesst. Ayn Rand betrachtet egoistisches Handeln, wie bereits erwähnt, als Tugend. Voraussetzung ist, dass rational gehandelt wird und das individuelle Wohl im Mittelpunkt steht.
Im Gegensatz zu Falco, der in seinem Lied einen rücksichtslosen und selbstverliebten Egoisten besingt, beschreibt Ayn Rand mit ihrer Definition von Egoismus eine Tugend, die auf Rationalität und Selbstverantwortung beruht. Am treffendsten und hilfreichsten fand ich bei meiner Recherche jedoch die kurz vorgestellte Analyse des Soziobiologen Robert Trivers. Die Idee des «Gebens und Nehmens» in der Hoffnung auf langfristigen gegenseitigen Nutzen scheint mir einleuchtend.
Es gibt eine Reihe weiterer philosophischer Überlegungen zum Spannungsfeld zwischen Egoismus und Altruismus, die eine Lektüre wert sind. Trotzdem war ich schon erstaunt darüber, welche Denkanstösse ein Pop-Song wie «Egoist» mir bieten konnte. Und vielleicht sollte man Falcos Text in der dritten Strophe doch ernster nehmen als zunächst vermutet: «Liebe kommt von lieben und ich fange bei mir an. Und mit ein bisschen Glück bist eines Tages du mal dran».
[1] Rand, Ayn: Die Tugend des Egoismus : Eine neue Sicht auf den Eigennutz. : TvR Medienverlag, 2016. S. 10