Alina: Der Hintergrund dieses Interviews ist der Folgende: In vielen Zeitungen gibt es negative Geschichten über Menschen, die geflüchtet sind. Wenn man ein bisschen mit geflüchteten Menschen spricht, merkt man aber ziemlich schnell: Ihre Situation ist sehr schwierig.
Wir möchten die Geflüchteten ihre Geschichte selbst erzählen lassen: Wie ist es für dich, hier zu sein? Viele Schweizer:innen verstehen auch nicht: Warum bist du geflohen? Es geht darum, diese anderen Geschichten öffentlich zu machen, damit man auch sieht: Das ist ein Mensch und dieser Mensch gibt sich sehr viel Mühe, aber es ist nicht einfach.
Also zuerst: Wer bist du und was machst du?
Hamayoun: Mein Vorname ist Hamayoun, mein Nachnahme ist Lali. Ursprünglich komme ich aus Afghanistan. Momentan mache ich bei der Firma Multireflex AG eine Ausbildung als Medientechnologe. Bald beginnt das zweite Lehrjahr.
Alina: Wie lange bist du schon hier?
Hamayoun: Seit 2018, das genaue Datum ist der 29.4.2018. Über 5 Jahre.
Die Flucht aus Afghanistan
Alina: Was war der Grund, warum du geflohen bist?
Hamayoun: Ich war beim Militär, ich wollte für Demokratie, Menschenrechte, Sicherheit in meinem Land und gegen Korruption kämpfen. Mein Hauptziel war, mich für diese Sachen einzusetzen. Diese Werte haben wir von westlichen Ländern gelernt. Seit 2001 war die NATO in meinem Land und sie haben uns in der Schule beigebracht, dass man es so machen sollte.
Alina: Die NATO war in den Schulen?
Hamayoun: Nein, aber das war die Wirkung auf die Schulen. Und die Lehrer haben uns das so beigebracht. Dafür wollte ich mich einsetzen, das war mir wichtig. Ich wollte etwas für mein Land machen.
Die Situation wurde jedoch sehr schlimm. Vor ein paar Jahren, als ich beim Militär war, habe ich in den Zeitungen gelesen, dass 45’000 Soldaten im Krieg gestorben sind. Ich war in meiner Familie der einzige Sohn, deshalb wollte ich nicht sterben. Ich konnte meine Mutter nicht besuchen, weil der Weg sehr gefährlich war. Die Taliban haben die Autos kontrolliert. Und für sie sind Soldaten, die bei der Regierung schon gearbeitet haben oder am Arbeiten waren, Ungläubige. Nach Meinung der Taliban, des IS und des Haqqani-Netzwerk sollten Ungläubige getötet werden.
Alina: Kann man aus dem Militär wieder weggehen?
Hamayoun: Nein, so einfach nicht. Nach der Ausbildung kann man weggehen. Aber wenn du den Vertrag unterschrieben hast, dann nicht. Ich habe den Vertrag unterschrieben und wollte bei der Regierung bleiben und für Menschenrechte, besonders Frauenrechte, Demokratie, gegen Korruption, für Sicherheit und die Entwicklung meines Landes kämpfen. Nach einem Jahr habe ich gemerkt: Jeder Tag kann mein Letzter sein.
Ich habe gesagt, meine Mutter sei sehr krank, liege im Sterben und ich muss sie besuchen, so bin ich weggekommen. Die anderen haben auch verschiedene Gründe genannt, um wegzukommen.
Alina: Dann hast du dich auf den Weg gemacht in die Schweiz? Möchtest du etwas erzählen über den Weg, wie du hierhergekommen bist?
Hamayoun: Ich ging 2017 nach Iran und musste arbeiten, um den Fluchtweg finanzieren zu können. Ein Jahr war ich dort. Dann ging ich in die Türkei. Der Weg vom Iran in die Türkei war sehr schlimm für mich, ich lief durch den Wald drei Tage lang und hatte kein Essen, kein Wasser, keine Körperhygiene. Flüchten heisst, mit seinem Leben zu spielen. Viele sterben. Ich kenne viele, die kein Essen hatten oder Pech hatten. Besonders die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland mit dem Boot.
Ich wollte auch von der Türkei nach Griechenland. Über das Mittelmeer muss man mit dem Schlauchboot gehen. Es gibt Schiffe mit Motoren, aber das kostet zu viel. Ungefähr 10’000 Dollar.
