Die Unfassbarkeit des Geldes

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    John Maynard Keynes soll einmal gesagt haben, dass nur drei Personen auf der Welt Geld verstehen: Ein ihm bekannter Professor, einer seiner Schüler und ein Angestellter bei der Bank of England. Er selbst hätte sich wohl noch hinzufügen können. Gleichwohl liegt die Frage nahe: Warum ist Geld auch tausende Jahre nach seiner Entstehung so schwer zu verstehen?

    Die kurze Antwort ist: Geld ist schwer fassbar, weil nicht unmittelbar ist, was es im Kern ist. Ein Verständnis, was Geld im Kern ist, verlangt ein Verständnis davon, wie Geld entsteht und warum es einen Wert besitzt. Offensichtlich ist für die Menschen aber nur die Funktion des Geldes: also was es tut, statt was es ist. Die geistige Abkopplung zwischen Funktion und Wesen des Geldes lässt Geld als etwas Mysteriöses erscheinen. Es ist da, aber man weiss nicht genau wie. Diese Abkopplung ist nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung feststellbar, sondern auch in jenen Sozialwissenschaften, deren Untersuchungsgegenstand Geld ist. So halten sich Sozialwissenschaftler und insbesondere Ökonomen meist an eine funktionale Definition von Geld. Geldtheorien, die sich mit der Frage beschäftigten, was Geld ist, finden heute grösstenteils keine Beachtung, es sei denn sie kommen im Gewand einer Systemkritik daher (wie beispielsweise die Modern Monetary Theory).

    Dies hat auch damit zu tun, dass seit dem letzten Jahrhundert eine Vereinheitlichung der Geldform hin zu einem virtuellen Zahlungsmittel stattgefunden hat und dabei der Zusammenhang zwischen Geld und Metall gekappt wurde. Die konfuse Gleichzeitigkeit eines abstrakten und dinglichen Geldes hat sich aufgelöst und Geld ein Stück Komplexität genommen. Die heutzutage offensichtliche Immaterialität des Geldes läuft aber auch Gefahr, Objekt populärwissenschaftlicher Banalisierungen zu werden. Geld sei eine Idee, ein Glaube, eine kollektive Illusion. Solche «kulturtheoretischen» Ansätze enthalten meist einen wahren Kern, tragen aber meist wenig zur Aufklärung des Untersuchungsgegenstands Geld bei. Ich schlage vor, dass das Mysterium Geld auf zwei konzeptuelle Spannungen heruntergebrochen wird: die Spannung zwischen Wesen und Funktion einerseits und die Spannung zwischen Wesen und Form andererseits. Die Grundprämisselautet: das Wesen des Geldes ist weder abhängig von seiner Funktion noch von seiner Form.

    Funktionen machen kein Geld

    Die kontemporäre Fixierung auf die Funktion(en) des Geldes hat dazu geführt, dass Geld oberflächlich verstanden wird und sein Wesen verhüllt bleibt. Die Frage, wie Geld entsteht, ist in den Hintergrund gerückt. Geld wird darüber definiert, was es tut und nicht darüber, was es eigentlich ist. So wird in ökonomischen Einführungstextbüchern Geld immer noch über die drei Funktionen (1) Tauschmittel, (2) Wertmass und (3) Wertbewahrungsmittel definiert. Eine Definition über die Funktion eines Dinges ist jedoch ungewöhnlich. Die meisten Substanzen lassen sich mit einem Genus definieren und systematisieren. Ein Tiger kann als Hirschjäger definiert werden, es wäre aber ungewöhnlich. Das Definiens des Tigers ist ein Tier, oder genauer, eine Grosskatze. Dasselbe Prinzip gilt für Dinge, die sich im Verhältnis zum Menschen über ihre Funktion auszeichnen. Ein Hammer ist ein Ding, um Nägel einzuschlagen, aber zuallererst gehört der Hammer zum Genus Werkzeug. Das Tauschmittel ist hingegen nicht ein klares Definiens von Geld. Es gibt keine Tauschmittel, die vom Konzept Geld klar abgegrenzt sind. Die Tauschmittel, die historisch als Vorläufer von menschengeschaffenem Geld gelten (Münzen), können nicht klar vom Konzept Geld getrennt werden. So wurden beispielsweise Tauschmittel, wie Muscheln, von Adam Smith als Vorläufer von metallischem Geld verstanden. Solche Tauschmittel werden gemeinhin als Teil der Geldgeschichte verstanden. Die Definition von Geld über das Tauschmittel ist also tautologisch. Geld ist ein Tauschmittel. Was ist ein Tauschmittel? Geld! Geld passt in keine schlüssige Systematik. Dieses Problem trifft auch auf die zweite Geldfunktion zu, das Wertmass. Güter und Dienstleistungen werden stets mit dem einen Wertmass bepreist: Geld. Nur die Werterhaltungsfunktion lässt eine hierarchische Systematisierung zu. So gibt es neben Geld weitere Wertbewahrungsmittel wie zum Beispiel finanzielle Anlagen, Schmuck oder Immobilien. Nur, es ist die unsteteste Funktion des Geldes. Sie verliert in inflationären Episoden ihre Bedeutung. Die Wertbewahrung ist keine notwendige Voraussetzung für Geld. Die ersten zwei Geldfunktionen gelten daher als die zentralen Geldfunktionen. Gewisse Geldökonomen gehen sogar noch einen Schritt weiter und betonen, dass sich alle Funktionen von der Hauptfunktion von Geld als Tauschmittel ableiten lassen können [1]. Was ist davon zu halten? Zweifelsohne hat eine solche abgespeckte Definition von Geld den Vorteil, dass sie universal gültig ist. Gleichzeitig sagt sie wenig über das Definiendum aus. Aus der Definition kann nichts über das Wesen des Geldes abgeleitet werden. Als Folge bleibt Geld verschleiert. Die Identifizierung von Geld über seine Funktionen ist ein Irrweg.