Die Fahrt über das Meer
Die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei war eine schlimme Geschichte für mich. Der Schlepper brachte uns und das Schlauchboot auf einen Hügel. Dann hat er gefragt, wer Motorrad oder Auto fahren kann. Ich habe gesagt, ich kann fahren. Der Schlepper hat gesagt, dass jemand das Schlauchboot fahren muss. Niemand wollte das machen. Dann nahm er eine Pistole, hielt sie mir an den Kopf und sagte mir, dass ich fahren muss. Das war sehr schlimm. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste das akzeptieren. Für sie spielt mein Leben keine Rolle. Ich habe es für die Kinder gemacht, die mit uns gemeinsam unterwegs waren.
Alina: Du hast das Schlauchboot gesteuert über das Mittelmeer?
Hamayoun: Ja genau. Und ich habe kein schlechtes Gewissen, ich habe es gut gemacht. Auf dem Schlauchboot, das für 10 Personen ist, waren wir 40 Personen. Ich habe gut aufgepasst und auch mit den anderen gestritten, damit sie mich beim Fahren nicht stören. Zum Glück ist nichts passiert und wir sind alle gesund in Griechenland angekommen. Dann wurden wir von den Soldaten, die das Meer kontrollieren, erwischt und sie haben uns in ein Flüchtlingslager gebracht.
Wir waren auf der Mytilini Insel im Moria Camp. Das Camp ist für 4’000 Flüchtlinge, aber wir waren dort über 12’000. Es war extrem schlimm, einfach aus Sicht der Menschenrechte. Ein Mensch braucht nicht nur Essen und Trinken. Sondern auch Körperhygiene. Ein Mensch sollte ein besseres Leben für sich gestalten können. Aus verschiedenen Gründe haben die Geflüchteten untereinander auch viel gestritten. Alle verschiedenen Ethnien miteinander.
Einmal gab es Konflikte zwischen Araber und Afghanen. Ich war am Schlafen, dann bin ich wach geworden wegen des Lärms. Es gab viele Zelte, wo Familien geschlafen haben und Araber hatten diese Zelte angezündet und Wertsachen gestohlen. Ich habe Videos davon gemacht, ich kann es beweisen. Ein paar Freunde von mir wurde ganz schlimm geschlagen, ihm wurden die Hand, der Fuß und die Nase gebrochen. In Moria gab es verschiedene Ethnien und sie haben sich ständig bekämpft.
Zum Glück war ich nicht so lange dort. Nach 7 Monaten wurde ich als Geflüchteter anerkannt, habe Papiere bekommen und konnte in eine andere Stadt von Griechenland gehen. Es wurde entschieden, dass ich nach Athen gehen muss. Mit der grossen Fähre bin ich dort hingefahren. 2 Monate bin ich dortgeblieben. Aber nach Moria habe ich mir so gewünscht, dass etwas Schönes kommt und dass ich mich weiterbilden kann und etwas für meine Zukunft lernen kann, damit ich bald arbeiten kann. Aber nein, in diesen 2 Monaten, in denen ich in Athen war, gab es keine Unterstützung im Bereich Schule und Sprache. Ich habe eine Unterkunft in einem Kaneks bekommen, in einem Raum mit zwei Doppelbetten. Aber keine Aussicht auf eine Ausbildung. Das hat mich sehr enttäuscht. Ich habe mit anderen gesprochen und sie haben gesagt, man kann für 10-15 Euro pro Tag etwas arbeiten. Dann habe ich mir Gedanken gemacht darüber: Ohne Sprachkurs irgendwo arbeiten, für so wenig Geld wollte ich nicht. Ich musste dort weg, es gab keine Hoffnung für meine Zukunft.