    Die Irrelevanz der Geldformen

    Die Identifikation von Geld über seine Funktion als Tauschmittel führt auch dazu, dass die Geldform in den Vordergrund rückt. Die Geschichte des Geldes wird gern als Prozession von Tauschhandel durch Waren hin zu Metallen, Papier und schliesslich elektronischen Zahlungsmitteln erzählt. Es ist eine Geschichte des technologischen Fortschritts. Die Erscheinungsform des Geldes sagt aber nichts über das Wesen des Geldes aus. Dieselben zwanzig Franken können als Münzen, als Banknoten oder elektronisch repräsentiert werden. Nicht alle Formen aber waren in der Geldgeschichte gleichbedeutend. Dem Metallgeld kam schon immer überragende Bedeutung zu. Die Idee, dass Geld einen Metallwert repräsentiert, ist als Warentheorie des Geldes bekannt und war bis ins frühe 20 Jahrhundert die dominante Geldtheorie. Als erster Verfechter der Warentheorie gilt Aristoteles, aber auch gemäss klassischen Ökonomen wie Adam Smith oder sogar Karl Marx waren Metalle und Geld untrennbar verbunden. Demgegenüber steht die Kredittheorie des Geldes, gemäss welcher Geld ein Schuldverhältnis ausdrückt. Diese Theorie gewann mit dem Bedeutungsverlust der Metalle an Einfluss, weil sie das derzeitige Geldsystem deutlich besser beschreibt als die Warentheorie. Beide Theorien haben aber den Anspruch, Geld im Kern zu erklären. Das Wesen des Geldes ist eine Ware, respektive ein Schuldverhältnis. Die Geldfunktionen sind dabei sekundär. Aufgrund der Vereinheitlichung der Geldform stehen heute Geldtheorien nicht mehr im Zentrum der akademischen Diskussion. Trotzdem sind Geldtheorien notwendig, um die Kontinuität oder Diskontinuität von Geld zu verstehen. War Geld immer schon ein Schuldverhältnis, das unterschiedliche Formen annimmt oder hat sich das Wesen des Geldes im Laufe der Menschheitsgeschichte verändert? Vertreter der Kredittheorie wie Alfred Mitchell Innes waren der Ansicht, dass alle warenförmigen Expressionen von Geld nie mehr als Wertmarken waren. Ein solche Verabsolutierung führt allerdings zu historischen Inkonsistenzen. So war der Handel zwischen europäischen. 

    Mächten sowie Europa und dem Nahen Osten fast ausschliesslich auf Gold und Silber basiert. Münzen der grösseren Denominationen wurden seit dem römischen Reich bis in die Neuzeit gemäss ihrem Metallgehalt bewertet. Geld mag seinen Ursprung in Schuldverhältnissen, und nicht im Tauschhandel haben, wie es in ökonomischen Textbüchern dargestellt wird [2], doch wäre eine Verabsolutierung des Schuldverhältnisses als Geldbasis angesichts der Beweislage vermessen. Schuldverhältnisse können nur als Geld dienen, wenn der Geldempfänger Grund zur Annahme hat, dass die Schuld beglichen wird. In einer modernen Gesellschaft wie der Schweiz beispielsweise haben die Schuldscheine des Staates einen hohen Glaubwürdigkeitsgrad und werden deshalb bereitwillig akzeptiert. Es gibt einen Zusammenhangsowohl historisch wie auch geographisch zwischen autarken, eng vernetzten Gemeinschaften und modernen Gesellschaften, in denen ein Großteil der wirtschaftlichen Transaktionen durch die Abrechnung von Schulden erfolgte. Man denke beispielsweise an die sumerischen Lehmtafeln oder die Kerbhölzer im frühen Mittelalter. Beides sind primitive Vorgänger des Bankwesens. Die Prinzipien solcher Transaktionen waren dieselben wie heute. Sie basierten auf abstrakten Währungen, deren Wert trotz eines metallischen oder anderen warenorientierten Standards von deren intrinsischen Wert losgelöst waren. Abwicklungen von Guthaben und Schulden waren und sind allerdings nicht universal möglich. Sie bedingen einen gewissen Grad an sozialer Integration und vertrauenswürdigen Institutionen. Abrechnungen von Kredits und Debits sind nicht möglich mit Personen und Institutionen, die ausserhalb eines politisch oder sozial definierten Beziehungsnetzes stehen. Ausserhalb dieses Netzes musste der Handel anderweitig vollzogen werden. Für Transaktionen mit Outsidern kamen somit immer Waren, zumeist Metalle, zum Zug.