Unter dem Lastwagen weg von Athen
Wir waren zu neunt, ohne Schlepper, und haben mit Google Maps unseren Weg geplant. Wir waren fast eine Woche unterwegs durch den Wald. Wir haben schlimme Sachen erlebt, wir hatten kein Essen, kein Wasser und keine Körperhygiene. Nach einer Woche hatten wir es geschafft und überschritten die Grenze zwischen Griechenland und Albanien. Es war in der Nacht um 12:00 und mein Freund hat sein Telefon hervorgenommen und eine Zigarette geraucht. Ich sagte ihm, er sollte bitte etwas aufpassen. Aber eine halbe Stunde später wurden wir von der Grenzpolizei gefunden. Sie haben uns in eine Art Gefängnis gebracht und am Morgen sind wir zurück nach Griechenland gebracht worden. Dann habe ich mit einem Schlepper gesprochen und er hat meine Route geplant und gesagt, er bringt mich weg. Wir gingen an einen Ort namens Patras, wo es ein grosses Gebäude gab, wo viele Geflüchtete am Warten waren. Es war in der Nähe einer Fähre. Ich habe versucht, mich unter einem Lastwagen zu verstecken und so wegzukommen. Nach zwei Wochen hatte ich Glück und konnte mit einem Lastwagen auf die Fähre fahren. Es gibt zwei Kontrollposten, die die Lastwagen kontrollieren. Ich habe dem Schlepper gesagt, dass es überall Polizei gibt. Er meinte, dass es egal ist, ich würde ein paar Tritte oder Schläge einstecken, aber ich hatte einen griechischen Ausweis, also würden sie mich einfach wieder freilassen. Zwei Tage hatte ich nicht Glück, am dritten Tag schafften wir es an der Polizei vorbei und ich habe mich unter einem Lastwagen versteckt, der in der Schlange stand. Ich fuhr unten am Lastwagen auf die Fähre, er parkierte und blieb dort während der ganzen Fahrt. Ich war fast 24 Stunden ohne Essen, Trinken und nichts. Die Fähre kam in Italien, in Bari, an und ich habe mich wieder unter dem Lastwagen festgehalten. Zum Glück fuhr der Lastwagen nur 30 Minuten, bis er das nächste Mal anhielt und ich wegkonnte. Nach ein paar Stunden umherlaufen, fand ich den nächsten Bahnhof und stieg in den Zug. Ich wollte von der Grenze wegkommen, damit die Polizei mich nicht findet. Sie hätten mich zurück nach Griechenland geschickt.
Ich war ganz schmutzig vom Lastwagen, zum Glück hatte ich aber zwei Schichten Kleider an und ich wechselte die saubere Schicht nach aussen. Die Leute merken sonst sofort, dass man ein Geflüchteter ist. Ich ging in eine Pizzeria, das war das erste Mal, dass ich eine Pizza gegessen habe in meinem Leben. Ich wollte meine Hände waschen und hatte sehr Hunger.
Dann ging ich mit dem Taxi zum Bahnhof und fuhr direkt nach Perugia. Ich blieb eine Nacht dort und fuhr dann nach Mailand. Und von dort in die Schweiz.
Weiterfahrt in die Schweiz
Ich wurde nie von der italienischen Polizei kontrolliert. In der Schweiz habe ich die Polizei im Zug gesehen und dort haben sie eine Kontrolle gemacht. Sie haben mich gefragt: “Hast du einen Pass?” Ich habe gesagt “nein”. Sie waren sehr höflich, sie sagten mir, ich solle meine Sachen mitnehmen und wir gingen in ein anderes Abteil. Sie haben mich gründlich kontrolliert und gefragt, wo ich hinwill. Ich habe gesagt: in die Schweiz. Dann haben sie nichts gesagt und ich durfte weiterfahren. Das war die Geschichte von den Grenzen.
Dann am 29.4.2018 habe ich mich als Flüchtling beim Asylzentrum Altstadt in St. Gallen angemeldet. Dann war ich einen Monat dort und wurde nach Luzern transferiert. Hier hatte ich die ersten zwei Jahre richtig Pech. Die Reise war sehr schlimm, aber hier wurden alle meine Erwartungen enttäuscht. Ich bekam mein erstes Interview nach 6 Monaten, es dauerte 5-6 Stunden. Dann musste ich auf den Bescheid warten. Ich wartete 2 Jahre und bekam das humanitäre F. Das hat mich ganz fest berührt und enttäuscht: Ich habe für Frauenrechte, für Demokratie, gegen Extremisten und für die Sicherheit in meinem Land mit meinem Leben gekämpft. Werte, die wir von den westlichen Ländern mitbekommen hatten. Ich habe mein Leben riskiert für diese Werte und gegen Extremismus. Diesen Extremisten sind Menschenleben egal, sie sind brutal. Gegen sie habe ich gekämpft. Aber es hat gar keine Rolle gespielt für die Schweiz.