    Endogenes und Exogenes Geld

    In Zeiten der sozialen oder politischen Desintegration gewinnt «hartes» Geld an Bedeutung. Dieses Geld muss aber nicht buchstäblich «hart» sein. Heute ist «hartes» Geld meist eine ausländische Währung. Grundsätzlich gilt aber: Je weiter eine Gesellschaft entwickelt ist, desto dominanter wird schuldbasiertes, oder endogenes, Geld. Endogenes Geld wird gemäss den Geldbedürfnissen der wirtschaftlichen Subjekte kreiert. Der Wert dieses Geldes ist geknüpft an Erwartungen an die Zukunft – sprich an die Rückzahlung. Exogenes Geld hingegen kommt von «aussen» und basiert auf bestehenden Werten. Die Form des Geldes ist in beiden Fällen sekundär. Endogenes, schuldbasiertes Geld kann die Form einer Münze, einer Note oder auch einer anderen Ware annehmen, ohne selbst eine Ware zu sein. Umgekehrt kann exogenes Geld eine rein elektronische Form annehmen. US-Dollars sind Schuldscheine des US-amerikanischen Staates, doch ausserhalb der USA werden sie zu einem bestehenden Tauschwert wie andere Vermögenswerte auch. Die Integration der Weltwirtschaft, die parallele Entwicklung der Devisenmärkte und die Abschaffung des Goldstandards haben Waren als Geldformen überflüssig gemacht, doch der Charakter des exogenen wie auch des endogenen Geldes hat sich nicht verändert. Es spielt konzeptuell keine Rolle, ob sich ein Schweizer Importeur für den Kauf von Waren Devisen oder Gold besorgen muss, wie es auch keinen Unterschied macht, ob 20 Franken als Note oder als Eintrag in der Buchhaltung der Nationalbank erscheint.

    In der Geschichte der Menschheit haben endogenes und exogenes Geld immer schon koexistiert. Simplifiziert liesse sich resümieren, dass wirtschaftlicher Austausch mit seinesgleichen endogenes und der Tausch mit Fremden exogenes Geld benötigt. Der Charakter der Transaktion ist beim endogenen Geld die Verrechnung von Schulden und Guthaben. Im Falle des exogenen Geldes ist es der Tausch. Aufgrund seines abstrakten Charakters hat endogenes Geld nie eine Verdinglichung benötigt, exogenes Geld hingegen schon. Der technologische Fortschritt hat nun auch die Verdinglichung des exogenen Geldes überflüssig gemacht. Moderner Technologie und internationalen Finanzmärkten gebührt der Dank. Die Frage «Was ist Geld?» bedarf nach wie vor einer qualifizierten Antwort. Konzeptuell wäre Geld gewiss einfacher zu erfassen, wenn exogenes Geld nicht als Geld definiert würde. In diesem Fall könnte Geld einfach als Schuldverhältnis, oder noch breiter, als «soziale Beziehung» definiert werden, so wie es der Geldsoziologe Geoffrey Ingham vorschlägt. Eine solche Definition würde aber dem Umstand nicht gerecht, dass ein Phänomen so definiert werden sollte, wie es gemeinhin durch Menschen benannt wird. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass Sozialwissenschaftler Geld zunächst einmal mit dem Tauschmittel identifizierten – einfach aus dem Grund, dass Menschen es so benennen. Der Preis für die Bezeichnung «Geld» für das jeweils verwendete Tauschmittel ist seine konzeptuelle Ungreifbarkeit. Die tautologische Identifikation des Geldes mit dem Tauschmittel führt zur Verschleierung des zugrundeliegenden Wesens des Geldes aufgrund eines falschen Fokus auf Funktion und Form. Geld sollte aber weder versachlicht noch rein funktionalistisch verstanden werden. Letztlich ist Geld immer eine Form des sozialen Austausches. Eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand Geld sollte mit dieser Einsicht beginnen.