Alina: F-Ausweis heisst ja, dass du abgelehnt wurdest als Flüchtling.
Hamayoun: Genau. Wegen der Situation in Afghanistan damals haben sie mir keinen Flüchtlingsstatus gegeben. Der F-Ausweis hat mich sehr enttäuscht. Ich habe mich in Gefahr gebracht und leider – es ist ein bisschen unhöflich von mir – war es für die Schweiz egal.
Das schlimmste an diesen zwei Jahren warten war, dass ich mir gewünscht habe, schnell die Sprache zu lernen und eine Lehre zu machen, damit ich mich gut integrieren und mein eigenes Leben über Wasser halten kann. Aber die ersten zwei Jahre, habe ich nur einen Basis-Deutschkurs bekommen und konnte sonst nichts machen. Ich habe nichts gemacht, ausser zu warten.
Zwei verlorene Jahre
Die ersten zwei Jahre hier habe ich verloren. Und ich hatte die ganze Zeit Angst, zurückgeschickt zu werden. Ich hatte ja noch keinen Bescheid. Ich durfte keinen weiteren Deutschkurs besuchen und nicht arbeiten. Viele in meinem Umfeld haben psychische Probleme bekommen. Wir haben auf engem Raum gelebt zusammen mit vielen Leuten, es gab viel Streit. Wir bekamen 10 Franken pro Tag, wenn wir eine Arbeit erledigt haben, die vom Kanton organisiert wurde. Zum Beispiel Häuser putzen. Dafür bekamen wir ein Bus-Abonnement. Ich habe mein Geld clever eingeteilt und musste nicht so oft dort arbeiten gehen, nur 2-3 Tage, die anderen Tage habe ich ein Lernatelier besucht. Dort habe ich einen Freund kennengelernt und Deutsch gelernt. So habe ich weitergemacht, bis ich den F-Ausweis bekommen habe.
Chancen und Grenzen des F-Ausweises
Nachher konnte ich zum Glück einen richtigen Deutschkurs besuchen. Ich habe recherchiert, wo der Deutschkurs am intensivsten ist, um mein Niveau zu steigern. Mein Hauptziel war es, eine Lehre zu finden. Deshalb habe ich mich gefreut über den F-Ausweis. Der Ausweis hat aber auch viele Nachteile: Man darf nicht aus der Schweiz in die Nachbarländer fahren, man darf kein Handy mit einer Sim-Karte bei Swisscom oder Sunrise kaufen. Von diesen Geschäften habe ich kein Abo bekommen, auch andere Sachen, die man nur mit einem Abo kaufen kann, habe ich nicht bekommen.
Ich habe Deutsch gelernt bis zum Niveau B2 und ging dann ins Brückenangebot, eine weitere Schule. Dann habe ich eine Lehre als Medientechnologe bei Multireflex gefunden. Seit August 2022 mache ich diese Lehre und besuche die Berufsschule in Zürich. Das ist alles.
Mehr Unterstützung für eine bessere Integration
Alina: Was wünschst du dir für deine Zukunft von der Schweiz?
Hamayoun: Wow. Das ist in meinen Händen. Jetzt kann ich nichts wünschen, ich muss mir Mühe geben, viel machen und viel lernen.
Aber ich möchte noch etwas sagen: Zwischen der Schweizer und der afghanischen Gesellschaft gibt es grosse Unterschiede. In Afghanistan gibt es sehr viele Analphabeten, über 70%. Wenn sie nicht in ihrer eigenen Sprache etwas schreiben können, stell dir vor, wie schwierig es ist, eine Fremdsprache zu lernen. Wenn man die Sprache nicht kann, wie kann man dann eine Arbeit finden? Wie kann man sich integrieren? Wie kann man einen Freund finden? Wie kann man dann die Gesetze einhalten? Die meisten haben sich hier verloren. Sie brauchen unbedingt, unbedingt Unterstützung. Die Jungen bis 18 werden vom Asylheim gut unterstützt, sie haben Personen, die für sie zuständig sind. Wenn sie wollen, können sie sich gute Chancen für ihre Zukunft erarbeiten. Aber es gibt auch erwachsene Geflüchtete. Sie werden nicht unterstützt, niemand zeigt ihnen den Weg. Ich habe es geschafft, weil ich oft initiativ und mutig war. Aber die Geflüchteten brauchen unbedingt mehr Unterstützung im Bereich Integration.